OGH vom 22.05.2001, 10ObS84/01b
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Legner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Wolfgang D***** , im Revisionsverfahren nicht vertreten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 291/00y-36, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 23 Cgs 84/99g-30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
Spruch
gefasst:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Aufgrund des ablehnenden Bescheides der beklagten Partei vom begehrt der Kläger mit der vorliegenden Klage die Gewährung der Invaliditätspension.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Folgender wesentlicher Sachverhalt steht fest:
Der Kläger kann leichte und mittelschwere Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den übrigen Pausen leisten. Arbeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck sind möglich. Der Kläger ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Durchschnittliche motorische Mengenleistungen sind beidhändig nur grob motorisch möglich. Ausgeschlossen sind Arbeiten an erhöht exponierten Stellen (hohe Leitern und Gerüste). Der Kläger zittert nicht nur mit den Händen, sondern das Zittern ist am ganzen Körper auffällig und würde im Kundenverkehr bemerkt werden. Krankenstände sind nicht prognostizierbar. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung.
Seit ist der Kläger als Verkäufer in einer Schneiderei, in der auch Waren wie zB Nähzubehör und vom Dienstgeber hergestellte Textilien (zB Kinderbekleidung) verkauft werden, beschäftigt. Ihm obliegt die Lagerhaltung. er kontrolliert, ob Zubehör zu Ende geht und hat dies dem Dienstgeber mitzuteilen. Bei Lieferung von Zubehör ist es Aufgabe des Klägers zu überprüfen, ob es sich um die bestellte Ware handelt, ob die Menge stimmt und ob die Ware fehlerhaft ist. Das Einschlichten der Waren im Lager macht der Kläger. Ihm obliegt auch die Betreuung von Kunden. Weiters verkauft er Waren und ist berechtigt, Geld zu kassieren. Mitunter schneidet der Kläger auch Stoffe von Stoffballen. Die Preisauszeichnung wird nicht von ihm vorgenommen. Er wurde als Arbeiter angemeldet und ist seit 1986 mit 20 Wochenstunden beschäftigt. Seine Tätigkeit ist in die Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrages für Handelsangestellte einzuordnen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es für den Kläger keine Verweisungstätigkeit im Angestelltenbereich. Als Arbeiter könnte er auf die Tätigkeit eines Lagerarbeiters oder Reinigungsarbeiters verwiesen werden.
Das Erstgericht gab dem auf Gewährung einer Invaliditätspension ab gerichteten Klagebegehren statt. Der Kläger habe im Tatsächlichen die Tätigkeit eines Angestellten verrichtet und könne daher sein Anspruch auf Invaliditätspension nur nach § 273 ASVG beurteilt werden. Eine Verweisung auf eine Angestelltentätigkeit sei nicht mehr möglich, sodass sein Anspruch zu Recht bestünde.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge.
Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes, dass der Kläger die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten ausgeübt habe und sah die rechtliche Beurteilung durch das Erstgericht als zutreffend an (§ 500a ZPO).
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei, die geltend macht, dass gemäß § 86 Abs 3 Z 2 ASVG die Leistung nicht anfallen kann, weil der Kläger die Tätigkeit, aufgrund welcher er als invalid gilt, nicht aufgegeben habe. Die beklagte Partei stellt einen Aufhebungsantrag, hilfsweise einen Abänderungsantrag dahin, dass die dem Kläger zum Stichtag zustehende Invaliditätspension erst nach Aufgabe der Tätigkeit, aufgrund welcher er als invalid im Sinne des § 86 Abs 3 Z 2 ASVG gelte, zu gewähren sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Vor der 51. Novelle zum ASVG (BGBl 1993/335) war Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 ASVG für die Gewährung der Invaliditätspension, dass der Versicherte grundsätzlich weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig ist (SSV-NF 7/9, 12/43; 10 ObS 69/00w). Ein Anspruch auf Invaliditätspension konnte bei Erwerbstätigkeit sohin weder entstehen noch anfallen (SSV-NF 7/9).
Durch die genannte Novelle wurden die Bestimmungen über die Invaliditätspension unter anderem dahingehend abgeändert, dass die früher in § 254 Abs 1 ASVG genannte Anspruchsvoraussetzung, das Fehlen einer Pflichtversicherung am Stichtag, beseitigt wurde. Gleichfalls aufgehoben wurde § 255a ASVG, wonach bei Bestehen einer Pflichtversicherung, die einer Zuerkennung einer Invaliditätspension entgegengestanden wäre, ein Antrag auf Feststellung der Invalidität gestellt werden konnte. Dem lag zugrunde, dass die bisherigen Bestimmungen die Lösung des Problems, dass ein Anspruch auf eine Leistung unabhängig von einem weiter erzielten Erwerbseinkommen bei Eintritt des Versicherungsfalles sowohl dem Versicherungs- als auch dem Sozialprinzip widersprachen, nicht ausreichend herbeiführten und Umgehungen möglich waren. Durch die Pensionsreform sollte der Gedanke der Ersatzfunktion der Pension für das weggefallene Erwerbseinkommen stärker zum Ausdruck gebracht werden. Bestimmte Leistungsteile sollten nur bei Nichtvorhandensein von Erwerbseinkommen gebühren. Durchgesetzt wurde dieser Gedanke durch die Änderung der Bemessungsvorschriften des zum hier maßgeblichen Stichtag geltenden § 261a ASVG, wonach die Höhe des Zurechnungszuschlages unter Berücksichtigung eines allfälligen Erwerbseinkommens zu ermitteln war. Damit erübrigten sich aber die bisherigen Vorschriften über die Versicherungspflicht am Stichtag und die Feststellung der Invalidität (932 BlgNR 18. GP 35, 48). Eine Pflichtversicherung am Stichtag stand daher der Gewährung einer Invaliditätspension nicht mehr im Wege (Teschner/Widlar ASVG 68. ErgLfg 1298/26).
Zur Vermeidung von Missbräuchen wurde durch das Strukturanpassungsgesetz 1996 (BGBl 1996/201) zur Verhinderung, dass neben dem Bezug einer Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit die bisherige Tätigkeit weiter ausgeübt wird, was ja dem Zweck einer Invaliditätspension entgegenstand, die Regelung des § 86 Abs 3 Z 2 ASVG eingeführt, dass für den Anfall einer Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit zusätzlich die Aufgabe der Tätigkeit, aufgrund welcher der Versicherte als invalid gilt, erforderlich ist (72 BlgNR 20. GP, 247).
Der Anspruch auf eine Leistung entsteht mit dem Zusammentreffen aller vom Gesetz geforderten materiellrechtlichen Voraussetzungen. Das damit begründete Leistungsverhältnis ist Ausgangspunkt für die Gewährung einer Leistung, wozu es noch der Festlegung bedarf, ab welchem Zeitpunkt diese Leistung zusteht. Dieser Zeitpunkt ist der Leistungsanfall. Soweit nichts anderes bestimmt ist, fallen die Leistungen mit dem Entstehen des Anspruches an (SSV-NF 7/8). Im vorliegenden Fall ist zum maßgeblichen Stichtag als Anspruchsvoraussetzung für den Anfall der Invaliditätspension die Aufgabe der Erwerbstätigkeit normiert. Erst der Anfall schafft mit der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen die Grundlage für einen Leistungszuspruch. Ein Urteil nur über einzelne Anspruchsvoraussetzungen, hier über die Invalidität, wäre unzulässig (Fink ASGG, 521). Eine solche Entscheidung über das Bestehen der Invalidität entsprechend dem aufgehobenen § 255a ASVG ist nicht möglich, weil hiefür keine rechtliche Grundlage besteht.
Während hier der Wegfall der Erwerbstätigkeit als Voraussetzung für den Zuspruch der Leistung angeführt ist, ist in § 253d ASVG dieser Umstand als ein nur über Einwendung wahrzunehmendes Auszahlungshindernis qualifiziert, das den Anspruch auf Leistung und deren Zuspruch nicht verhindert, jedoch zum Wegfall der Pension führt (SSV-NF 12/53; 10 ObS 129/99i). Der Regelungsgegenstand ist hier ein anderer, sodass die zu § 253d ASVG ergangene Rechtsprechung nicht angewendet werden kann.
Einer Abänderung des Urteils der Vorinstanzen im Sinne einer Klageabweisung steht jedoch im Wege, dass - sieht man davon ab, dass die Feststellungen über die Tätigkeit des Klägers in den Urteilen der Vorinstanzen im Präsens wiedergegeben werden, eine dezidierte Aussage, ob das Dienstverhältnis des Klägers noch aufrecht besteht, nicht vorliegt.
Es liegen daher Feststellungsmängel vor, die zur Aufhebung des Urteils der Vorinstanzen führen müssen.