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VfGH vom 09.06.2017, E832/2017

VfGH vom 09.06.2017, E832/2017

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags eines afghanischen Staatsangehörigen auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung wegen Unterlassens jeglicher Ermittlungstätigkeit zur (entscheidungsrelevanten) Frage einer allfälligen asylrelevanten Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban infolge der publizistischen Tätigkeit seines Vaters; bereits vor Verlassen des Herkunftsstaates gesetzte Verfolgungshandlungen keine Voraussetzung für Asylgewährung

Spruch

I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.Der Beschwerdeführer, ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriger afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) gab der Beschwerdeführer als Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass sein Vater von den Taliban getötet worden sei, weil er über viele Jahre in diversen Zeitungen Artikel gegen die Taliban veröffentlicht habe. Nach der Ermordung des Vaters im Jahr 2013 seien der Beschwerdeführer, seine Mutter und sein Bruder aus Kabul weggezogen und es sei von der Mutter und dem Bruder entschieden worden, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen solle, weil sein Leben in Gefahr sei. Der Beschwerdeführer habe von den Problemen seines Vaters zu dessen Lebzeiten nichts mitbekommen, weil dieser ihm darüber nichts erzählt habe. Er habe persönlich keine Probleme gehabt und sich zu Lebzeiten seines Vaters stets sicher gefühlt.

2.Mit Bescheid des BFA vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Asylstatus abgewiesen, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuerkannt, ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei; für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt. Zusammengefasst führte das BFA zum Fluchtvorbringen begründend aus, dass es zum Teil widersprüchlich, zu vage, nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft sei.

3.Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer in vollem Umfang Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Der Beschwerde war eine eidesstattliche Erklärung des Großcousins des Beschwerdeführers angeschlossen, in der dieser – auf das Wesentliche zusammengefasst – umfangreiche Angaben zur Tätigkeit des Getöteten, zum familiären Umfeld, zu seinem Kontakt mit ihm, zu den Geschehnissen im Zusammenhang mit der Flucht und zum Bescheid des BFA machte sowie angab, dass die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers mittlerweile getötet worden seien.

4.Im Hinblick auf die Entscheidung betreffend die Zuerkennung subsidiären Schutzes beauftragte das Bundesverwaltungsgericht auf Grundlage und unter Bekanntgabe des wesentlichen Inhaltes der Angaben des Beschwerdeführers und dessen Großcousins einen Vertrauensanwalt mit der Erhebung des aktuellen Aufenthaltsortes der Mutter und des Bruders des Beschwerdeführers. Darüber hinausgehende Erhebungen im Herkunftsstaat wurden vom Bundesverwaltungsgericht nicht veranlasst; insbesondere erteilte das Bundesverwaltungsgericht keinen Auftrag, Erhebungen im Herkunftsstaat in Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, unter Berücksichtigung der publizistischen Tätigkeit und Ermordung des Vaters, durchzuführen. Im Anschluss an die Erhebungen führte das Bundesverwaltungsgericht am eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, bei der der Beschwerdeführer u.a. auch mit den Ermittlungsergebnissen des Vertrauensanwaltes – die gemachten Angaben seien falsch bzw. erfunden und würden mit den tatsächlichen Fakten nicht übereinstimmen, insbesondere seien die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Adresse in Kabul und einer anderen Stadt absolut unwahr und seien auch die Mutter und der Bruder nicht ermordet worden – konfrontiert und zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.

5.Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA zur Gänze ab. Im Wesentlichen wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wie folgt begründet:

"Feststellungen (Sachverhalt):

[…] Feststellungen zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist volljährig, nennt sich […], ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur muslimischen Glaubensrichtung. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Der Beschwerdeführer stammt aus der Hauptstadt Kabul, wo auch eine Tante des Beschwerdeführers mütterlicherseits lebt. Der Beschwerdeführer war zudem vor seiner Ausreise fünf Monate in Mazar-e-Sharif und ein Monat in Heyratan aufhältig.

Der Beschwerdeführer ist gesund und erlangte einen Pflichtschulabschluss in Österreich. Der Beschwerdeführer besucht seit September 2016 eine HTL. Er verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1.

Der Vater des Beschwerdeführers war als Journalist und Händler tätig. Von ihm wurden ua Berichte gegen die Taliban publiziert. Der Vater des Beschwerdeführers wurde aufgrund der Veröffentlichung dieser Artikel von den Taliban mit dem Tode bedroht und schlussendlich getötet. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt persönlich bedroht bzw. in Afghanistan einer Verfolgungshandlung ausgesetzt.

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden, dass dieser in Afghanistan aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ist der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.

[…]

[…] Beweiswürdigung:

[…]

[…] Zur Person des Beschwerdeführers:

[…]

[…] Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen hinsichtlich der Gründe des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom Beschwerdeführer in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, vor der belangten Behörde und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes getroffenen Aussagen.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe widersprechen sich zwar nicht, weder in der behördlichen Einvernahme noch in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, und erscheinen daher weder unglaubwürdig noch konstruiert, jedoch entsprechen sie nicht den Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl, da den Aussagen des Beschwerdeführers kein Vorbringen entnommen werden kann, welches eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen würde.

[…]

[…] Rechtliche Beurteilung:

[…]

[…] Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

[…]

[…] Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

Der Beschwerdeführer brachte als fluchtauslösende Ereignisse im Wesentlichen vor, dass die Taliban den Vater des Beschwerdeführers umgebracht hätten und der Beschwerdeführer deshalb mit seiner Mutter und seinem Bruder dort nicht mehr habe leben können […].

Im konkreten Fall könnte ein asylrelevanter Anknüpfungspunkt an die GFK daher auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gestützt werden; konkret auf die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe 'Familie' […].

Mit dem Vorbringen einer allfälligen sich auf den Beschwerdeführer durchschlagenden Bedrohungssituation des Vaters des Beschwerdeführers in Bezug auf dessen Tätigkeit als Journalist, vermag der Beschwerdeführer in dieser Hinsicht jedoch nichts zu gewinnen:

Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. die Erkenntnisse vom , ZI 2002/20/0165, sowie vom , ZI 98/20/0330) können Verfolgungshandlungen gegen Verwandte eine Ursache für begründete Furcht vor Verfolgung bilden. Diese Form der 'stellvertretenden' (oder – in anderen Fällen – zusätzlichen) Inanspruchnahme für ein Familienmitglied entspricht dem Modell des – oft als 'Sippenhaftung' bezeichneten – 'Durchschlagens' der Verfolgung eines Angehörigen auf den Asylwerber. Die entsprechende Asylrelevanz wird aus dem Verfolgungsgrund der 'sozialen Gruppe' abgeleitet.

Jedoch reicht auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe alleine nicht aus, um die Forderung nach Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Für die Zuerkennung von Asyl muss eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintreten. Es genügt nicht, dass sie bloß nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. das Erkenntnis des Zl 2001/20/0011). Da der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren keine Bedrohungs- bzw. Verfolgungssituation In Bezug auf sich selbst ins Treffen führte ([…] arg. 'F: Haben Sie jemals irgendwelche Problemsituationen miterlebt? – A: Solange mein Vater gelebt hat, haben wir uns sicher gefühlt. – F: Hat Ihr Vater Ihnen je erzählt, dass er von den Taliban bedroht worden wäre bzw. haben Sie je derartige Situationen erlebt? – A: Mein Vater hat immer gesagt: 'Solange ich lebe, werde ich euch beschützen. – F: Das heißt, Sie haben nie irgendwelche Problemsituationen mitbekommen? – A: Nein, habe ich nicht. Mein Vater hat mir nie etwas darüber erzählt. Manchmal hat er mit meinem Bruder darüber gesprochen, aber nicht mit mir'; […] arg. 'R: Wurden Sie jemals in Afghanistan bedroht? Bzw. wurde Ihnen jemals Gewalt angetan, insbesondere von den Taliban? – BF: Ich bin mit dem Taxi zur Schule gefahren[,] weil ich Zuhause erfahren habe, dass mein Vater gegen die Taliban ist. Ich habe jeden Tag Angst davor gehabt, angegriffen und getötet zu werden. Ich habe immer gezittert bis ich nach Hause gekommen bin.') und die Gründe für die Verfolgungsfurcht des Beschwerdeführers auf nicht näher substantiiert vorgebrachten Annahmen sowie auf Mutmaßungen, die aufgrund ihrer Allgemeinheit und Unbestimmtheit nicht geeignet sind, eine konkrete, gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung in Afghanistan festzustellen, beruhen ([…] arg. 'R: Warum meinen Sie, das[s] Sie, nachdem Ihr Vater von den Taliban ermordet wurde, nicht mehr in Afghanistan leben könnte[n]? – BF: Wenn Sie die Geschichte der Taliban gelesen haben, werden Sie erfahren haben, dass wenn die Taliban ein Familienmitglied[…], insbesondere das Familienoberhaupt ermorden, auch die restlichen Familienmitglieder töten. Außerdem hat mein Bruder auch gesagt, dass wir gefährdet sind. Aus einem Bericht geht hervor, dass ein Parlamentsmitglied angegriffen wurde, bei diesem Angriff wurden acht Personen aus seiner Familie getötet, darunter auch ein vierjähriges Kind, damit ist bestätigt, dass auch unser Leben in Gefahr gewesen ist.') vermochte der Beschwerdeführer keine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der 'Familie' glaubhaft zu machen, weshalb der asylrechtlich relevante Anknüpfungspunkt fehlt.

Eine darüber hinausgehende Verfolgung wurde von Seiten des Beschwerdeführers nicht substantiiert behauptet und war für das Bundesverwaltungsgericht auch nicht erkennbar.

[…] Da somit die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht ersichtlich ist und daher die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl nicht gegeben sind, war die Beschwerde abzuweisen." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

6.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, in den Rechten nach Art 3 und 8 EMRK sowie in den Rechten nach Art 18 und 47 GRC, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird u.a. ausgeführt, dass im Herkunftsstaat lediglich die Angaben des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der Frage des subsidiären Schutzes, nicht jedoch jene im Zusammenhang mit dem des Fluchtgrundes selbst, geprüft worden seien. Eine begründete Furcht vor Verfolgung iSd GFK setze jedenfalls nicht zwingend voraus, dass bereits in der Vergangenheit konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgungshandlungen gesetzt worden seien und wegen der Tätigkeit seines Vaters Verfolgungshandlungen gegen die gesamte Familie zu gewärtigen gewesen wären. Eine Würdigung des Umstandes, dass die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers mittlerweile getötet worden sei, sei nicht erfolgt.

7.Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm aber von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II.Erwägungen

1.Die – zulässige – Beschwerde ist im Ergebnis begründet.

2.Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3.Derartige in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht bei der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz unterlaufen:

3.1.Zunächst ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zugrunde legt. Es stellt – wohl auf Grund des unmittelbaren Eindrucks und der Aussagen des Beschwerdeführers bei der mündlichen Verhandlung sowie der eidesstattlichen Erklärung seines Großcousins – ausdrücklich fest, dass der Vater des Beschwerdeführers wegen seiner publizistischen Tätigkeit von den Taliban bedroht und schlussendlich getötet worden sei. Damit weicht es im Ergebnis von den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA ab. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers verneint das Bundesverwaltungsgericht, weil der Beschwerdeführer "keine Bedrohungs- bzw. Verfolgungssituation in Bezug auf sich selbst ins Treffen geführt" habe und seine Gründe für die Verfolgungsfurcht nicht hinreichend konkret seien, eine gegen ihn gerichtete Verfolgung festzustellen.

3.2.Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach festgestellt hat, kann die Zugehörigkeit zu einem Familienverband den Verfolgungstatbestand der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK erfüllen, und zwar auch dann, wenn die Verfolgung auf Grund der Angehörigeneigenschaft von privater Seite droht, der Staat aber nicht fähig oder willig ist, dem Verfolgten Schutz zu gewähren. Eine derartige asylrelevante Verfolgung ist gegeben, wenn eine Person auf Grund ihrer Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied verfolgt wird, dem seinerseits aus anderen Konventionsgründen, etwa wegen seiner politischen Gesinnung, Verfolgung droht, mithin die Verfolgung auf das Familienmitglied "durchschlägt" (vgl. VfSlg 19.900/2014 mwN; ). Der Fluchtgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ist aber auch dann erfüllt, wenn der einzige Grund für die Verfolgung einer Person ihre Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied ist, bei dem selbst entweder gar keine asylrelevante Verfolgung oder ebenfalls nur die Zugehörigkeit zum Familienverband als Anknüpfungsmerkmal iSd GFK vorliegt (VfSlg 19.900/2014). Die Asylgewährung setzt nicht voraus, dass bereits in der Vergangenheit, dh. vor Verlassen des Herkunftsstaates, Verfolgungshandlungen gegen die Person des Antragstellers gesetzt wurden (vgl. Schrefler-König in: Schrefler-König/Szymanski [Hrsg], Fremdenpolizei- und Asylrecht, § 3 AsylG 2005, Anm. 17).

3.3.Das Bundesverwaltungsgericht trifft zu den Themenkreisen "Sicherheitslage in Kabul" und "Sicherheitslage in Nangarhar" Feststellungen zur Lage in Afghanistan, die auf Berichten der Staatendokumentation beruhen. Darüber hinaus werden ein Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur "Sicherheitslage in verschiedenen Landesteilen", ein Fortschrittsbericht der deutschen Regierung und drei Gutachten eines länderkundlichen Sachverständigen zur Sicherheitslage in Afghanistan in anderen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie ein Auszug aus einem Interview dieses Sachverständigen als Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen. Feststellungen zu den Taliban, insbesondere zu der von den Taliban ausgehenden Gefahr für Familienangehörige von Personen, die sich öffentlich kritisch zu den Taliban geäußert haben, werden nicht getroffen bzw. hat es das Bundesverwaltungsgericht auch unterlassen, dazu Ermittlungen im Herkunftsstaat anstellen zu lassen.

3.4.Vor diesem Hintergrund bleibt im vorliegenden Fall die für die Beurteilung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl entscheidungsrelevante Frage, ob dem Beschwerdeführer infolge der publizistischen Tätigkeit seines Vaters eine asylrelevante Verfolgung durch die Taliban droht, ungeklärt. Eine Klärung dieser Frage ist aber notwendig, geht doch das Bundesverwaltungsgericht selbst davon aus, dass die Fluchtangaben des Beschwerdeführers hinsichtlich der Tätigkeit und der Ermordung seines Vaters glaubhaft sind. Vor dem Hintergrund der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens des Beschwerdeführers stellt das gänzliche Unterlassen von Ausführungen zu einer allenfalls von den Taliban ausgehenden Gefährdung des Beschwerdeführers wegen der Tätigkeit des Vaters einen Verfahrensmangel dar, der als Willkür zu qualifizieren ist ().

Weiters setzt sich das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes mit der behaupteten Ermordung der Mutter und des Bruders des Beschwerdeführers wegen der Tätigkeit seines Vaters in keiner Weise auseinander. Weder trifft das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zu diesem Vorbringen noch erfolgt eine beweiswürdigende Auseinandersetzung mit dem Vorbringen. Dies obwohl das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich vorgehalten hat, dass auf Grund der "Anfragebeantwortung der Botschaft" davon auszugehen sei, dass die Mutter und der Bruder – entgegen seinen Angaben – noch am Leben seien.

III.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2.Das angefochtene Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:E832.2017
Schlagworte:
Asylrecht, Fremdenpolizei, Rückkehrentscheidung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung

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