OGH vom 01.09.2020, 10ObS85/20b

OGH vom 01.09.2020, 10ObS85/20b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, vertreten durch Moser Mutz Rechtsanwälte GesbR in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 6 Rs 74/19b24, mit dem das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 34 Cgs 172/18t18, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revision selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger ist seit zumindest 1995 im Klinikum Klagenfurt in der (geschlossenen) Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie als Pflegeassistent tätig. Er betreut großteils Patienten, die unter schwersten psychischen Problemen leiden, darunter zwei Drittel an Demenz. Er verrichtet die Zubereitung von Mahlzeiten, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnräume und der persönlichen Sachen der Patienten, die Verabreichung von Essen, bei Bedarf die Körperpflege der Patienten. Er begleitet sie zu Terminen wie Therapien und Besuchergesprächen. Dabei führt er körperlich schwere Arbeit durch. Zumindest fünf der untergebrachten Patienten haben einen Pflegeaufwand, der mindestens die Stufe 5 nach dem Bundespflegegeldgesetz erreicht. Diese Tätigkeiten erfordern einen Arbeitsenergieumsatz von 9.797,76 Arbeitskilojoule pro 11,5 Stunden Arbeitstag. Im Nachtdienst ist eine Arbeitsenergie von zumindest 8.674,56 Arbeitskilojoule pro 12,5 Stunden Arbeitstag gegeben. Einen Arbeitsenergieumsatz von zumindest 8.374 Arbeitskilojoule überschreitet der Kläger bei einem 8-Stunden-Arbeitstag sowohl im Tag- als auch im Nachtdienst.

[2] Im Dienstplan werden die Tagdienste, Nachtdienste und die dazwischenliegenden freien Tage eingeteilt. Der Tagdienst dauert 12 Stunden, beginnt um 6:30 Uhr und endet um 18:30 Uhr. Der Nachtdienst beginnt um 18:15 Uhr abends und dauert bis zum nächsten Tag um 6:45 Uhr. Die Normaldiensteinteilung ist seit Beginn der Tätigkeit unverändert. Der Kläger verrichtet zwei Tage nacheinander Tagdienst und anschließend einen Nachtdienst. Auf diese drei Diensttage folgen drei freie Tage. Die Diensteinteilung beginnt dann wieder mit den Tagdiensten.

[3] Für jede geleistete Nachtschicht erhält der Kläger einen Anspruch auf ein Zeitguthaben von zwei Stunden. Pro sechs Nachtdiensten erhält er einen sogenannten (freien) NSG-Tag. Für die Verrichtung von Diensten an Feiertagen erhält der Kläger eine Zeitgutschrift, sogenannte F-Tage.

[4] Im Revisionsverfahren ist strittig, ob dieser Zeitausgleich (NSG- und F-Tage) nach dem im Urlaubsrecht geltenden fiktiven Ausfallprinzip bei der Feststellung von Schwerarbeitsmonaten zu berücksichtigen ist (so der Kläger) oder nicht (so die beklagte Pensionsversicherungsanstalt).

[5] Das Erstgericht folgte dem Standpunkt der Beklagten. Die Zeitausgleichstage seien als zusätzliche Ruhezeiten nach dem Arbeitszeitgesetz zu beurteilen. Der Kläger habe an solchen Tagen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen nicht gearbeitet.

[6] Das Berufungsgericht teilte diese Rechtsansicht und gab den Berufungen beider Parteien nicht Folge. Seiner rechtlichen Beurteilung zufolge sollten die Bestimmungen der NSchG-Novelle 1992 über durch Nachtdienste erworbene Zeitguthaben einen Ausgleich für physisch oder psychisch besonders belastende Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals in Krankenanstalten schaffen. Diese Regelungen unterschieden sich von den Fällen des Urlaubskonsums und des Krankenstands. Für diese sei nämlich grundsätzlich die Fiktion möglich, dass während dieser Zeiten Schwerarbeit verrichtet worden wäre. Schwerarbeit müsse immer in Relation zu Belastungs- und Erholungsphasen betrachtet werden, weil sich mit der Möglichkeit von Erholungsphasen zwischen den einzelnen Tagen der Schwerarbeit auch die Gesamtbelastung der Arbeit verringere. Der Kläger hätte während der Ausgleichstage niemals Schwerarbeit verrichtet. Dasselbe gelte für die Zeitausgleichstage für geleistete Feiertagsdienste (F-Tage). Die Revision sei zulässig, weil zur Frage der Berücksichtigung solcher Zeitausgleiche bei Beurteilung von Schwerarbeiten noch keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die – nicht beantwortete – Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht berechtigt.

[8] Es ist nicht strittig, dass der Kläger an den Tagen, an denen er Dienst hat, Schwerarbeit jedenfalls nach § 1 Abs 1 Z 4 Schwerarbeitsverordnung (SchwerarbeitsV) verrichtet hat und für jeden Nachtdienst zwingend ein Zeitguthaben von zwei Stunden (Zeitausgleich) erhielt (Art V § 3 Abs 1 Z 2 Nachtschwerarbeitsgesetz [NSchG]-Nov 1992, BGBl 1992/473). Für jeden Dienst an einem Feiertag erhält der Kläger einen Tag Zeitausgleich (F-Tag).

[9] Unter der – in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geforderten – Einrechnung von Urlaubstagen (10 ObS 96/10f SSV-NF 24/54, RS0126110) sowie von Krankenstandstagen (10 ObS 103/10k SSV-NF 24/58) stellte das Berufungsgericht im klagsgegenständlichen Zeitraum insgesamt 96 Schwerarbeitsmonate fest. Zu klären bleibt, ob auch die Tage des Zeitausgleichs als Tage mit fiktiver Schwerarbeit zu veranschlagen sind. In diesem Fall erhöht sich die Anzahl der festzustellenden Schwerarbeitsmonate um 34.

[10] Der Kläger zieht in seiner Revision eine Parallele zum Urlaubsrecht. Er könne die Zeitgutschriften für einen Nachtdienst nur geblockt für 12 Stunden (sechs Nachtdienste) als Ausgleich für einen ganzen (Tag-)Dienst in Anspruch nehmen. Ein solcher NSG-Tag falle in das laufende Dienstrad und damit auch auf einen Tag, an dem der Kläger fiktiv seinen Dienst verrichtet hätte. NSG-Tage seien somit keine die Gesamtbelastung der Arbeit verringernden Ruhezeiten, sondern einem Erholungsurlaub gleichzusetzende zusätzliche Erholungszeit. Die sogenannten F-Tage, welche den Dienst an einem Feiertag über Zeitausgleich abgelten, seien ebenfalls keine Ersatzruhezeiten.

[11] Seine Argumentation überzeugt jedoch nicht:

[12] Es ist richtig, das Zeiten des Urlaubsverbrauchs nach der Rechtsprechung Schwerarbeitszeiten begründen können, wenn während des Urlaubs, wäre fiktiv gearbeitet worden, Schwerarbeit geleistet worden wäre. Der Arbeitnehmer hat nach dem im Urlaubsrecht geltenden „fikitiven Ausfallsprinzip“ grundsätzlich jenes Entgelt zu erhalten, das er verdient hätte, wenn er in der Urlaubszeit gearbeitet hätte (10 ObS 96/10f SSV-NF 24/54; RIS-Justiz RS0126110). Begründet wird die Anwendung des „fiktiven Ausfallsprinzips“ bei der Feststellung von Schwerarbeitszeiten nach der SchwerarbeitsV damit, dass es sich beim Urlaubsanspruch um einen gesetzlichen Freistellungsanspruch handelt und dieser nach der Intention des Gesetzgebers vor allem der Erholung und Wiederherstellung der Arbeitskraft des Arbeitnehmers dienen soll (10 ObS 117/16b SSV-NF 30/82).

[13] Der dem Kläger unstrittig zustehende Zeitausgleich von zwei Stunden pro geleistetem Nachtdienst soll die physisch oder psychisch besonders belastenden Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals in Krankenanstalten ausgleichen (AB 629 BlgNR 18. GP 2 zu Art V NSchG-Nov 1992;9 ObA 109/19y mwN). Die Zeitgutschrift soll möglichst rasch nach Leistung des Nachtdienstes verbraucht werden, um gesundheitliche Schäden der in der Nacht Arbeitenden gering zu halten (AB 629 BlgNR 18. GP 2). Art V § 3 Abs 1 NSchG-Nov 1992 verbietet die Ablöse des Zeitguthabens in Geld. Das Zeitguthaben ist spätestens binnen sechs Monaten nach seinem Entstehen zu verbrauchen. Art V § 3 Abs 1 NSchG-Nov 1992 gewährt einen verpflichtenden gesetzlichen Freistellungsanspruch. Nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung steht bei dieser Art des Zeitausgleichs wie im Urlaubsrecht der Erholungszweck im Vordergrund (RS0051632 [T3]). Das spricht (vordergründig) für die vom Kläger gewünschte Anwendung des „fiktiven Ausfallsprinzips“.

[14] Rechtsprechung und Schrifttum gehen bei der Feststellung von Schwerarbeitszeiten nach der SchwerarbeitsV aber vom Prinzip aus, dass nur tatsächlich geleistete Schwerarbeit und tatsächliche Beanspruchung durch Schwerarbeit im konkreten Kalender-(Versicherungs-)monat einen Schwerarbeitsmonat begründen (zu § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV: 10 ObS 23/16d SSV-NF 30/30, [Diplomkrankenschwester einer Neonatologie-Intensivstation mit regelmäßigen 12-stündigen Nachtdiensten]; 10 ObS 30/16h [Diplomkrankenschwester einer onkologischen Station]; 10 ObS 117/16b SSV-NF 30/82 [als Betriebsrätin freigestellte diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester eines Landespflegezentrums]; Milisits, Schwerarbeits-verordnung – Ein Leitfaden für die Praxis 31; Teschner/Widlar/Pöltner in MGA-ASVG [APG] 96; vgl ErläutRV 653 BlgNR 22. GP 9: Die Anerkennung von Schwerarbeit soll nur jenen Versicherten offenstehen, die tatsächlich besonders belastender Schwerarbeit ausgesetzt waren). Schwerarbeit ist immer in Relation von Belastungs- zu Erholungsphasen zu betrachten, weil sich mit der Möglichkeit von Erholungsphasen zwischen einzelnen Tagen der Schwerarbeit die Belastung verringert (10 ObS 23/16d SSV-NF 30/30; RS0130803 [T1]).

[15] Diesen Grundsatz der tatsächlichen Belastung durch Schwerarbeit hat der Oberste Gerichtshof Freistellungsansprüche betreffend (lediglich) in der Entscheidung 10 ObS 96/10f SSV-NF 24/54 durchbrochen, indem er die Urlaubszeit eines LKW-Fahrers als Schwerarbeit qualifizierte, wenn der Versicherte – was noch zu prüfen
war – tatsächlich Schwerarbeit geleistet hätte. Hingegen lehnte er es zu 10 ObS 117/16b SSV-NF 30/82 ab, die Zeiten, in denen eine Diplom-Krankenschwester ausschließlich ihre Tätigkeit als freigestellte Zentralbetriebsrätin ausübte, bei der Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu berücksichtigen. Seiner Ansicht nach handelt es sich beim Urlaubsanspruch um einen verpflichtenden, der Erholung dienenden gesetzlichen Freistellungsanspruch, während die Entscheidung für ein Betriebsratsmandats freiwillig erfolgt. Ein weiterer Wertungsunterschied besteht auch im zeitlichen Ausmaß der Freistellung: fünf Wochen Urlaub gegen möglicherweise jahrelanges Erwerben von Schwerarbeitsmonaten während der Mandatsausübung.

[16] Im vorliegenden Fall verrichtet der Kläger nach dem fixen Dienstplan zwei 12-stündige Tagdienste, und unmittelbar anschließend an den zweiten Tagdienst einen Nachtdienst von 18:15 Uhr bis 6:45 Uhr. Dann folgen drei freie Tage, die der Erholung und dem Ausgleich der an den Vortagen geleisteten Schwerarbeit dienen. Diese regelmäßige dreitägige Erholungsphase reduziert bereits die aus der Schwerarbeit resultierende Belastung (vgl RS0130803 [T1]).

[17] Jene freie Tage, die als Zeitausgleich für geleistete Nachtdienste konsumiert werden, bei der Feststellung von Schwerarbeitszeit nach der SchwerarbeitsV zusätzlich einzubeziehen, widerspricht den Vorstellungen des Gesetzgebers, nur die tatsächliche Belastung mit Schwerarbeit durch einen Pensionsantritt vor Erreichen des Regelpensionsalters, und zwar mit einer günstigeren Abschlagsregelung (§ 607 Abs 14 ASVG) zu belohnen. Die SchwerarbeitsV enthält in § 1 Abs 1 Z 1 einen Spezialtatbestand für unregelmäßig geleistete Nachtarbeit. Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, jeden, auch regelmäßig geleisteten Nachtdienst als tatsächlich geleistete Schwerarbeit anzuerkennen, wäre eine entsprechende Regelung zu erwarten gewesen. Eine Doppelberücksichtigung von Nachtdiensten als Schwerarbeit nach den Tatbeständen der SchwerarbeitsV und zusätzlich nach anderen gesetzlichen Regelungen, die ganz allgemein die Belastung durch einen Nachtdienst in Form eines Zeitausgleich abgelten, war offenbar nicht beabsichtigt.

[18] Ergebnis: Die als Zeitausgleich für Nachtdienste gewährten „NSG-Tage“ sind aus diesen Erwägungen bei der Ermittlung von Schwerarbeitsmonaten nicht zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für den Zeitausgleich, den der Kläger für die Erbringung der Arbeitsleistung an einem Feiertag erhält („F-Tag“). Nach § 9 Abs 5 ArbeitsruheG (ARG) hat ein während der Feiertagsruhe Beschäftigter nur dann Anspruch auf erhöhtes Entgelt, wenn kein Zeitausgleich vereinbart wird. Dieser Zeitausgleich hat Entgelt- und nicht Erholungsfunktion. Er ist bezahlte Freistellung von der Arbeitszeit (RS0109976).

[19] Der Revision ist aus diesen Erwägungen nicht Folge zu geben.

[20] Anhaltspunkte für einen Kostenzuspruch nach § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG sind nicht ersichtlich.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00085.20B.0901.000

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