OGH vom 04.10.2011, 10ObS88/11f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Mag. Michaela Puhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A***** S*****, vertreten durch Dr. Klaus Führinger und Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 68/11y 34, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens ist nicht zu erkennen. Entgegen den Revisionsausführungen ist das Berufungsgericht wenn auch im Rahmen der Behandlung der Beweisrüge ohnehin auch auf die geltend gemachte Aktenwidrigkeit eingegangen (Seite 4 f der Berufungsentscheidung).
2. Der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit nach § 503 Z 3 ZPO läge nur vor, wenn ein Widerspruch zwischen aktenkundigen wesentlichen Tatsachen und deren Wiedergabe im Berufungsurteil bestünde. Werden hingegen an bestimmte, in den Prozessakten enthaltene Tatsachen Schlussfolgerungen angeknüpft und daher in Wahrheit Beweisergebnisse gewertet, so liegt keine Aktenwidrigkeit, sondern ein nicht revisibler Akt der Beweiswürdigung vor ( Zechner in Fasching/Konecny ² IV/1 § 503 Rz 159 und 172 mwN; 10 ObS 137/07f).
2.1. Im vorliegenden Fall hält die Revision selbst fest, dass sich zu den in Rede stehenden Ausführungen des Berufungsgerichts (der Kläger habe bei der Erstbehandlung der Schulterverletzung gar nicht den jetzt behaupteten Sturz, sondern das Auskegeln der Schulter beim Ausziehen als Ursache für die Beschwerden angegeben) „ein Eintrag jenes Inhalts in der Krankengeschichte findet“ (Seite 5 der außerordentlichen Revision). Auch die Aktenwidrigkeit liegt daher nicht vor.
3. In der Rechtsrüge beruft sich der Kläger auf das Fehlen spezieller ständiger „Sozialrechtsjudikatur“ zur Frage, inwieweit aufgrund der besonderen Stellung der Sozialversicherungsträger, deren (mit Klage bekämpfte) Bescheide auch als „Willenserklärungen“ anzusehen sind. Er verweist auf § 71 Abs 2 ASGG, wonach das Vorliegen eines Arbeits (Dienst )unfalls oder einer Berufskrankheit als unwiderruflich anerkannt anzusehen sind, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.
3.1. Dabei wird übersehen, dass sich der Senat erst jüngst zu 10 ObS 10/11k eingehend mit diesen Fragen befasst und dazu Folgendes ausgeführt hat:
4. Gemäß § 367 Abs 1 zweiter Satz ASVG ist vom Versicherungsträger auch über den Antrag auf Zuerkennung oder über die amtswegige Feststellung unter anderem einer Versehrtenrente aus der Unfallversicherung sowie über die Feststellung, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls bzw einer Berufskrankheit ist, jedenfalls ein Bescheid in Leistungssachen zu erlassen, auch wenn nach Eintritt einer Gesundheitsstörung eine Leistung aus der Unfallversicherung nicht anfällt. Dieser für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Leistungssachen geltenden Bestimmung entsprechen für das gerichtliche Verfahren in Sozialrechtssachen die §§ 65 Abs 2 und 82 Abs 5 ASGG. Nach § 65 Abs 2 ASGG sind Sozialrechtssachen auch Klagen auf Feststellung. Als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts gilt auch diejenige, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist (§ 367 Abs 1 ASVG). Nach § 82 Abs 5 ASGG schließt ein auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gestütztes Leistungsbegehren das Eventualbegehren auf Feststellung ein, dass die geltend gemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, sofern darüber nicht schon abgesprochen worden ist.
4.1. Durch diese Regelungen soll aus Gründen der Prozessökonomie sichergestellt werden, dass der aufgrund eines Leistungsbegehrens vorgenommene Verfahrensaufwand zumindest in einer solchen Feststellung, dass die geltend gemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, Niederschlag findet. Mit Rechtskraft der Feststellung ist der Kausalzusammenhang für ein späteres Verfahren (auf Zuerkennung von Leistungen aus der Unfallversicherung) bindend festgestellt ( Neumayr in ZellKomm § 65 Rz 28 f sowie § 82 Rz 11 jeweils mwN).
4.2. Die (rechtzeitige und zulässige) Erhebung einer Klage setzt den bekämpften Bescheid des Sozialversicherungsträgers gemäß § 71 Abs 1 ASGG „im Umfang des Klagebegehrens“ außer Kraft. Dieses Außerkrafttreten wird von der herrschenden Rechtsprechung weit ausgelegt, um zu gewährleisten, dass sich die Entscheidungsbefugnis des Gerichts möglichst auf die gesamte Rechtssache erstreckt. Nur dann, wenn sich ein bestimmter Teil des Bescheids inhaltlich vom anderen Teil trennen lässt, weil die darin behandelten Fragen auf einem anderen Rechtsgrund beruhen oder jedenfalls in keinem engen Zusammenhang stehen, und unangefochten bleibt, kann dieser Teil für sich allein rechtskräftig werden ( Neumayr aaO § 71 ASGG Rz 2 mwN).
4.3. Gemäß § 71 Abs 2 erster Satz ASGG ist nach der Einbringung der Klage die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, „als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen“. Als unwiderruflich anerkannt sind nach § 72 Abs 2 zweiter Satz ASGG auch das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass nur in den Spruch des Bescheids aufgenommene Feststellungen nach dessen Außerkraftsetzung als fingierte Anerkenntnisse „weiterbestehen“ können. Eine bloß in den Bescheidgründen enthaltene Beurteilung über das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals kann hingegen auch nach dem Außerkrafttreten des Bescheids nicht als „unwiderruflich anerkannt“ angesehen werden (vgl Fink , Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen, 507).
5. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte lediglich in der Begründung des angefochtenen Bescheids (mit dem der Antrag des Klägers auf neuerliche Zuerkennung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom mangels wesentlicher Änderung der Unfallfolgen abgelehnt wurde) ausgeführt, der Sturz vom sei laut fachärztlicher Feststellung (zwar) als mittelbare Folge des Unfalls vom zu werten; die derzeit geklagten Beschwerden der rechten Schulter seien jedoch nicht Folge der am erlittenen Schulterverrenkung rechts, sondern auf bereits vorbestehende anlagebedingte Veränderungen der rechten Schulter zurückzuführen.
5.1. Da nach den dargelegten Grundsätzen nur in den Spruch des Bescheids aufgenommene Feststellungen nach dessen Außerkraftsetzung als fingierte Anerkenntnisse „weiterbestehen“ können, liegt es somit im Rahmen der Rechtsprechung, dass das Berufungsgericht die bloß in den Bescheidgründen enthaltene Beurteilung über das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals (der Qualifikation des Sturzes vom als mittelbare Folge des Arbeitsunfalls) nach dem Außerkrafttreten des Bescheids nicht als „unwiderruflich anerkannt“ angesehen hat.
5.2. Demgemäß stellen sich die weiteren in der Rechtsrüge aufgeworfenen Fragen nicht, weil nach den im Berufungsverfahren erfolglos bekämpften, mit der Revision nicht mehr angreifbaren (Negativ-)Feststellungen der Tatsacheninstanzen eben nicht davon ausgegangen werden kann, dass das „Auslassen“ des durch einen Arbeitsunfall vorgeschädigten Knies im Sinn der natürlichen Kausalität ursächlich für den (noch) klagsgegenständlichen Sturz am war.
Mangels erheblicher, für die Entscheidung des Verfahrens relevanter Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision daher zurückzuweisen.