VfGH vom 19.02.2016, E992/2015

VfGH vom 19.02.2016, E992/2015

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Asylantrags infolge Abstellens auf eine Verfolgungsgefahr im Zeitpunkt der Entscheidung des BAA und mangels aktueller Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Somalia

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am Tag der Antragstellung durchgeführten Erstbefragung gab er zu Protokoll, dass er seinen Herkunftsstaat wegen der dortigen allgemeinen Situation verlassen habe; außerdem hätten die Al Shabaab-Islamisten seinen Bruder ******* im Jahre 2008 erschossen. Da sich seine Eltern daraufhin Sorgen um den Beschwerdeführer gemacht hätten, habe er Somalia schließlich verlassen. Probleme mit den Behörden in Somalia habe der Beschwerdeführer nicht gehabt. Auch sei er zu keiner Zeit politisch tätig gewesen.

2. Im Rahmen des durchgeführten erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens wurden dem Antragssteller aktuelle Länderinformationen zu Somalia und insbesondere zu seinem Herkunftsort Mogadischu vorgehalten. In weiterer Folge wies das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) mit Bescheid vom den Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) als auch bezüglich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG 2005 ab und wies den Beschwerdeführer nach Somalia aus. Begründend führte das BAA aus, dass sich der Beschwerdeführer ausschließlich auf die Erschießung seines Bruders im Jahr 2008 bezogen habe, jedoch keine aktuellen, auf seine Person bezogenen Verfolgungshandlungen vorgebracht habe.

3. Dagegen erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde an den Asylgerichtshof. Er wiederholte darin weitgehend sein bisheriges Vorbringen, brachte unter anderem aber auch vor, dass eine wesentliche Verbesserung der Sicherheitsverhältnisse in Mogadischu – wie sie im angefochtenen Bescheid festgestellt worden sei – tatsächlichen Gegebenheiten nicht entspreche.

4. Mit Erkenntnis vom wies das zwischenzeitig zuständig gewordene Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis erteilt.

4.1. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass auch nach seinen Feststellungen eine aktuelle Verfolgungsgefahr nicht gegeben sei. Dabei führte es zur Lage im Herkunftsstaat zunächst wie folgt aus:

"Die von der belangten Behörde im gegenständlich angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den von ihr in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes, bezogen auf den erwähnten Betrachtungszeitraum das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellen ergibt."

"Den vorliegenden Länderdokumentationsunterlagen ist bezogen auf den relevanten Zeitraum entnehmbar, dass [seitens] der Al Shabaab Milizen zum vormaligen Zeitpunkt generell an männliche Bürger die Aufforderung ergangen ist, sich ihnen anzuschließen."

Daran anschließend führte das Bundesverwaltungsgericht zur Frage der aktuellen Verfolgungsgefahr Folgendes aus:

"Beweiswürdigend wird ausgeführt, dass der Einordnung des Sachverhaltes durch die Behörde erster Instanz insofern nicht entgegenzutreten ist, als diese auf Grund vorliegender Länderdokumentationsunterlagen ein Risiko von Seiten Angehöriger der Al Shabaab Miliz in Mogadishu selbst massiver Verfolgung ausgesetzt zu werden, als wenig wahrscheinlich bzw. als inexistent beurteilt wird. Das Bundesasylamt hat sich zum Entscheidungszeitpunkt auf aktuelle Quellen bezogen, wonach auf Grund eines Einsatzes internationaler Sicherheitstruppen zumindest für den Großraum Mogadishu ein solches Risiko als minimal erkannt werden kann.

Die vom Beschwerdeführer im Verfahren geltend gemachte Verfolgungsgefahr durch Al Shabaab ist nicht mehr aktuell und kann daher die Asylgewährung nicht indizieren".

4.2. Allerdings sei der Beschwerdeführer angesichts der anhaltend instabilen und prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage in Somalia im Falle einer Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen Behandlung iSd Art 3 EMRK ausgesetzt.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung behauptet wird. Nach dem Beschwerdevorbringen habe das Bundesverwaltungsgericht insbesondere verkannt, dass die zentrale Frage des vorliegenden Verfahrens nicht etwa sei, ob der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung gehabt habe, sondern, ob eine Verfolgungsgefahr auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts fortbestehe. Zu dieser Frage würden jedoch aktuelle Ermittlungen, Sachverhaltsfeststellungen und eine nachvollziehbare Beweiswürdigung fehlen, weshalb das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Erkenntnis das Willkürverbot verletze.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist im Ergebnis begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 5.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht im konkreten Fall unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt im angefochtenen Erkenntnis hinsichtlich der Frage, ob eine asylbegründende Verfolgungsgefahr bzw. eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BAA ab. So führt das Bundesverwaltungsgericht zunächst aus, dass dem BAA nicht entgegenzutreten sei, wenn es auf Grund damals vorliegender Länderdokumentationsunterlagen ein Risiko, durch die Al Shabaab Miliz verfolgt zu werden, als wenig wahrscheinlich beurteilt hat. Denn das BAA habe sich "zum Entscheidungszeitpunkt" auf aktuelle Quellen bezogen, wonach auf Grund eines Einsatzes internationaler Sicherheitstruppen zumindest für den Großraum Mogadischu ein solches Risiko als minimal erkannt werden könne. Ferner stellt das Bundesverwaltungsgericht an späterer Stelle fest, dass den vorliegenden Länderdokumentationsunterlagen "bezogen auf den relevanten Zeitraum" zwar entnehmbar sei, dass seitens der Al Shabaab Milizen zum vormaligen Zeitpunkt generell an männliche Bürger die Aufforderung ergangen sei, sich ihnen anzuschließen. Die bestehende Gewaltbereitschaft bzw. bürgerkriegsähnlichen Zustände und Selbstmordanschläge könnten jedoch – ohne Hinzutreten weiterer aktueller individueller Risikofaktoren – nicht unter das Verfolgungskalkül der Genfer Flüchtlingskonvention subsumiert werden.

3.2. Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (s. dazu etwa mwN ).

3.3. Auch nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine bereits erlittene Verfolgung keine Voraussetzung für die Asylgewährung. Maßgeblich ist vielmehr die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht im Sinne einer Prognoseentscheidung (vgl. dazu etwa schon VfSlg 19.086/2010; ).

3.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis ausschließlich auf die Verfolgungsgefahr im Entscheidungszeitpunkt des BAA am , nicht jedoch darauf abstellt, ob der Beschwerdeführer im Hinblick auf die derzeitige Situation eine Verfolgung im Herkunftsstaat zu erwarten hat, hat es die Rechtslage grob verkannt.

3.5. Das angefochtene Erkenntnis enthält überdies keine hinreichend aktuellen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers. Das Bundesverwaltungsgericht stützte sich vielmehr auf die "in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen", die jedoch überwiegend aus dem Jahr 2011 stammen und daher im Zeitpunkt des hier angefochtenen Erkenntnisses bereits vier Jahre alt waren (vgl. zu drei Jahre alten Länderfeststellungen betreffend Somalia). Das Erkenntnis selbst enthält damit keine hinreichend aktuellen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers.

3.6. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl. etwa VfSlg 19.466/2011; ; ferner , U2557/2012; , U1159/2012 sowie zuletzt , E1542/2014).

3.7. Vor diesem Hintergrund ist dem Verfassungsgerichtshof eine nachprüfende Kontrolle des angefochtenen Erkenntnisses zur Frage, ob der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung in Somalia erlitten hat, nicht möglich (vgl. auch VfSlg 19.235/2010).

4. Folglich ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:E992.2015