VfGH vom 25.09.1987, B78/85

VfGH vom 25.09.1987, B78/85

Sammlungsnummer

11421

Leitsatz

Gem. § 17 VersammlungsG zuständige Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung in der Stopfenreuther Au befugt; Versetzen von Schlägen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf hier jedenfalls keine maßhaltende Vorgangsweise mehr - Verstoß gegen Art 3 MRK

Spruch

Die Bf. ist dadurch, daß ihr Sicherheitswachebeamte am in der Stopfenreuther Au mehrere gezielte Schläge auf den Kopf versetzt haben, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Bf. zu Handen ihres Vertreters die mit S 56.100,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, die Bf. hätte am in der Stopfenreuther Au an der "Versammlung zahlreicher Menschen" teilgenommen, welche den Beginn der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg verhindern wollten.

Die Bf. hätte sich beim Rodungsgebiet aufgehalten, welches durch einen Kordon von Polizei- und Gendarmeriebeamten abgeriegelt gewesen sei. Die Bf. sei einige Schritte vorgegangen, um dann vor den herumstehenden Manifestanten vom Rodungsgebiet wegzugehen. Plötzlich hätten sich einige Polizeibeamte auf die Bf. gestürzt und sie habe - ohne jeden Grund und ohne daß irgendein Wort zwischen ihr und den Beamten gewechselt worden sei - mehrere Schläge "mit Schlagstöcken" auf ihren Kopf erhalten, bis sie zusammengebrochen sei. Die Bf. sei in der Folge in das Krankenhaus Hainburg überstellt worden, wo sie bis zum in stationärer Behandlung gewesen sei. Sie habe durch die Schläge mit den Schlagstöcken auf ihren Kopf offene Wunden und eine Gehirnerschütterung erlitten.

Die Bf. erachtet sich durch diese nach ihrer Auffassung gesetzwidrige bzw. unverhältnismäßige Anwendung körperlichen Zwanges in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (weil das Vorgehen der Beamten gegen sie ohne Rechtsgrundlage erfolgt sei) sowie nach Art 3 MRK verletzt und beantragt, der VfGH wolle dies kostenpflichtig feststellen.

2. Die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich hat in der Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt und darauf hingewiesen, daß der Einsatz der Gendarmeriebeamten sowie der Beamten der Bundespolizeidirektion Wien (die, wie sich aus den Akten ergibt, vom Bundesminister für Inneres am der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zur Dienstleistung zugeteilt worden waren) unter der Leitung der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich, und zwar des Sicherheitsdirektors Hofrat Dr. S und seines Vertreters OR Mag. W, erfolgt sei.

Die Versammlung im Bereich des Rodungsgebietes sei erstmals um 7.30 Uhr des sowie im Lauf des Vormittags mehrmals mittels Megaphons für aufgelöst erklärt worden. Die Demonstranten hätten jedoch der wiederholten Aufforderung, den Versammlungsort zu verlassen, keine Folge geleistet. Der Beschwerde sei zu entnehmen, daß die Bf. an Ort und Stelle (im Zentrum der Auseinandersetzungen) verblieben sei und den Anordnungen der Behörde zumindest passiven Widerstand entgegengesetzt habe. Es sei jedenfalls schon nach der eigenen Darstellung der Bf. als erwiesen anzunehmen, daß sie der Aufforderung, den Versammlungsort zu verlassen, nicht Folge geleistet habe.

Die Sicherheitsdirektion stützt die Anwendung von Zwangsmitteln - nach erfolgter Auflösung der Versammlung - auf § 14 Abs 2 Versammlungsgesetz 1953. Unter den damals gegebenen Umständen (teils passiver, teils aktiver Widerstand großer Demonstrantengruppen, wiederholte Versuche von Demonstranten und Gruppen, in das Einsatzgebiet zurückzukehren, relativ begrenzte Fläche der Dammkrone, tumultartige Zustände), welche es praktisch unmöglich gemacht hätten, Amtshandlungen gezielt auf einzelne Demonstranten abzustellen, hätten sich die Zwangsmittel der Exekutive keineswegs als unangemessen dargestellt, sie seien vielmehr notwendig und maßhaltend vor sich gegangen.

Zu den Beschwerdebehauptungen über die Schläge auf den Kopf nimmt die Sicherheitsdirektion im einzelnen nicht Stellung.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die bekämpften Amtshandlungen wurden - worauf auch die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich und die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf im verfassungsgerichtlichen Verfahren übereinstimmend hingewiesen haben - im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich durchgeführt. Sie sind somit dieser Behörde zuzurechnen (s. VfSlg. 8545/1979, S 313). Die einschreitenden Beamten vollzogen die hier bekämpften Maßnahmen für die Sicherheitsdirektion, als deren Hilfsorgan sie tätig wurden und deren Vollzugsgewalt sie im konkreten Fall gehandhabt haben (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 157 sowie insbesondere und B91/85).

Bel. Beh. ist hier daher die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich.

2. Es steht fest, daß am in der Stopfenreuther Au eine Versammlung stattgefunden hat (vgl. hiezu die auch hier maßgeblichen Ausführungen in den Erkenntnissen des (VfSlg. 10955/1986), sowie VfSlg. 11081/1986, und die dort zitierte Judikatur zum Versammlungsrecht), welche von der Behörde untersagt und für aufgelöst erklärt worden ist (im Vergleich zur Auflösung der Versammlung vom , welche den Gegenstand der Beschwerde zu B44/85 bildete, kommt hier noch hinzu, daß die Versammlung inzwischen auch bescheidmäßig untersagt worden war). Die Umstände, die zur Untersagung - deren Rechtmäßigkeit auch in der vorliegenden Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wird hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. insbesondere ), waren hier ebenfalls gegeben. Es wird in der Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen und lag auch für die Behörde auf der Hand, daß die am in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art 11 Abs 2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die - gemäß § 17 Versammlungsgesetz 1953 zuständige (vgl. auch hiezu VfSlg. 10955/1986) - Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung an sich befugt war.

3. Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Einvernahme der Bf. als Partei sowie der Zeugen P F und R P im Rechtshilfewege, durch die Vorführung von Ausschnitten eines Videobandes vor dem Referenten des VfGH sowie durch Einsichtnahme in die Verletzungsanzeige des öffentlichen Krankenhauses Hainburg vom , wonach bei der Bf. eine kleine Rißquetschwunde an der rechten Schläfe, ein kleiner Bluterguß in diesem Bereich sowie eine leichte Gehirnerschütterung diagnostiziert wurden.

a) Die Bf. wiederholte anläßlich ihrer Aussage im wesentlichen ihr Beschwerdevorbringen (s. oben unter Pkt. I.1.). Sie sei "auf dem Weg zu zwei Frauen" in eine Gruppe von Beamten geraten und - entweder mit einer Faust oder mit einem Knüppel mehrfach auf die rechte vordere Seite ihres Kopfes geschlagen und hiebei verletzt worden. Der Zeuge R P gab an, er habe sich damals zusammen mit dem Kameramann P F als Journalist für den ORF in der Stopfenreuther Au aufgehalten. Er habe die Bf. das erste Mal gesehen, wie sie bereits blutend am Boden gelegen sei. Wie die Bf. ihre Verletzung erhalten habe, habe er nicht konkret beobachtet, er habe allerdings gesehen, daß auf die Gruppe, in der sich die Bf. befunden habe, von den Beamten hingetreten und mit Stöcken hingeschlagen worden sei. Der Zeuge P F konnte sich (nur mehr) erinnern, am eine Frau gesehen und auch gefilmt zu haben, die am Kopf geblutet habe. Er habe aber nicht beobachtet, wie diese Frau zu diesen Verletzungen gekommen sei. Der Zeuge konnte sich anläßlich seiner Einvernahme im Rechtshilfewege an die Person der dort anwesenden Bf. nicht erinnern.

Bei der Beweisaufnahme vor dem Referenten des VfGH wurden Ausschnitte eines Videobandes vorgeführt, welches von einer Videogruppe des Werkstätten- und Kulturhauses in Wien am in der Stopfenreuther Au aufgenommen worden ist. Auf dem Videoband ist die Bf. zweimal (wenngleich nur kurz) inmitten sich bewegender Gruppen von Demonstranten und Exekutivbeamten zu sehen, ebenso ist zu sehen, daß die Bf. zu Sturz kommt. Auf welche Weise die Bf. ihre Verletzungen erlitten hat, ist aus dem Videoband nicht erkennbar, so sind insbesondere Schläge auf den Kopf der Bf. nicht zu sehen.

b) Der VfGH nimmt aufgrund dieser Beweismittel als erwiesen an, daß ein oder mehrere - unbekannt gebliebene Sicherheitswachebeamte der Bf. mehrere gezielte Schläge auf den Kopf versetzt haben, was die - oben näher beschriebenen Verletzungen zur Folge hatte.

Der VfGH kommt keineswegs allein aufgrund der Aussagen der Bf. - deren Vorbringen sich auch im Verfahren zu B270/85 als wahrheitsgemäß herausgestellt hat (s. = VfSlg. 11206/1987) - zu diesem Ergebnis. Die Behauptungen der Bf. werden vielmehr durch die Angaben des - unbeteiligten Journalisten P entscheidend gestützt, der zwar die Bf. erst gesehen hat, als sie bereits blutend am Boden lag, der aber beobachtet hat, daß jene Gruppe von Manifestanten, in der sich die Bf. befand, von den Beamten geschlagen und getreten wurde. Dazu kommt, daß die bei der Bf. festgestellten Verletzungen durchaus auf die in der Beschwerde geschilderte Weise zustandegekommen sein können, was ebenfalls ein nicht unwesentliches Indiz für die Glaubwürdigkeit des Beschwerdevorbringens darstellt.

Der Inhalt des im Rahmen des verfassungsgerichtlichen Verfahrens vorgeführten Videobandes spricht nicht gegen die getroffenen Feststellungen, zumal die Bf. darauf im Zuge des gesamten Geschehens nur eher kurz zu sehen ist und diese Aufnahmen keine Rückschlüsse zulassen, was sich ansonsten noch abgespielt hat.

c) Der festgestellte Sachverhalt führt zu folgender rechtlicher Beurteilung:

Der VfGH hat im Erk. VfSlg. 11095/1986 (betreffend ebenfalls Amtshandlungen in der Stopfenreuther Au am ) unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung zu Art 3 MRK (zB VfSlg. 9385/1982) ausgeführt, daß selbst dann, wenn Schläge mit dem Gummiknüppel auf den Kopf unter den damals gegebenen spezifischen Verhältnissen nicht als in Mißhandlungsabsicht erfolgt und nicht als Ausdruck persönlicher Mißachtung zu qualifizieren sind, hiebei jedenfalls nicht mehr von einer maßhaltenden behördlichen Vorgangsweise bei der Auflösung der Versammlung gesprochen werden könne, welche zur Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes notwendig war. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Der Umstand, daß der Bf. mehrere Schläge versetzt wurden, läßt es auch als unwahrscheinlich erscheinen, daß die Schläge die Bf. nur aus Zufall trafen.

4. Es ist daher auszusprechen, daß die Bf. durch die von ihr inkriminierten Schläge im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 5.100,-- enthalten.

Diese Entscheidung konnte in einer der Norm des § 7 Abs 2 litc VerfGG genügenden Zusammensetzung getroffen werden.