VfGH vom 24.06.2010, b88/09

VfGH vom 24.06.2010, b88/09

Sammlungsnummer

19117

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen Unterstellung einer Verschleppungsabsicht hinsichtlich eines Kollegen

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Steiermärkische Rechtsanwaltskammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Graz. Mit

Erkenntnis des Disziplinarrates der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer vom wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen zu haben, weil er als rechtsfreundlicher Vertreter der in einer Rechtssache des Landesgerichtes Leoben beklagten und widerklagenden Partei in seiner schriftlichen Äußerung vom auf die Vertagungsbitte des rechtsfreundlichen Vertreters der klagenden und widerbeklagten Partei vom Folgendes ausgeführt hatte:

"In dem Antrag wird nicht einmal behauptet, dass der Klagevertreter [...] den Auslandsaufenthalt bereits gebucht hätte, in logischer Folge wird dies auch nicht bescheinigt.

Auf Grund der bisherigen Vorgangsweise der klagenden und widerbeklagten Partei ist davon auszugehen, dass es sich bei dem gegenständlichen Verlegungsantrag wiederum um einen Antrag in Verschleppungsabsicht handelt, da die klagende und widerbeklagte Partei versucht, den Schluss des Verfahrens über die Widerklage, welches bereits entscheidungsreif ist, zu verschleppen. ..."

Er habe hiedurch entgegen der Vorschrift des § 18 der Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, für die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes und für die Ausbildung der Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: RL-BA) in Verbindung mit § 1 Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: DSt) einen Kollegen unnötig in den Streit gezogen und persönlich angegriffen. Über ihn wurden deshalb die Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises und die Verpflichtung zum Ersatz der Verfahrenskosten verhängt.

2. Der dagegen erhobenen Berufung des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission (im Folgenden: OBDK) vom keine Folge gegeben. Begründend wird ausgeführt, dass der Beschwerdeführer am einen Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Streitverhandlung gestellt habe. Der zuständige Verhandlungsrichter habe für den die nächste Streitverhandlung anberaumt. Daraufhin habe der Gegenvertreter am folgende Vertagungsbitte eingebracht:

"In der außen bezeichneten Rechtssache ersuchen wir, klagende und widerbeklagte Partei, höflichst, den für anberaumten Verhandlungstermin auf einen Zeitpunkt nach dem zu verlegen.

Wir führen als Begründung an, dass sich unser rechtsfreundlicher Vertreter [...] in der Zeit vom bis auf einem bereits vor längerer Zeit geplanten Auslandsaufenthalt befindet.

Eine Substituierung der Angelegenheit ist im Hinblick auf die Komplexität der Angelegenheit auch kanzleiintern nicht möglich."

In der schriftlichen Äußerung vom bringt der Beschwerdeführer vor, dass der Klagevertreter in seiner Vertagungsbitte nicht einmal behaupte, dass der Auslandsaufenthalt bereits gebucht sei, und dies auch nicht bescheinige, weshalb es sich bei der Vertagungsbitte um einen Antrag in Verschleppungsabsicht handle. Damit unterstelle der Beschwerdeführer dem Gegenvertreter, er würde sich zur angegebenen Zeit nicht im Ausland befinden. Dies sei eine Überschreitung der Grenzen des zulässigen Vorbringens im Sinne des § 9 Rechtsanwaltsordnung (im Folgenden: RAO).

3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Meinungsäußerung sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird. Begründend wird ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seiner Äußerung vom lediglich darauf hingewiesen habe, dass die Vertagungsbitte des Gegenvertreters nicht die Voraussetzungen des § 134 Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO) erfülle, da ein bloß geplanter und nicht gebuchter Auslandsaufenthalt kein unübersteigliches oder doch sehr erhebliches Hindernis im Sinne des § 134 ZPO darstelle. Ein solches Vorbringen sei jedenfalls durch § 9 RAO gedeckt.

4. Die OBDK legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Bedenken gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof auch aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens nicht entstanden.

Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

2. Nach Art 10 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen erfasst. Art 10 Abs 2 EMRK sieht allerdings im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse u.a. der Aufrechterhaltung der Ordnung, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind.

Ein Bescheid, der in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung eingreift, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz denkunmöglich angewendet wurde. Eine denkunmögliche Anwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art 10 EMRK missachtenden - Inhalt unterstellt (VfSlg. 10.700/1985, 12.086/1989, 13.922/1992, 13.612/1993, 16.558/2002, ).

Gemäß § 9 Abs 1 RAO ist ein Rechtsanwalt befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen, ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten.

Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung fordert besondere Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung als strafbares Disziplinarvergehen (VfSlg. 13.122/1992, 14.006/1995, 18.134/2007). Wenn die belangte Behörde in der Äußerung des Beschwerdeführers ein Disziplinarvergehen erblickt, unterstellt sie § 18 RL-BA in Verbindung mit § 1 DSt einen verfassungswidrigen Inhalt. Vor dem Hintergrund der Schranken des Art 10 EMRK hätte die belangte Behörde die Äußerung des Beschwerdeführers dahin verstehen müssen, dass sie - wenn auch mit einem möglichen Wortüberschwang (vgl. VfSlg. 13.122/1992, 16.267/2001, 18.134/2007) - nur den Unmut des Beschwerdeführers über die lange Verfahrensdauer und die - im Übrigen auch von der OBDK angenommenen, jedoch nicht näher dargelegten - Verfahrensverzögerungen durch das Gericht und die Gegenpartei zum Ausdruck gebracht hat. Der Verfassungsgerichtshof ist - unter den gegebenen Umständen - der Meinung, dass eine demokratische Gesellschaft die in Rede stehende Aussage hinnehmen kann, ohne dass ihre öffentliche Ordnung, der Schutz des guten Rufes oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung Schaden erleiden. Eine verfassungskonforme Auslegung der angewendeten Rechtsvorschrift muss daher zu dem Ergebnis führen, dass das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und ein die Ehre und das Ansehen des Standes beeinträchtigendes Verhalten nicht vorliegen.

Der Beschwerdeführer wurde daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. In dem zugesprochenen Betrag ist USt. in Höhe von € 400,- und eine Eingabengebühr in Höhe von € 220,- enthalten.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.