VfGH vom 22.09.2016, E755/2016

VfGH vom 22.09.2016, E755/2016

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung einer Rückkehrentscheidung hinsichtlich eines der tschetschenischen Volksgruppe zugehörigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation mangels Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in seiner Heimat Dagestan

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

I. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616, bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer, ein der tschetschenischen Volksgruppe zugehöriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste am erstmals in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er zusammengefasst vor, in seiner Heimat Dagestan fälschlicherweise der Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer bezichtigt worden zu sein, während er in Wahrheit nur einem verwundeten bzw. erkrankten Verwandten geholfen habe. Nachdem über diesen Antrag mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom negativ entschieden worden war, reiste der Beschwerdeführer im September 2011 unter Gewährung von Rückkehrhilfe aus dem Bundesgebiet aus.

1.2. Am reiste der Beschwerdeführer abermals in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am darauffolgenden Tag einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er zusammengefasst vor, in Dagestan aus den bereits im ersten Asylverfahren dargelegten Gründen nach wie vor verfolgt zu werden; aus diesen Gründen sei er auch nach seiner Rückkehr nach Dagestan zwischen Dezember 2011 und Juli 2012 ohne rechtsstaatliches Verfahren für mehrere Monate inhaftiert und erst gegen Bezahlung eines näher genannten Geldbetrages freigelassen worden.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen; weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§55, 57 Asylgesetz 2005 nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation unter Anordnung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise für zulässig erklärt.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom "gemäß § 3 Abs 1, § 8 Abs 1, §§57 und 55, § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs 2 Z 2 und Abs 9, § 46 FPG 2005 idgF, als unbegründet abgewiesen."

Dazu führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sei vage sowie widersprüchlich und damit unglaubwürdig; dies sei bereits hinsichtlich des ersten Asylantrages des Beschwerdeführers entschieden worden, wobei für den Beschwerdeführer kein Rechtsnachteil daraus resultiere, wenn das BFA über den Folgeantrag des Beschwerdeführers insoweit inhaltlich entschieden habe anstatt den Folgeantrag gemäß § 68 AVG zurückzuweisen. Da zwischen der behaupteten Inhaftierung in Dagestan zwischen Dezember 2011 und Juli 2012 einerseits und der behaupteterweise erst im Oktober 2014 erfolgten neuerlichen Ausreise aus dem Herkunftsstaat andererseits kein zeitlicher Konnex bestehe, sei das Fluchtvorbringen zudem "nicht asylrelevan[t]".

Unter Berücksichtigung der persönlichen Ausgangssituation des Beschwerdeführers – einem gesunden und arbeitsfähigen Mann mit der Möglichkeit zur Teilnahme am Erwerbsleben und mit familiären Anknüpfungspunkten in Dagestan – sowie der (bereits vom BFA herangezogenen und in der angefochtenen Entscheidung erneut zitierten) Länderberichte zur "Russischen Föderation respektive Dagestan", denen der Beschwerdeführer nicht substantiiert entgegengetreten sei, liege weiters keine Konstellation vor, in der vor dem Hintergrund der Art 2 und 3 EMRK bzw. des 6. oder 13. ZPEMRK die Gewährung subsidiären Schutzes angezeigt wäre. Die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß §§55, 57 AsylG 2005 seien ausweislich der vorliegenden Integrationsaspekte nicht gegeben und eine Rückkehrentscheidung zulässig; eine Unzulässigkeit der Abschiebung bestehe nicht. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe mangels zu erwartender weiterer Klärung der entscheidungserheblichen Umstände abgesehen werden können.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten – insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander – behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 144 Abs 3 B VG beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht legte die bei ihm befindlichen Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Das Vorhandensein einer Unterkunft und die Möglichkeit der Versorgung im Zielstaat können unter dem Gesichtspunkt des Art 3 EMRK relevant sein (VfSlg 19.602/2011 mwN).

2.2. Im angefochtenen Erkenntnis zitiert das Bundesverwaltungsgericht auf etwa 10 Seiten auszugsweise Länderfeststellungen zur Situation "in der Russischen Föderation respektive Dagestan". Diese Feststellungen befassen sich aber beinahe ausschließlich mit der Lage in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation allgemein, während sich zu Dagestan lediglich ein Verweis (zur Arbeitslosenquote) findet, obwohl der Beschwerdeführer im Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz angegeben hat, in Dagestan geboren zu sein und dort bis zu seiner Ausreise gelebt zu haben; auch das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise in Dagestan gelebt hat bzw. dass die gesamte Familie des Beschwerdeführers nach wie vor in Dagestan lebt. Soweit das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis damit im Ergebnis die Situation in Tschetschenien schildert, kommt diesen Ausführungen daher kein Begründungswert zu. Wenn das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen sollte, dass dem Beschwerdeführer in Tschetschenien innerstaatliche Fluchtalternativen offenstehen würden, hätte es sich damit auseinandersetzen müssen (vgl. zB ; , U2643/2012).

2.3. Weiters ist darauf hinzuweisen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen in verfahrensrelevanten Teilen zum Entscheidungszeitpunkt bereits etwa vier bzw. fünf Jahre alt waren. Vor diesem Hintergrund kann das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer nicht entgegenhalten, dass dieser den Länderfeststellungen im Verfahren über den Folgeantrag vom nicht substantiiert entgegen getreten sei, zumal das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung durchgeführt und dem Beschwerdeführer auch keine aktuellen Länderberichte zur Kenntnis gebracht bzw. ihm sonst Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat (vgl. ).

3. Aus diesen Gründen hat das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis jegliche Auseinandersetzung mit einem wesentlichen Aspekt für die Begründung seiner Entscheidung vermissen lassen, wodurch die angefochtene Entscheidung das Willkürverbot des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher – da es in seinem Spruch einheitlich die Abweisung der Beschwerde ausspricht: insgesamt – aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG und § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:E755.2016