VfGH vom 05.03.2008, b61/08
Sammlungsnummer
18393
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung von Fremden wegen unrechtmäßigen Aufenthalts aufgrund unzureichender Interessenabwägung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger,
reiste im April 2002 legal in das Bundesgebiet ein. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Steyr vom wurde aufgrund einer Scheinehe ein auf sechs Jahre befristetes Aufenthaltsverbot über ihn verhängt; die Ehe wurde mittlerweile geschieden. Mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom wurde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid mit der Maßgabe der Herabsetzung der Aufenthaltsverbotsdauer auf fünf Jahre bestätigt.
Dagegen erhob der nunmehrige Beschwerdeführer Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof, der den angefochtenen Bescheid - nach Aussetzung des Verfahrens bis zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom , Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - mit Erkenntnis vom , 2005/18/0357, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufhob.
Mit (Ersatz-)Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom wurde der Berufung des Beschwerdeführers Folge gegeben und das Aufenthaltsverbot aufgehoben. Begründend wurde insbesondere ausgeführt, dass das rechtswidrige Verhalten des Beschwerdeführers bereits mehr als vier Jahre zurück liege. Da er - abgesehen von der Scheinehe - keine strafbaren Handlungen begangen habe und der Zeitraum, in dem er sich wohl verhalten habe, bereits sehr lange andauere, sei die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nicht mehr dringend geboten. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung würden die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme daher nicht schwerer wiegen als die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers.
1.2. Der Beschwerdeführer lebt derzeit im gemeinsamen Haushalt mit seiner österreichischen Lebensgefährtin und ihrer gemeinsamen Tochter, die am geboren wurde; laut Beschwerdevorbringen erwartet seine Lebensgefährtin, mit der er verlobt ist, ein weiteres Kind. Seit 2004 geht der Beschwerdeführer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach und bestreitet den Lebensunterhalt für die Familie.
2.1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Steyr vom wurde der Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
2.2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom keine Folge gegeben. Darin führt die belangte Behörde zunächst aus, dass sich der Beschwerdeführer unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Seit dem Jahr 2002 lebe er in Österreich und gehe einer Erwerbstätigkeit nach. Überdies habe er mit seiner österreichischen Lebensgefährtin ein gemeinsames Kind. Die Ausweisung bewirke somit einen erheblichen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers iSd § 66 Abs 1 FPG, der aber zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend notwendig sei.
Die öffentliche Ordnung werde schwerwiegend beeinträchtigt, wenn sich einwanderungswillige Fremde unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. In solchen Fällen sei die Ausweisung erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte. Im Ergebnis überwiege daher das dem Beschwerdeführer vorwerfbare (Fehl-)Verhalten gegenüber der von ihm geltend gemachten Integration im Bundesgebiet, zumal er seinen Aufenthalt in Österreich anfänglich mittels einer Scheinehe begründet habe, sein Aufenthalt derzeit rechtswidrig sei und der Aufenthalt vom Inland aus nicht legalisiert werden könne. Die vom Beschwerdeführer geäußerte Absicht, seine Lebensgefährtin in Kürze zu heiraten, stelle lediglich ein zukünftiges und ungewisses Ereignis dar.
3. Die Beschwerde behauptet die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Begründend wird insbesondere ausgeführt, dass die belangte Behörde im Hinblick auf den langjährigen Aufenthalt und die strafrechtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers sowie seine private und berufliche Integration eine unzureichende Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK durchgeführt habe. Im Falle seiner Ausreise wäre er an der Führung eines Familienlebens mit seiner schwangeren Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter gehindert. Die Familie sei zudem auf sein Einkommen angewiesen.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige -
Beschwerde erwogen:
1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§53 Abs 1 und 66 Abs 1 FPG wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch nicht entstanden.
2. Der belangten Behörde ist allerdings ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen.
2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , B328/07, dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.
2.2. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde vorgenommene - formelhafte - Abwägung iSd Art 8 EMRK als unzureichend:
Vorauszuschicken ist, dass die Behörde die Ausweisung - unter Beachtung des § 66 Abs 1 FPG - zutreffend auf § 53 Abs 1 FPG gestützt hat.
Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber gestellt, jedoch keine - im Lichte der zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Interessenabwägung durchgeführt.
2.3. Dem Beschwerdeführer wurde von der belangten Behörde angesichts seiner persönlichen Verhältnisse zwar das Bestehen eines Familienlebens und eine gewisse Integration in Österreich zugestanden; die Behörde misst allerdings der mit der Ausweisung verbundenen Trennung des Beschwerdeführers von seiner (derzeit schwangeren) Verlobten und ihrer minderjährigen Tochter - ungeachtet ihrer wechselseitigen intensiven Bindungen - keine entscheidungswesentliche Bedeutung bei. So gelangte sie - nach einer Aneinanderreihung allgemeiner Ausführungen über ein "geordnetes Fremdenwesen" und ohne weitere Überlegungen zur Situation des Beschwerdeführers anzustellen - zur Auffassung, dass das dem Beschwerdeführer vorwerfbare (Fehl-)Verhalten angesichts des Umstandes, dass er seinen Aufenthalt in Österreich anfänglich mittels einer Scheinehe begründet habe, sein Aufenthalt derzeit rechtswidrig sei und der Aufenthalt vom Inland aus nicht legalisiert werden könne, gegenüber der von ihm geltend gemachten Integration im Bundesgebiet überwiege.
Dies ungeachtet des Umstandes, dass die belangte Behörde bereits in ihrem Bescheid vom , mit dem das über den Beschwerdeführer verhängte Aufenthaltsverbot aufgehoben wurde, die Auffassung vertrat, dass bei der vorzunehmenden Interessenabwägung die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht schwerer wiegen würden als die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers.
2.4. Die - für den Verfassungsgerichtshof mit Blick auf die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht nachvollziehbare - Schlussfolgerung der Behörde, dass der illegale Aufenthalt des (im Übrigen strafrechtlich unbescholtenen) Beschwerdeführers die öffentliche Ordnung schwerwiegend beeinträchtige, vermag eine konkrete Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Ausweisung auf sein Privat- und Familienleben jedenfalls nicht zu ersetzen.
3. Dadurch, dass die Behörde auf die Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, wurde dieser in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- sowie der Ersatz der gemäß § 17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Fundstelle(n):
CAAAE-14376