VfGH vom 12.06.1987, B84/85

VfGH vom 12.06.1987, B84/85

Sammlungsnummer

11328

Leitsatz

Gem. § 17 VersammlungsG zuständige Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung in der Stopfenreuther Au befugt; Versetzen von Schlägen mit dem Gummiknüppel auf den liegenden Bf., Tritte, sowie Würgen am Hals mittels einer Fahne - keinesfalls maßhaltende Vorgangsweise; offenkundige Mißhandlungsabsicht; Verstoß gegen Art 3 MRK; Obsiegen des Bf. zu zwei Drittel; Zuspruch eines Drittels der ihm im Falle des gänzlichen Obsiegens zugestandenen Kosten gem. § 88 VerfGG

Spruch

Der Bf. ist dadurch, daß er am um etwa 08.00 Uhr in der Stopfenreuther Au von Sicherheitswachebeamten mit Gummiknüppeln geschlagen, getreten und mittels einer Fahne am Hals gewürgt wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen seines Vertreters die mit S 22.367,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Bf. habe am in der Stopfenreuther Au an der Versammlung zahlreicher Menschen teilgenommen, welche die Vorarbeiten zur Errichtung des Donaukraftwerkes Hainburg verhindern wollten.

Um etwa 08.00 Uhr früh dieses Tages sei der Bf. in der ersten Reihe einer Gruppe in der Nähe des Rodungsgebietes gestanden und habe eine etwa 2 m lange rot-weiß-rote Fahne in Händen gehalten. Aus dem Kordon von Polizeibeamten, der gegenüber den Manifestanten Aufstellung genommen hätte, sei ein Beamter auf den Bf. zugetreten und habe ihn angeherrscht, er solle zurückgehen. Als der Bf. erwidert hätte, er könne nicht, da sich die Gruppe von Demonstranten hinter dem Rücken des Bf. ständig vergrößerte und nicht zurückgewichen sei, habe der Beamte den Bf. bei der Jacke am Hals gepackt und ihn zu Boden gerissen. Daraufhin seien etwa vier bis fünf in der Nähe befindliche Polizisten herbeigelaufen und hätten den am Boden liegenden Bf. von den anderen Demonstranten abgeschirmt. Der erstgenannte Polizist hätte den Bf. mit Hilfe eines weiteren Beamten hinter den Polizeikordon geschleift. Dort sei der noch immer am Boden liegende Bf. von drei Polizeibeamten "mit Schlagstöcken" geschlagen und mit Füßen getreten worden. Dann hätte ein Polizist den Bf. hochgezerrt und ihn zum Aufstehen aufgefordert. Als dies dem Bf. nicht gelungen sei, habe ein anderer Polizist die rot-weiß-rote Fahne, die sich der Bf. schützend über den Kopf gezogen habe, dem Bf. um den Hals gelegt und die Enden derart zugedreht, daß der Bf. gewürgt worden sei und kaum mehr Luft bekommen habe. Daraufhin habe der Polizeibeamte den Bf. an der Fahne hochgerissen und gemeinsam mit dem anderen Beamten den Bf. zum Mannschaftsbus der Wiener Polizei gebracht. Unmittelbar nach seiner Festnahme habe der Bf. den gesamten Vorfall einem Reporterteam des ersten deutschen Fernsehens geschildert.

Der Bf. erachtet sich durch die nach seiner Auffassung gesetzwidrige bzw. unverhältnismäßige Anwendung körperlichen Zwanges in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und in seinem Recht, nicht unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden, verletzt, ebenso durch seine vermeintlich gesetzwidrige Festnahme im Recht auf persönliche Freiheit und durch die "willkürliche Anwendung von Zwangsgewalt" im Gleichheitsrecht. Der Bf. beantragt, der VfGH wolle dies kostenpflichtig feststellen.

2. Die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich hat in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt und zunächst darauf hingewiesen, daß vor dem unmittelbaren Einschreiten der Exekutive alle Demonstranten neuerlich vernehmlich aufgefordert worden seien, das Gebiet zu verlassen. Da der Bf. der Aufforderung, sich zu entfernen, wiederholt keine Folge geleistet habe, sei er von Sicherheitswachebeamten zum Zwecke der Vorführung vor die Behörde festgenommen und unter Anwendung körperlichen Zwanges zum Arrestantenbus gebracht worden.

Bei der gegebenen Sachlage hätten die Exekutivorgane durchaus vertretbar annehmen können, daß der Bf.

Verwaltungsübertretungen nach dem Versammlungsgesetz 1953 beging, in deren Fortsetzung er trotz Abmahnung verharrte. Es sei demnach der Festnahmegrund nach § 35 litc VStG vorgelegen.

Zu den vom Bf. behaupteten Mißhandlungen hat die Sicherheitsdirektion im einzelnen nicht Stellung genommen.

3. In der mündlichen Verhandlung vor dem VfGH hat der Beschwerdevertreter die Beschwerde insoweit "eingeschränkt", als er ausdrücklich nur mehr die Anwendung von Körpergewalt gegen den Bf. bis zu seinem "Transport" zum Polizeibus wegen Verstoßes gegen Art 3 MRK in Beschwerde gezogen hat, nicht (mehr) jedoch die Festnahme als solche.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen sind der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zuzurechnen (s. hiezu und Folgezahlen); dies gilt auch für die am zum Einsatz gelangten Beamten der Bundespolizeidirektion Wien (die, wie sich aus den Akten ergibt, vom Bundesminister für Inneres am der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zur Dienstleistung zugeteilt worden waren).

Bel Beh ist hier daher die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich.

2. Es steht fest, daß am in der

Stopfenreuther Au eine Versammlung stattgefunden hat (vgl. hiezu die auch hier maßgeblichen Ausführungen im Erkenntnis des und die dort zitierte Judikatur zum Versammlungsrecht), welche von der Behörde untersagt und für aufgelöst erklärt worden ist. Die Umstände, die zur Untersagung - deren Rechtmäßigkeit auch in der vorliegenden Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wird - hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. insbesondere ), waren hier gegeben (s. auch hiezu das angeführte Erkenntnis vom ). Es wird auch in der vorliegenden Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen, und es lag für die Behörde auf der Hand, daß die am in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art 11 Abs 2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die - gemäß § 17 Versammlungsgesetz 1953 zuständige (vgl. auch hiezu das Erkenntnis vom ) - Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung an sich befugt war. Der Bf. ist aus diesem Anlaß festgenommen worden. Er behauptet, im Zusammenhang mit seiner Festnahme mißhandelt worden zu sein.

3.a) Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Bf. als Partei sowie der Zeugen C K, M S, H K und J B im Rechtshilfewege sowie durch Vorführung eines von Kameraleuten der ARD am in der Stopfenreuther Au aufgenommenen Videobandes vor dem Referenten des VfGH. In dem Film wird das in der Beschwerde erwähnte Interview wiedergegeben, welches der Bf. in einem Fahrzeug der Sicherheitsbehörde den ebenfalls festgenommenen Reportern der ARD gegeben hat und in welchem er im wesentlichen jene Vorfälle schildert, die auch Gegenstand der Beschwerde (s. oben unter Pkt. I.1.) sind. Weiters hat der VfGH in insgesamt sieben vom Bf. vorgelegte Fotos Einsicht genommen.

Während der Bf. bei seiner Vernehmung als Partei im wesentlichen sein Beschwerdevorbringen wiederholte, gaben sämtliche Zeugen an gesehen zu haben, wie der von mehreren Polizeibeamten umringte, (bereits) am Boden liegende Bf. von den Beamten mit Gummiknüppeln geschlagen und mit Füßen getreten worden sei sowie daß ein Beamter den Bf. mit der Fahne, welche der Bf. um seinen Hals geschlungen habe, "regelrecht gewürgt" (insbesondere Zeuge S) habe.

b) Der VfGH nimmt aufgrund dieser Beweismittel als erwiesen an, daß - unbekannt gebliebene - Sicherheitswachebeamte gegen den Bf. die oben wiedergegebenen und im Spruche dieses Erkenntnisses angeführten Mißhandlungen gesetzt haben. Der VfGH sieht keinen Grund, an den übereinstimmenden Angaben sämtlicher vernommener Augenzeugen zu zweifeln. Auch der Umstand, daß der Bf. kurz nachher diese Geschehnisse in einem Interview so geschildert hat, wie sie in der Folge in der Beschwerde und von den vernommenen Zeugen wiedergegeben werden, spricht für die Glaubwürdigkeit der Angaben. Auch eines der Fotos, welches den vor einer Gruppe von Demonstranten am Boden sitzenden, von mehreren Sicherheitswachebeamten umringten und offensichtlich am Oberkörper ergriffenen Bf. zeigt, entspricht der Darstellung des Bf. und der Zeugen. Überdies ist darauf hinzuweisen, daß die bel. Beh. im Zuge des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sich zu den behaupteten Mißhandlungen (lediglich) auf die Zeugenschaft von zwei Offizieren der Sicherheitswache berufen hat, die allerdings, wie aus deren dem VfGH vorgelegten schriftlichen Berichten hervorgeht, (lediglich) in dem von ihnen beobachteten Bereich keine Mißhandlungen wahrgenommen haben.

4. Der VfGH sprach schon wiederholt aus (vgl. aus jüngerer Zeit zB VfSlg. 10250/1984 mit weiteren Judikaturhinweisen), daß eine (im Sinne des Waffengebrauchsgesetzes) unzulässige Anwendung von Körperkraft dann gegen das in Art 3 MRK statuierte Verbot erniedrigender Behandlung verstößt, wenn darin eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zum Ausdruck kommt. Auch wenn beim Einschreiten der Exekutive am in der Stopfenreuther Au und im besonderen an dem Ort, an dem sich der Bf. damals aufhielt, der Einsatz des Gummiknüppels im Sinne des Waffengebrauchsgesetzes an sich gerechtfertigt gewesen sein mag (vgl. und B152/85), stellten jedenfalls die festgestellten Schläge mit dem Gummiknüppel durch mehrere Beamte auf den liegenden Bf., die Tritte sowie das Würgen am Hals mittels einer Fahne keinesfalls eine maßhaltende Art der Anwendung von Körperkraft dar. Die Vorgangsweise der Beamten war auch keineswegs notwendig, um den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung) zu erreichen, sondern erfolgte vielmehr offenkundig in Mißhandlungsabsicht (möglicherweise verursacht durch ein provokantes Verhalten des mit einer Fahne an der Spitze einer Gruppe von Demonstranten auftretenden Bf).

Es ist daher auszusprechen, daß der Bf. durch die dargestellte Vorgangsweise der Sicherheitswachebeamten im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. Im Hinblick darauf, daß der Bf. in der mündlichen Verhandlung vor dem VfGH die Beschwerde zwar auf die Mißhandlungen im Zusammenhang mit seiner Festnahme "eingeschränkt" hat, das Beweisverfahren aber überwiegend der Klärung dieser Mißhandlungen gedient hat, geht der VfGH davon aus, daß der Bf. zu zwei Drittel obsiegt hat. Da der Beschwerdefüher daher ein Drittel der Kosten dem Bund zu ersetzen hätte, ist ihm ein Drittel der ihm im Falle des gänzlichen Obsiegens zugestandenen Kosten von

S 67.100,-- (davon S 6.100,-- Umsatzsteuer) zuzusprechen.

Diese Entscheidung konnte in einer der Norm des § 7 Abs 2 litc VerfGG genügenden Zusammensetzung getroffen werden.