VfGH vom 07.10.1981, b70/81
Sammlungsnummer
9231
Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; keine gesetzliche Deckung der Fesselung des Beschwerdeführers an einen Baum in ArtII § 4 Abs 2 VÜG 1929 und im Waffengebrauchsgesetz 1969;
MRK; erniedrigende Behandlung iS des Art 3
Spruch
Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am in der Zeit von etwa 15.30 bis 15.35 Uhr in Wien 2, Rustenschacherallee gegenüber dem Haus Nr. 38, von einem Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Wien mit Handschellen an einen Baum gefesselt wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit und in jenem, nicht einer erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I.1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer sei am mit dem von ihm gelenkten PKW in Wien 2, Rustenschacherallee gegenüber dem Haus Nr. 38, an ein anderes Fahrzeug gestoßen; dadurch sei er (der Beschwerdeführer) erheblich verletzt worden. Der in der Folge intervenierende Sicherheitswachebeamte (SWB) K. S. habe ihn - anstatt ihm Hilfe zu leisten - mit Handschellen an einen Baum gefesselt, aus welcher Lage er erst nach Aufnahme des Verkehrsunfalles befreit worden sei.
Der Beschwerdeführer beantragt, kostenpflichtig festzustellen, daß er durch die geschilderte Amtshandlung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit und darauf, nicht einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden sei.
2. Die Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde gibt in ihrer Gegenschrift die behauptete Fesselung des Beschwerdeführers zu, rechtfertigt sie jedoch damit, daß der Beschwerdeführer alkoholisiert gewesen und wiederholt auf die Fahrbahn gelaufen sei, obgleich er vom einschreitenden SWB mehrmals aufgefordert worden sei, dies zu unterlassen. Durch das Verhalten des Beschwerdeführers habe er sich selbst gefährdet. Um diese Gefährdung zu verhindern, sei es notwendig gewesen, den Beschwerdeführer an einen Baum zu fesseln. Die belangte Behörde stützt die Amtshandlung auf ArtII § 4 Abs 2 VÜG 1929.
Sie beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
II.1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der Bundespolizeidirektion Wien, Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt Z Pst 229-L/81 (betreffend das - noch nicht abgeschlossene - Verwaltungsstrafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Verdachtes des Lenkens eines Kraftfahrzeuges in alkoholisiertem Zustand) und in den Akt des Strafbezirksgerichtes Wien AZ 1 U 226/81 (betreffend Strafsache gegen K. S. wegen § 303 StGB; das Verfahren wurde nach § 90 StPO eingestellt, jedoch hat der Beschwerdeführer einen - noch nicht erledigten - Antrag nach § 449 StPO eingebracht), sowie durch Einvernahme des Gruppeninspektors R. R., des Bezirksinspektors K. S. und des R. St. als Zeugen sowie des Beschwerdeführers als Partei.
Aufgrund dieser Beweismittel steht fest:
Der Beschwerdeführer verursachte am kurz nach 15.00 Uhr in Wien 2, Rustenschacherallee nächst dem Hause Nr. 38, mit seinem PKW einen Verkehrsunfall, bei dem er stark blutende Wunden im Gesicht erlitt.
Zwecks Aufnahme des Unfalles trafen gegen 15.20 Uhr mit einem Funkstreifenwagen die SWB R. R. und K. S. ein. S. entstieg dem Dienstwagen und wandte sich an den Beschwerdeführer. Als er dessen Verletzungen bemerkte, lehnte er ihn an einen Baum und beauftragte ihn, hier stehenzubleiben. Der Beamte begab sich auf die Fahrbahn, um die Spuren zu vermessen und die Beschädigungen an den beteiligten Fahrzeugen festzustellen. Der Beschwerdeführer kam dem Beamten nach und erklärte, "er müsse sich wehren". S. bot dem Beschwerdeführer an, im Funkwagen Platz zu nehmen, was dieser jedoch ablehnte. Trotz mehrmaliger Aufforderungen des Polizeibeamten, ruhig am Fahrbahnrand stehen zu bleiben, begab sich der Beschwerdeführer immer wieder auf die Fahrbahn, offenbar um mit dem SWB in ein Gespräch zu kommen. Ein Fahrzeug mußte scharf abbremsen, um den Beschwerdeführer nicht zu überfahren. Daraufhin fesselte Bez. Insp. S. den Beschwerdeführer mit den von ihm mitgeführten Handschellen derart an einen kleinen Baum, daß er mit dem einen Teil dessen linkes Handgelenk umschloß, während der andere Teil den dünnen Baumstamm umfaßte. In dieser Lage mußte der Beschwerdeführer etwa fünf Minuten verharren, während sich Bez. Insp. S. weiterhin mit der Aufnahme des Unfalles befaßte. Als der Rettungswagen des Arbeitersamariterbundes (Besatzung: der Zeuge R. St.) eintraf, holte Bez. Insp. S. aus dem Funkstreifenwagen den Schlüssel zur Handfessel, die schließlich von Gruppeninspektor R. geöffnet wurde.
2. Der VfGH folgt mit seinen Sachverhaltsfeststellungen in allen wesentlichen Punkten den übereinstimmenden Aussagen der beiden SWB. Der Beschwerdeführer selbst kann sich an die Vorgänge - offenbar auf Grund des erlittenen Schocks - nicht mehr erinnern. Er weiß nur zu berichten, es sei ihm dunkel im Gedächtnis, daß ihm die Handschellen, mit denen er an einen Baum gefesselt worden war, abgenommen wurden.
III.1. Der VfGH beurteilt den festgestellten Sachverhalt wie folgt:
Die Fesselung des Beschwerdeführers an einen Baum erfolgte durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien aus eigener Macht. Sie wurde in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durchgeführt. Diese Beschränkung der persönlichen Freiheit ist nach Art 144 Abs 1 B-VG beim VfGH bekämpfbar.
Aber nicht nur die Beschränkung der persönlichen Freiheit an sich, sondern auch die Art und Weise, wie diese erfolgte, ist beim VfGH nach dieser Verfassungsstelle anfechtbar (vgl. zB VfSlg. 8126/1977, 8146/1977 und 8296/1978).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2. Die belangte Behörde rechtfertigt die Amtshandlung unter Hinweis auf ArtII § 4 Abs 2 VÜG 1929. Sie erwähnt auch das WaffengebrauchsG 1969, BGBl. 149, allerdings nur im Zusammenhang damit, daß § 4 dieses Gesetzes den Gebrauch von Handfesseln vorsieht.
Da aber offenkundig keine der Voraussetzungen des § 2, unter denen ein Waffengebrauch nach den Bestimmungen des Waffengebrauchsgesetzes 1969 zulässig ist, vorliegt, kann dieses Gesetz die bekämpfte Amtshandlung von vornherein nicht decken. Dies hat die belangte Behörde in der mündlichen Verhandlung vor dem VfGH ausdrücklich zugestanden.
Aber auch die zitierte Bestimmung des VÜG 1929 rechtfertigt die Maßnahme nicht. Voraussetzung hiefür wäre gewesen, daß die Selbstgefährdung des Beschwerdeführers oder die Gefährdung der körperlichen Sicherheit anderer Personen (etwa der Benützer von Fahrzeugen) nur durch die Fesselung des Beschwerdeführers verhindert werden konnte, also andere Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ausgeschlossen waren. Davon kann aber hier keine Rede sein: So wäre es - wie das Beweisverfahren ergeben hat - Bez. Insp. S. jedenfalls möglich gewesen, den im Funkwagen verbliebenen Gruppeninspektor R. zu ersuchen, den Beschwerdeführer am Betreten der Fahrbahn zu hindern; R. wäre seinen eigenen Angaben zufolge hiezu in der Lage und bereit gewesen.
Die Fesselung an einen Baum war intentional auf eine allseitige Beschränkung der Bewegungsfreiheit des Beschwerdeführers gerichtet. Der Beschwerdeführer wurde also nicht etwa durch bloßes Festhalten am Arm nur am Betreten der Fahrbahn gehindert. Die getroffene Maßnahme hat ihn in seiner persönlichen Freiheit beschränkt; für sie findet sich keine gesetzliche Grundlage. Sie hat ihn daher im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
Dieses - in der Öffentlichkeit erfolgte - ungerechtfertigte Anbinden des Beschwerdeführers an einen Baum mit Handschellen stellt eine gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person, also eine erniedrigende Behandlung iS des Art 3 MRK, dar (vgl. VfSlg. 8654/1979 und die dort zitierte Vorjudikatur).