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VfGH vom 27.02.1987, b87/85

VfGH vom 27.02.1987, b87/85

Sammlungsnummer

11230

Leitsatz

Gewaltanwendung im Zuge des Auflösens einer Versammlung nicht rechtswidrig

Spruch

Die Bf. ist dadurch, daß ihr am in der Stopfenreuther Au von einem Sicherheitswachebeamten Fußtritte versetzt worden sind, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Hingegen ist die Bf. dadurch, daß ihr zur genannten Zeit am genannten Ort von einem Sicherheitswachebeamten Schläge mit dem Gummiknüppel versetzt worden sind, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, die Bf. habe am in der Stopfenreuther Au an der Versammlung zahlreicher Menschen teilgenommen, welche versucht hätten, die Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg zu verhindern.

Um etwa 11.15 Uhr sei die Bf. mit anderen Manifestanten (60 bis 80 Menschen) zu der nördlichen Flanke des Rodungsgebietes gelangt. Eine Gruppe von Polizisten hätte ihre Gummiknüppel gezückt und sei gegen die Manifestanten vorgegangen. Die Bf. sei von zwei Polizeibeamten links und rechts erfaßt worden. Die Beamten hätten die Bf., welche sich nicht gewehrt hätte, ein paar Meter weggetragen, jedoch dann plötzlich fallen gelassen. Da die Bf. durch das plötzliche Vorstürmen der zahlreichen Polizisten mit gezücktem Gummiknüppel ohnedies verstört und geschockt gewesen sei und da sie sich andererseits an die von den Demonstranten ausgegebene Parole der Gewaltlosigkeit gehalten habe, sei die Bf. am Boden liegen geblieben. Nun sei ein anderer Polizist herangetreten und habe der Bf. mehrere heftige Schläge versetzt. Da der Polizist auch mehrmals das Knie der Bf. traf, welches aufgrund einer Operation sehr empfindlich gewesen sei, habe die Bf. heftige Schmerzen verspürt und laut zu schreien begonnen. Daraufhin habe der Polizeibeamte der Bf. mehrere heftige Fußtritte auf Unterschenkel, Oberschenkel und Gesäß versetzt. Die Bf. habe mindestens vier Tritte und mindestens sechs "harte" Knüppelschläge erhalten. In der Folge seien am Körper der Bf. mehrere Hämatome und Schwellungen aufgetreten.

Das gegen die Bf. gerichtete behördliche Handeln verstoße gegen Art 3 MRK, weil die Tritte und die gegen die Bf. geführten Schläge mit dem Gummiknüppel weder erforderlich noch maßhaltend gewesen seien und die Menschenwürde der Bf. beeinträchtigt hätten.

Die Bf. beantragt, der VfGH wolle die angeführte Grundrechtsverletzung feststellen.

2. Die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich hat in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Die Sicherheitsdirektion hat zu dem in Beschwerde gezogenen Sachverhalt nicht unmittelbar Stellung genommen und im übrigen - mit näherer Begründung - ausgeführt, weshalb ihrer Auffassung nach das behördliche Vorgehen in der Stopfenreuther Au am nicht ohne Rechtsgrundlage erfolgt sei und weshalb die Organe der Exekutive den ihnen durch Art 3 MRK gesetzten Rahmen nicht überschritten hätten.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen sind der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zuzurechnen (s. hiezu und Folgezahlen); dies gilt auch für die am zum Einsatz gelangten Beamten der Bundespolizeidirektion Wien (die, wie sich aus den Akten ergibt, vom Bundesminister für Inneres am der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zur Dienstleistung zugeteilt worden waren).

Bel Beh ist hier daher die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich.

2. Es steht fest, daß am in der Stopfenreuther Au eine Versammlung stattgefunden hat (vgl. hiezu die auch hier maßgeblichen Ausführungen im Erkenntnis des und die dort zitierte Judikatur zum Versammlungsrecht), welche von der Behörde untersagt und für aufgelöst erklärt worden ist. Die Umstände, die zur Untersagung - deren Rechtmäßigkeit auch in der vorliegenden Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wird - hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. insbesondere ), waren hier gegeben (s. auch hiezu das angeführte Erkenntnis vom ). Es wird in der vorliegenden Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen und es lag für die Behörde auf der Hand, daß die am in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art 11 Abs 2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die - gemäß § 17 Versammlungsgesetz 1953 zuständige (vgl. auch hiezu das Erkenntnis vom ) - Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung befugt war.

3. Zur Anwendung von Körpergewalt gegen die Bf. hat der VfGH Beweis erhoben, durch die Vernehmung der Bf. als Partei sowie der Zeugen T G, G L und G S im Rechtshilfewege sowie durch Einsichtnahme in die Ambulanzkarte des öffentlichen Krankenhauses der Stadt Hainburg betreffend die bei der Bf. festgestellten Verletzungen.

a) Die Bf. hat anläßlich ihrer Einvernahme im wesentlichen ihr Beschwerdevorbringen (s. oben unter Pkt. I.1.) wiederholt und betont, sie sei, nachdem sie von zwei Beamten einige Meter weggetragen und sodann fallengelassen worden sei, zunächst am Boden liegengeblieben. Sie habe nicht gewußt, was sie jetzt machen sollte, ob sie weggehen sollte oder sonst etwas. Während sie noch am Boden gelegen sei, sei ein "grün gekleideter" Beamter auf sie zugekommen und habe mit dem Gummiknüppel auf sie eingeschlagen, davon einmal auf das Knie, welches operiert gewesen sei. Als die Bf. daraufhin aufgeschrieen habe, sei sie von dem Beamten beschimpft und getreten worden. Sie habe insgesamt etwa 6 Schläge mit dem Gummiknüppel erhalten, mehr auf die Beine als auf den Oberkörper. Sie habe mindestens 3 Tritte bekommen, und zwar auf die untere Körperhälfte zwischen Gesäß und Beinen. Während der Zeuge G keine für die Beurteilung des vorliegenden Falles relevanten Angaben machen konnte, erklärte der Zeuge L gesehen zu haben, wie ein Polizeibeamter die Bf. mit einem Stock geschlagen habe. Er habe zwar nicht gesehen, daß die Bf. getreten worden sei, könne dies jedoch infolge des damals herrschenden Tumultes nicht ausschließen. Der etwa 5 bis 10 m von der Bf. entfernte Zeuge S hat gesehen, daß die Bf. von einem Polizeibeamten geschlagen und getreten worden ist.

b) Der VfGH nimmt aufgrund dieser Beweise als erwiesen an, daß ein (unbekannt gebliebener) Sicherheitswachebeamter der Bf. mehrere Tritte gegen den Unterkörper sowie mehrere Schläge mit dem Gummiknüppel (hauptsächlich gegen die Beine) versetzt hat. Der Gerichtshof hat keinen Anlaß, an der Richtigkeit der Angaben der Bf. und der Zeugen zu zweifeln, zumal diese Angaben auch von der bel. Beh. nicht in Abrede gestellt werden. Der VfGH verkennt nicht, daß die Behörde im Hinblick auf die Unmöglichkeit, die betreffenden Beamten zu identifizieren, keine zielführenden Beweisanträge stellen konnte. Die vorhandenen Beweisergebnisse reichen jedoch aus, um zu den oben getroffenen Feststellungen zu gelangen. Im übrigen sprechen auch die im öffentlichen Krankenhaus Hainburg festgestellten Verletzungen (Schwellung und Hämatome an zwei Stellen am linken Unterschenkel sowie eine leichte Schwellung des rechten Knies) für die Richtigkeit der Beschwerdebehauptungen.

c) Der festgestellte Sachverhalt führt zu folgender rechtlicher Beurteilung:

Die Bf. hat sich nach ihrem eigenen Vorbringen vom Versammlungsort nicht entfernt. Der VfGH hat bereits im Erkenntnis vom , B91/85 darauf hingewiesen, daß es für die Beamten sehr schwierig war, die Auflösung der Versammlung in der Stopfenreuther Au am durchzusetzen und daß in Anbetracht der gesamten damaligen Situation sowie der beharrlichen Haltung einer großen Anzahl von Manifestanten, der sich die Beamten gegenüber sahen, die Anwendung eines gewissen Ausmaßes körperlicher Gewalt (im Falle der zu B91/85 entschiedenen Beschwerde des Hinabstoßens vom Damm) an sich maßhaltend war, um so die Befolgung der behördlichen Anordnung zu erreichen.

Ähnliches gilt hier für die Anwendung des Gummiknüppels gegen die Person der Bf. Die Bf. lag - nach ihren eigenen Angaben - am Boden und machte keine Anstalten, sich zu entfernen, als sich der Sicherheitswachebeamte ihr näherte. Wenn der Beamte unter diesen Umständen (offenkundig in der Meinung, die Bf. wolle sich nicht vom Versammlungsort entfernen) von der mindergefährlichen Waffe des Gummiknüppels vor allem gegen die Beine der Bf. Gebrauch machte, dann kann davon ausgegangen werden, daß diese Vorgangsweise auf den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung), nicht aber gegen die Menschenwürde der Bf. gerichtet war. In Anbetracht der damals gegebenen Situation kann auch nicht gesagt werden, daß das Versetzen von Schlägen mit dem Gummiknüppel gegen minder gefährdete Körperteile nicht erforderlich oder nicht maßhaltend im Sinne der ständigen Rechtsprechung des VfGH zu Art 3 MRK war (anders jedoch bei Schlägen auf den Kopf, vgl. hiezu , betreffend ebenfalls Vorfälle in der Stopfenreuther Au am ).

Die festgestellten Tritte gegen die Bf. können jedoch weder als erforderlich noch als maßhaltend qualifiziert werden. Tritte mit dem Fuß sind an sich für den Betroffenen jedenfalls nicht nur schmerzhaft, sondern - ähnlich dem Versetzen von Ohrfeigen (VfSlg . 8296/1978) - nach allgemeinem Empfinden von betont erniedrigender Wirkung. Der VfGH hat dies in seiner Judikatur bereits zum Ausdruck gebracht (s. VfSlg. 10250/1984 betreffend das absichtliche Versetzen von Fußtritten sowie betreffend einen Fußtritt in das Gesicht). Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob das Versetzen von Tritten unter allen Umständen und in jeder denkbaren Situation einen Verstoß gegen Art 3 MRK mit sich bringt. Hier ist jedoch überhaupt nicht erkennbar, daß - über die ohnehin erfolgten Schläge mit dem Gummiknüppel hinaus - Fußtritte noch mit dem Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung) in Zusammenhang standen. Sicherlich war - wie bereits oben ausgeführt - schon im Hinblick auf die große Anzahl von Versammlungsteilnehmern einerseits und die begrenzte Zahl der zur Verfügung stehenden Exekutivbeamten andererseits der Einsatz des Gummiknüppels erforderlich und (gegen minder gefährdete Körperteile) auch maßhaltend, um Versammlungsteilnehmer zum Verlassen des Versammlungsortes zu bewegen, welche dies selbst dann nicht taten, als sie ein Stück weggetragen worden waren. Daß zur Erreichung dieses Ziels Tritte erforderlich gewesen sein sollten, behauptet auch die bel. Beh. keineswegs. Es liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, daß die Tritte der Bf. in einer solch extremen Ausnahmesituation versetzt worden sind, bei der mit Rücksicht auf ein nur so und nicht anders von der Behörde legitimerweise zu erreichendes Ziel der grundsätzlich erniedrigende Charakter von Tritten wegfallen oder zumindest in den Hintergrund gedrängt würde.

4. Aus den obigen Erwägungen ergibt sich insgesamt, daß die Bf. durch die von ihr inkriminierten Tritte im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist, daß aber hinsichtlich der ebenfalls inkriminierten Schläge mit dem Gummiknüppel die behauptete Grundrechtsverletzung nicht vorliegt. Daraus folgt die teilweise Stattgebung und die teilweise Abweisung der Beschwerde, wobei im Umfang der Stattgebung nicht (mehr) geprüft zu werden brauchte, ob auch andere Grundrechtsverstöße gegeben sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG in Verbindung mit den §§43 Abs 1 ZPO und 35 Abs 1 VerfGG.

Diese Entscheidung konnte in einer der Norm des § 7 Abs 2 litc VerfGG genügenden Zusammensetzung getroffen werden.