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OGH vom 15.12.2015, 10ObS88/15m

OGH vom 15.12.2015, 10ObS88/15m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Mag. Korn (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist Straße 1, 1021 Wien, wegen Invaliditätspension, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 30/15w 28, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs der klagenden Partei wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Im Verfahren 6 Cgs 108/13k des Arbeits und Sozialgerichts Wien begehrte der Kläger von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension. Das Verfahren endete nach Einholung medizinischer Sachverständigengutachten aus verschiedenen Fachgebieten und eines zusammenfassenden medizinischen Sachverständigengutachtens durch schriftliche Klagsrückziehung, die am bei Gericht einlangte.

Am stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension, der mit Bescheid der beklagten Partei vom unter Hinweis auf § 362 Abs 3 ASVG zurückgewiesen wurde.

In seiner dagegen gerichteten Klage macht der Kläger geltend, dass er aufgrund einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands nicht mehr arbeitsfähig sei.

Die beklagte Partei bestritt dieses Vorbringen und beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht wies nach Einholung eines Aktengutachtens und Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Klage zurück, da sich aus den vom Kläger vorgelegten medizinischen Befunden keine Änderung seines Gesundheitszustands gegenüber dem Zeitpunkt der Klagsrückziehung im Vorverfahren ergebe.

Das Rekursgericht gab dem dagegen gerichteten Rekurs des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen vom Kläger erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Hat ein ordentliches Gericht gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken, so hat es gemäß Art 89 Abs 2 B VG idF BGBl I 2013/114 den Antrag auf Aufhebung dieser Rechtsvorschrift beim Verfassungsgerichtshof zu stellen. Nach ständiger Rechtsprechung können die Parteien beim ordentlichen Gericht eine Antragstellung nach Art 89 Abs 2 B VG nur anregen, sie haben jedoch nicht das Recht, einen formellen Antrag zu stellen (RIS Justiz RS0058452, RS0056514). Unterlässt ein Gericht die Anfechtung einer Norm beim Verfassungsgerichtshof, kann die Partei dagegen kein Rechtsmittel ergreifen (RIS Justiz RS0056514 [T10, T 12]).

Nach der mit in Kraft getretenen Regelung des Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B VG idF BGBl I 2013/114 erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch „auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels“. Auf die Frage, ob dem Kläger daher im vorliegenden Fall nicht ohnehin die Möglichkeit offen gestanden wäre, gleichzeitig mit seinem nach dem erhobenen Rekurs einen entsprechenden Antrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B VG beim Verfassungsgerichtshof zu stellen, ist jedoch nicht weiter einzugehen, da der Kläger einen solchen Antrag unbestritten nicht gestellt hat.

2. Art 6 EMRK und der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbieten es, einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gebot der öffentlichen mündlichen Verhandlung gilt im Rechtsmittelverfahren nicht in voller Stärke ( G. Kodek , Änderungen im Rechtsmittelverfahren durch die ZVN 2009 und das Budgetbegleitgesetz 2009 ein Überblick, Zak 2009/380, 249). Art 6 EMRK fordert nicht, dass in jeder Instanz ein öffentliches Verfahren stattfindet, selbst wenn in der Rechtsmittelinstanz die Feststellung des Sachverhalts überprüft wird (2 Ob 142/10m mwN). Der Kläger verweist selbst darauf, dass vom Erstgericht die Ergebnisse des Bescheinigungsverfahrens in einer mündlichen Verhandlung erörtert wurden. Dass im Rekursverfahren keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, verstößt daher nicht gegen die Grundsätze des Art 6 EMRK.

3. Die Bestimmung des § 362 ASVG idF BGBl I 2015/2 sieht in den Fällen, in denen unter anderem eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf Zuerkennung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ergangen ist bzw ein solches Verfahren durch Klagsrückziehung endete, vor, dass während einer Frist von 18 bzw 12 Monaten ein neuerlicher Antrag zurückzuweisen ist, wenn keine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Minderung der Arbeitsfähigkeit glaubhaft bescheinigt wird.

Mit der Einführung einer Sperrfrist nach Zurückziehung einer Klage auf Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit in § 362 Abs 3 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) wurde eine Regelungslücke geschlossen. Hier wird zwar ebenfalls eine vorangegangene Entscheidung des Sozialversicherungsträgers also eine inhaltliche Prüfung vorausgesetzt, die aber durch Erhebung der sukzessiven Klage außer Kraft getreten ist. In einer solchen Situation liegt bei Zurückziehung einer Klage der Bescheid nicht wieder auflebt (§ 72 Z 1 ASGG) keine rechtskräftige Entscheidung vor, die eine Sperrfrist nach § 362 Abs 1 und 2 ASVG auslösen kann. Der Versicherte hätte dann stets ohne Beschränkung die Möglichkeit, neuerliche Anträge zu stellen, sobald er durch Erhebung der Klage den negativen Bescheid beseitigt hat. Durch die Regelung des § 362 Abs 3 ASVG soll verhindert werden, dass kurzfristig ohne Verschlimmerung aus bestimmten Motiven (Pensionsvorschuss) derartige neuerliche Anträge auf dieselbe Leistung beim Sozialversicherungsträger gestellt werden. Innerhalb von 12 Monaten nach Zurückziehung einer Klage neuerlich eingebrachte Anträge auf Zuerkennung einer Pension nach Abs 2 sind demnach wenn nicht eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Minderung der Arbeitsfähigkeit bescheinigt wird zurückzuweisen (vgl Kneihs in SV Komm § 362 ASVG Rz 23; Teschner / Widlar/Pöltner , MGA ASVG 122. Erg Lfg Anm 2 zu § 362).

Mit der Regelung des § 362 ASVG wird somit entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs nicht allgemein eine meritorische Entscheidung verweigert, sondern lediglich aufgrund eines bereits (rechtskräftig) abgeschlossenen Verfahrens ohne wesentliche Änderung der Verhältnisse eine neuerliche Prüfung eines solchen Anspruchs für eine bestimmte Zeit ausgeschlossen. Auch darin ist kein Verstoß gegen Art 6 EMRK bzw keine Verfassungswidrigkeit zu erkennen (vgl Fink , Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 321).

4. Auch der Umstand, dass im Anwendungsbereich des § 362 Abs 3 ASVG aufgrund der Klagsrückziehung die Bescheinigung der wesentlichen Änderung gegenüber dem Vorverfahren nicht durch einen Vergleich mit Feststellungen einer Vorentscheidung sondern mit dem sich aus den Verfahrensergebnissen ergebenden Gesundheitszustand des Klägers zu erfolgen hat, ist nicht geeignet, verfassungsrechtliche Bedenken zu erwecken.

5.1. Hat der Versicherungsträger in den Fällen des § 362 ASVG den Antrag zurückgewiesen, so obliegt es nach § 68 ASGG dem Versicherten, dem Gericht eine wesentliche Änderung des zuletzt festgestellten Gesundheitszustands glaubhaft zu machen. Es muss sich das festgestellte Leiden entweder verschlechtert haben oder ein neues Leiden hinzugetreten sein. Wenn auch keine allzu hohen Anforderungen an die Bescheinigung einer Verschlechterung des Leidens oder des Hinzutretens eines neuen Leidens gestellt werden sollen, so müssen die Bescheinigungsmittel doch geeignet sein, dem Richter die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit einer Tatsache zu verschaffen (RIS Justiz RS0085657). Gelingt dem Kläger die Glaubhaftmachung nicht, ist die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (10 ObS 14/10x, SSV NF 24/13). Es fehlt dann an der Voraussetzung eines über den Leistungsantrag des Versicherten materiell absprechenden Bescheids des Versicherungsträgers und an der weiteren Voraussetzung der Glaubhaftmachung einer wesentlichen Änderung der Anspruchsvoraussetzungen (RIS Justiz RS0085668).

5.2. Im vorliegenden Fall hat der Kläger diverse Befunde vorgelegt. Darüber hinaus hat das Erstgericht ein Aktengutachten zum Gesundheitszustand des Klägers eingeholt und nach Vorliegen des Gutachtens dem Kläger in einer mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen. Auf Grundlage der Ergebnisse dieses Bescheinigungsverfahrens ist das Erstgericht davon ausgegangen, eine Verschlechterung des Gesundheitszustands sei nicht glaubhaft gemacht worden. Ob die Glaubhaftmachung gelungen ist oder nicht, stellt immer das Ergebnis der vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbaren Beweiswürdigung dar (10 ObS 62/12h).

6. Mangels Vorliegens einer relevanten Rechtsfrage im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO ist der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00088.15M.1215.000