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VfGH vom 10.06.2003, b7/03

VfGH vom 10.06.2003, b7/03

Sammlungsnummer

16860

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung der funktionell unzuständigen Behörde - hier: der Landesberufungskommission - über ein Wiedereinsetzungsbegehren in erster und letzter Instanz

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für Gesundheit und Frauen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 1962,-- bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Arzt für Allgemeinmedizin in Oberösterreich.

2. Mit Schriftsatz vom stellte er bei der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich den Antrag auf Feststellung, daß Pkt. G.2.b. der Honorarordnung, wonach die Vertragsärzte der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse bei der OÖ Landesbank AG ein Pflichtkonto zu unterhalten haben, auf das die Gebietskrankenkasse das Vertragsarzthonorar zu überweisen hat, dem Beschwerdeführer gegenüber unwirksam ist.

Die paritätische Schiedskommission für Oberösterreich wies diesen Antrag mit Bescheid vom ab.

Der Beschwerdeführer erhob dagegen - mit Schriftsatz vom - Berufung an die Landesberufungskommission für Oberösterreich, die dieses Rechtsmittel mit Bescheid vom wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig zurückwies.

(Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde gemäß Art 144 B-VG hat der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 25. Feber 2003, B1638/02, als unbegründet abgewiesen.)

3. Mit Schriftsatz vom stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der zweiwöchigen Frist zur Erhebung einer Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid.

Mit Bescheid vom wies die Landesberufungskommission für Oberösterreich diesen Antrag als unbegründet ab.

4. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, worin die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs 2 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, aber keine Gegenschrift erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. § 344 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955 idgF, lautet - auszugsweise - wie folgt:

"Paritätische Schiedskommission

§344. (1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Antragsberechtigt im Verfahren vor dieser Behörde sind die Parteien des Einzelvertrages.

(2)-(3) ...

(4) Gegen einen Bescheid der paritätischen Schiedskommission kann Berufung an die Landesberufungskommission erhoben werden."

§ 345 Abs 2 ASVG lautet auszugsweise wie folgt:

"(2) Die Landesberufungskommission ist zuständig:

1. zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide der paritätischen Schiedskommission ...

2. ..."

Nach § 347 Abs 4 erster Satz ASVG haben (ua.) die paritätische Schiedskommission sowie die Landesberufungskommission das AVG anzuwenden, sofern das ASVG nicht anderes anordnet.

Nach § 63 Abs 5 AVG (idF des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 471/1995) ist die Berufung binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat.

§ 71 AVG lautet auszugsweise wie folgt:

"Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

§ 71. (1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer

mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:

1. die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, oder

2. die Partei die Rechtsmittelfrist versäumt hat, weil der Bescheid keine Rechtsmittelbelehrung, keine Rechtsmittelfrist oder fälschlich die Angabe enthält, daß kein Rechtsmittel zulässig sei.

(2) Der Antrag auf Wiedereinsetzung muß binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.

(3) Im Fall der Versäumung einer Frist hat die Partei die versäumte Handlung gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen.

(4) Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde berufen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war oder die die versäumte Verhandlung angeordnet oder die unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.

(5)-(7) ..."

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verletzt der Bescheid einer Verwaltungsbehörde das durch Art 83 Abs 2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

Ein solcher Fehler ist der belangten Behörde in der Tat anzulasten:

Der Beschwerdeführer hatte ausdrücklich die Wiedereinsetzung in die - versäumte - zweiwöchige Berufungsfrist des § 63 Abs 5 AVG (§347 Abs 6 ASVG) beantragt. Aus § 71 Abs 4 AVG (§347 Abs 6 ASVG) ergibt sich, daß über den Wiedereinsetzungsantrag jene Behörde zu befinden hat, "bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war". Als "versäumte Handlung" iS dieser Bestimmung ist im vorliegenden Fall die Erhebung der Berufung gegen den Bescheid der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich vom anzusehen. Nach § 63 Abs 5 AVG (§347 Abs 6 ASVG) ist die Berufung bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Da die Berufung demnach bei der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich einzubringen war, hätte auch diese Behörde über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist entscheiden müssen (vgl. zB ; , 98/01/0454; , 2001/11/0304; , 2001/03/0212).

Da statt dessen in erster (und letzter) Instanz die belangte Behörde (als funktionell unzuständige Behörde) über das Wiedereinsetzungsbegehren entschieden hat, verletzt der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Der Kostenspruch stützt sich auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.

4. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs 4 erster Satz VfGG).