VfGH vom 24.11.2017, E86/2017 ua
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Bulgariens sowie Anordnung der Außerlandesbringung mangels Heranziehung und Würdigung aktuellen Berichtsmaterials zur neu entstandenen Versorgungssituation von Asylwerbern in Bulgarien
Spruch
I.Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige des Irak. Die Erst- und Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin (Drittbeschwerdeführerin geboren im Jahr 2014). Am stellten sie Anträge auf internationalen Schutz. Ausweislich einer EURODAC-Registerauskunft waren sie zuvor in Bulgarien erkennungsdienstlich behandelt worden und hatten dort am Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
Am richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein auf Art 18 Abs 1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Ersuchen auf Wiederaufnahme der Beschwerdeführer in Bulgarien. Mit Schreiben vom erklärten sich die bulgarischen Behörden zur Wiederaufnahme bereit.
2.Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – ohne in die Sache einzutreten – die Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig zurück und sprach aus, dass Bulgarien zur Prüfung der Anträge zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung nach Bulgarien zulässig sei.
3.Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der nunmehrigen Beschwerdeführer wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom ab. Aus den – bereits im Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl enthaltenen und auch im Erkenntnis gekürzt abgedruckten – Feststellungen zur Lage in Bulgarien geht hinsichtlich der Unterbringung von Asylwerbern u.a. Folgendes hervor:
"Die Unterbringungsbedingungen sind Berichten zufolge nicht zufriedenstellend, da sie sich nach Verbesserung 2014 im Laufe des Jahres 2015 wieder verschlechtert haben. Es gibt in den Zentren zwei Mahlzeiten am Tag, außer für Kinder unter 18 Jahren, welche drei Mahlzeiten erhalten. Es gibt aber Kritik bezüglich Regelmäßigkeit und Qualität der Verpflegung (AIDA 10.2015; vgl. ECRE/ELENA 2.2016).
[...]
Es gibt weiterhin Bedenken bezüglich der Unterbringungsbedingungen von AW, vor allem betreffend Verpflegung, Unterbringung und medizinische Versorgung (AI )."
Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Abweisung der Beschwerde insbesondere damit, dass nicht erkannt werden könne, dass auf Grund der bulgarischen Rechtslage und/oder Vollzugspraxis systematische Verletzungen von Rechten gemäß der EMRK erfolgen würden. Betreffend die Versorgungslage führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus:
"Hervorzuheben ist, dass die in UNHCR-Berichten vom Jänner und Februar 2014 empfohlene Aussetzung von Rückführungen nach Bulgarien nicht mehr aktuell ist. Den Länderfeststellungen zufolge – insbesondere basierend auf dem UNHCR-Update-Bericht vom April 2014 – wird eine vormals ausgesprochene Anregung einer generellen Suspendierung von Dublin-Überstellungen nicht mehr aufrechterhalten. Allenfalls zu beachtende, hinzutretende Risikoelemente betreffend unbegleitete Minderjährige oder besonders vulnerable Personen oder Personengruppen liegen bei den Beschwerdeführern nicht vor. Weiters sind diese weder besonders schutz- noch pflegebedürftig und [leiden] an keinen schwerwiegenden Krankheiten oder gesundheitlichen Beschwerden.
Letztlich ergibt sich gerade aus dem in der Beschwerde zitierten Abschnitt des Berichtes von ECRE vom , dass Familien mit Kindern in Bulgarien die einzige Gruppe von Dublin-[Rückkehrenden] seien, welche auch tatsächlich von den Behörden registriert und versorgt werden und Zugang zu einem Asylverfahren erhalten. Eine maßgebend wahrscheinliche Bedrohungssituation für die Beschwerdeführer ergibt sich auch nicht aus dem an [anderer] Stelle der Beschwerde – unvollständig – zitierten Abschnitt aus den Länderfeststellungen betreffend Dublin-Rückkehrende, der ebenfalls aus dem Bericht von ECRE vom beruht: Bei vollständiger Betrachtung dieses Abschnittes ist zu ersehen, dass Vulnerable vom Ausschluss der Folgeantragsteller während der Zulässigkeitsprüfung ihres Folgeantrages vom Recht auf Unterbringung, Sozialhilfe, Krankenversorgung und psychologische Hilfe ausgenommen sind. Im Zusammenhang mit dem aus den Feststellungen ersichtlichen Umstand, dass das bulgarische Asylgesetz auch Kinder zu vulnerablen Gruppen [zählt], ist ersichtlich dass eine Bedrohung der Beschwerdeführer nicht gegeben ist."
4.Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art 144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend führen die Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht auf das zur Beurteilung der Situation von Asylwerbern in Bulgarien herangezogene Berichtsmaterial eingegangen sei.
5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1.Die Entscheidung, einen Fremden auszuweisen oder in anderer Form außer Landes zu schaffen, kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
2.2.Dies gilt – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 3 Abs 2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO – auch dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß Dublin III-VO für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrages zuständig ist. Insofern muss geprüft werden, ob es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, den zur Beurteilung der Verpflichtung zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und zu würdigen (vgl. VfSlg 19.264/2010, 19.794/2013, 19.878/2014, 20.021/2015). Zur Situation von vulnerablen Personen hat der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach die Bedeutung der zur Versorgungslage besonders schutzwürdiger Personen getroffenen Länderfeststellungen hervorgehoben (vgl. ua. und E1622/2015 ua.).
2.3.Vor diesem Hintergrund hat es das Bundesverwaltungsgericht aber in entscheidungswesentlichen Punkten unterlassen, nähere Ermittlungen anzustellen und sich mit der aktuellen Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien auseinanderzusetzen:
2.3.1.Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seiner Entscheidung neben Ausführungen zur Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien auch Feststellungen zur dortigen Rechtslage und Vollzugspraxis von asyl- und fremdenrechtlichen Bestimmungen (darunter konkret auch im Hinblick auf Rückkehrer nach der Dublin III-VO) samt dem jeweiligen Rechtsschutz im Rechtsmittelweg getroffen habe, wobei aktuelle Stellungnahmen von UNHCR in die Erwägungen eingeflossen seien.
Zur Kritik in der Beschwerde, die Länderfeststellungen würden sich nur auf einseitige Quellen stützen, sei auszuführen, dass sich den Quellenangaben im angefochtenen Bescheid eindeutig entnehmen ließe, dass sich die Feststellungen nicht ausschließlich auf staatliche Quellen gründeten. In den Länderfeststellungen sei ein Bericht von Amnesty lnternational mit einbezogen worden, sodass von einer Unausgewogenheit der Quellen nicht gesprochen könne.
Hervorzuheben sei, dass die in UNHCR-Berichten vom Jänner und Februar 2014 empfohlene Aussetzung von Rückführungen nach Bulgarien nicht mehr aktuell sei. Den Länderfeststellungen zufolge – insbesondere basierend auf dem UNHCR-Update-Bericht vom April 2014 – werde eine vormals ausgesprochene Anregung einer generellen Suspendierung von Dublin-Überstellungen nicht mehr aufrechterhalten. Allenfalls zu beachtende, hinzutretende Risikoelemente betreffend unbegleitete Minderjährige oder besonders vulnerable Personen oder Personengruppen lägen bei den Beschwerdeführern nicht vor.
2.3.2.Diese Annahmen stehen jedoch im Gegensatz zu den im Erkenntnis nur gekürzt wiedergegebenen Länderfeststellungen: Diesen zufolge hätten sich die Unterbringungsbedingungen im Laufe des Jahres 2015 wieder verschlechtert und seien nicht zufriedenstellend (vgl. zB AIDA, National Country Report Bulgaria [10.2015]; ECRE/ELENA, Research Note: Reception conditions, detention and procedural safeguards for asylum seekers and content of international protection status in Bulgaria [2.2016]; AI, Amnesty International Report 2015/16 – Bulgaria []; aus diesen ergibt sich u.a. die "Vervierfachung der Zahl von Flüchtlingen und Migranten" im Jahr 2015 im Vergleich zur spürbaren Abnahme der Ankünfte im Jahr 2014 [AI, ]; es wird auf nicht zufriedenstellende Unterbringungsbedingungen hingewiesen und es werden Bedenken hinsichtlich der Verpflegung und medizinischen Versorgung geäußert [AIDA, 10.2015; ECRE/ELENA, 2.2016; AI, ]). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in der rechtlichen Beurteilung jedoch nicht mit diesen Feststellungen zur Versorgungslage auseinandergesetzt (vgl. zum Widerspruch zwischen rechtlicher Beurteilung und Länderfeststellungen ). Im Übrigen ist auf den mittlerweile ergangenen Bericht des UNHCR vom (Bulgaria: UNHCR concerned about calls for expulsions following tensions at overcrowded and substandard reception centre for asylum-seekers) der ebenfalls die Verschlechterung der Versorgungslage in Bulgarien aufzeigt, zu verweisen (vgl. dazu auch ).
2.3.3.Da es das Bundesverwaltungsgericht – vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit einem dreijährigen Kind (Drittbeschwerdeführerin geboren im Jahr 2014) handelt – unterlassen hat, das zum Entscheidungszeitpunkt vorgelegene Berichtsmaterial zum bulgarischen Asylsystem, das die für Asylwerber in Bulgarien neu entstandene Versorgungssituation berücksichtigt hätte, in der rechtlichen Beurteilung der Entscheidung heranzuziehen und zu würdigen, ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl. VfSlg 19.878/2014, 20.021/2015).
III.Ergebnis
1.Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG.
5.Da die verzeichneten Kosten in Summe die regelmäßig anfallenden Kosten nicht erreichen (ein Streitgenossenzuschlag gemäß § 15 RATG wurde nicht verzeichnet), sind jedenfalls – in Summe – € 2.616,– an Kostenersatz zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießen.
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2017:E86.2017 |
Schlagworte: | Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, EU-Recht |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.