OGH vom 12.04.2012, 10ObS8/12t
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. E*****, vertreten durch Haas, Frank, Schilchegger Silber Rabl, Rechtsanwälte in Wels, gegen die beklagte Partei Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4021 Linz, Gruberstraße 77, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld (Streitwert 2.629,93 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 184/11g 10, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 30 Cgs 85/11s 6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin zu Handen ihrer Vertreter die mit 544,13 EUR (darin enthalten 90,69 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin ist die Mutter eines am geborenen Kindes. Aufgrund ihres Antrags bezog sie für den Zeitraum vom bis Kinderbetreuungsgeld in Höhe von insgesamt 2.629,93 EUR.
Die Klägerin nahm bei der Antragstellung zur Kenntnis, dass bei einer Überschreitung der Zuverdienstgrenze das Kinderbetreuungsgeld zurückgefordert werden müsse. Sie ging wegen des damals niedrigen Einkommens ihres Ehegatten neben der Kinderbetreuung einer Beschäftigung nach. Sie erkundigte sich im Vorfeld bei der beklagten Gebietskrankenkasse und bei anderen Stellen über die zulässigen Zuverdienstgrenzen und vereinbarte demgemäß mit ihrem Arbeitgeber eine Reduzierung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit auf 14 Stunden und ermittelte einen Überstundenpuffer von 3 Stunden wöchentlich. Die Klägerin war als Projektleiterin für ein Ausbildungs und Trainingsprogramm zuständig, das sie bis Oktober 2007 zu finalisieren hatte. Sie kalkulierte, das Projekt unter Ausschöpfung des errechneten Überstundenpuffers termingerecht fertigstellen zu können, was ihr auch gelang. Sie war sich aber dabei bewusst, mit ihrem Einkommen nur ganz knapp unter der Zuverdienstgrenze von 14.600 EUR zu liegen.
Sie bezog für den Zeitraum vom bis ein Einkommen von insgesamt 8.784,77 EUR brutto. In diesem Einkommen waren freiwillige, auf einer Betriebsvereinbarung beruhende Fahrtkostenzuschüsse von 19,23 EUR monatlich enthalten, wobei den Gehaltszetteln nicht entnehmbar war, dass dieser Betrag in die Lohnsteuerbemessungsgrundlage einfließt. Weiters waren im Einkommen der Klägerin Reisekostenauszahlungen von 94,20 EUR im Jänner 2007 und von 80,60 EUR im Mai 2007 enthalten. Dass diese Reisekostenauszahlungen ebenfalls zum Teil in die Lohnsteuerbemessungsgrundlage einflossen, war nur durch Vergleich verschiedener Monatsabrechnungen erkennbar. Der Klägerin war damals nicht bekannt, dass der Fahrtkostenzuschuss und Teile der Reisekosten freiwillige Leistungen ihres Arbeitgebers und lohnsteuerpflichtig sind.
Aus dem Einkommen der Klägerin für den Zeitraum vom bis errechnet sich gemäß § 8 Abs 1 Z 1 KBGG ein Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte in Höhe von 14.715,90 EUR für das Jahr 2007. Bei Abzug der insgesamt 115,38 EUR an Fahrtkostenzuschuss sowie von 32,71 EUR zuzüglich 45,87 EUR an steuerpflichtigen Reisekosten ergibt sich ein Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte der Klägerin für 2007 von 14.211,60 EUR. Zieht man nur die Fahrtkostenzuschüsse ab, ergibt sich ein Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte der Klägerin für 2007 von 14.415,96 EUR und bei Abzug nur der Reisekostendifferenzen ein solcher von 14.511,59 EUR.
Mit Bescheid vom sprach die beklagte Gebietskrankenkasse aus, dass die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum vom bis widerrufen werde und die Klägerin zum Ersatz der unberechtigt empfangenen Leistung in Höhe von 2.629,93 EUR verpflichtet sei. Die beklagte Partei begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte von 14.715,90 EUR die Zuverdienstgrenze von 14.600 EUR überschreite.
Das Erstgericht gab der von der Klägerin dagegen erhobenen Klage statt und stellte fest, dass die Klägerin nicht zum Rückersatz des Betrags von 2.629,93 EUR verpflichtet sei. Es bejahte ausgehend von dem bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt das Vorliegen eines Härtefalls iSd § 1 lit a der KBGG Härtefälle VO. Die Zuverdienstgrenze sei lediglich um 115,90 EUR, somit um 0,8 %, überschritten worden. Diese Überschreitung sei für die Klägerin nicht vorhersehbar gewesen. Sie habe die zu erwartenden Einkünfte grundsätzlich richtig kalkuliert. Hinsichtlich der Fahrtkostenzuschüsse sei die Lohnsteuerpflicht nicht einmal objektiv aus den Gehaltsabrechnungen erkennbar gewesen. Bereits die Ausscheidung dieser Fahrtkostenzuschüsse hätte aber ausgereicht, die Überschreitung der Zuverdienstgrenze zu vermeiden. Angesichts der komplizierten Lohnsteuerermittlung in Österreich könne auch von einer Akademikerin, die kein einschlägiges Fachstudium absolviert habe, nicht gefordert werden, die Lohnsteuerbemessungsgrundlage außerhalb der am Gehaltszettel befindlichen Informationen zu errechnen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es das Klagebegehren abwies und die Klägerin verpflichtete, der beklagten Partei den Betrag von 2.629,93 EUR in 26 Monatsraten zu bezahlen. Nach seiner Rechtsansicht sei die Überschreitung der Zuverdienstgrenze vorhersehbar gewesen. Wenn die Klägerin die unstrittig bestehende Lohnsteuerpflicht der Fahrtkostenzuschüsse und Reisekostenersätze nicht erkannt habe, sei dies nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht unvorhersehbar. Die Klägerin sei sich bewusst gewesen, mit ihren Einkünften nahe an der Zuverdienstgrenze zu liegen, sodass ihr umso mehr eine sorgfältige Beobachtung ihrer laufenden Einkünfte zumutbar gewesen wäre, um etwa mit einem Verzicht auf das Kinderbetreuungsgeld für einzelne Monate einer Überschreitung der Zuverdienstgrenze vorzubeugen. Es sei zwar richtig, dass die Lohnsteuerpflicht der monatlichen Fahrtkostenzuschüsse den Gehaltszetteln nicht direkt zu entnehmen gewesen sei, die Klägerin hätte dies jedoch den auf den Gehaltsabrechnungen ebenfalls angegebenen maßgeblichen Lohnsteuerbemessungsgrundlagen entnehmen können. Die geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze durch die Klägerin sei daher nicht unvorhersehbar gewesen.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet:
Die Revision ist, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, zulässig und berechtigt.
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, das Kriterium der (subjektiven) „Unvorhersehbarkeit“ sei nach der Rechtsprechung gegeben, wenn die Überschreitung der Zuverdienstgrenze trotz Anlegung eines zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nicht erkannt werden konnte. Die Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei für sie nicht vorhersehbar gewesen, weil von ihr nicht verlangt werden könne, die Lohnsteuerbemessungsgrundlagen außerhalb der am Gehaltszettel befindlichen Informationen zu errechnen. Zur geringfügigen Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei es letztlich nur deshalb gekommen, weil in die Lohnsteuerbemessungsgrundlage vom Arbeitgeber der Klägerin freiwillig geleistete Fahrtkostenzuschüsse und Teile der Reisekosten eingeflossen seien. Den der Klägerin vom Arbeitgeber übergebenen Gehaltsabrechnungen sei dies nicht zu entnehmen gewesen. Der Klägerin sei außerdem nicht bekannt gewesen, dass es sich beim Fahrtkostenzuschuss und bei Teilen der Reisekosten um freiwillige Leistungen des Arbeitgebers gehandelt habe, welche ihrerseits lohnsteuerpflichtig seien.
Rechtliche Beurteilung
Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
1. Gemäß § 31 Abs 2 zweiter Satz KBGG ist der Empfänger einer Leistung nach dem KBGG auch dann zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich ohne dessen Verschulden aufgrund des von der Abgabenbehörde an die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse übermittelten Gesamtbetrags der maßgeblichen Einkünfte ergibt, dass die Leistung nicht oder nicht in diesem Umfang gebührt hat.
2. Nach § 1 lit a der KBGG Härtefälle VO idF BGBl II 2004/91 ist in Fällen einer geringfügigen, unvorhersehbaren Überschreitung der Zuverdienstgrenze auf die Rückforderung zu verzichten. Eine geringfügige, unvorhersehbare Überschreitung liegt nur dann vor, wenn die Grenzbeträge gemäß den §§ 2 Abs 1 Z 3 und 9 Abs 3 KBGG um nicht mehr als 15 % überstiegen werden.
2.1 Die maßgebende Zuverdienstgrenze von 14.600 EUR wurde durch die gemäß § 8 KBGG für das Jahr 2007 ermittelten Einkünfte der Klägerin um 115,90 EUR (= 0,8 %) überschritten, sodass eine bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze im Sinne des Härtefalltatbestands des § 1 lit a KBGG Härtefälle VO vorliegt. Es ist daher im vorliegenden Fall nur noch zu prüfen, ob diese bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze „unvorhersehbar“ war.
2.2 Es wurde in der Rechtsprechung bereits dargelegt, dass die beiden für das Bestehen eines Härtefalls erforderlichen Voraussetzungen auf das Vorliegen unterschiedlicher Kriterien abstellen, nämlich einerseits auf die objektive Höhe der Überschreitung der Grenzbeträge und andererseits auf die subjektive Vorhersehbarkeit bzw Unvorhersehbarkeit der Überschreitung der Grenzbeträge für den Leistungsempfänger (10 ObS 186/10s ua). Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der Verordnungsgeber nicht den Begriff „unvorhergesehen“, der die konkreten subjektiven Verhältnisse des Leistungsempfängers ansprechen würde, sondern den Begriff „unvorhersehbar“, der auf objektive Gesichtspunkte abstellt, verwendet hat. Das Kriterium der „Unvorhersehbarkeit“ ist daher dann gegeben, wenn die Überschreitung der Zuverdienstgrenze trotz Anlegung eines (objektiv) zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nicht erkannt werden konnte (vgl RIS Justiz RS0124751). Als „unvorhersehbar“ wurden daher in der Rechtsprechung beispielsweise nicht zu erwartende Einkünfte, wie etwa die Entlohnung für Supplierstunden, die von einer Lehrerin überraschend gehalten werden mussten (vgl 10 ObS 143/09s, SSV NF 23/66; 10 ObS 145/09k), oder Überstunden, die wegen der Kündigung einer Arbeitskollegin überraschend geleistet werden mussten und nicht wie üblich durch Zeitausgleich abgegolten wurden (10 ObS 156/09b), beurteilt. Hingegen wurde die Argumentation, die Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei subjektiv unverschuldet erfolgt, weil die Leistungsempfängerin auf eine unrichtige oder missverstandene Rechtsauskunft der beklagten Gebietskrankenkasse oder eines Steuerberaters vertraut habe (vgl 10 ObS 31/11y, 10 ObS 37/11f ua), unter Hinweis auf die verschuldensunabhängige Rückzahlungsverpflichtung nach § 31 Abs 2 zweiter Satz KBGG nicht anerkannt.
2.3 „Unvorhersehbar“ ist eine Überschreitung der Zuverdienstgrenze daher dann, wenn diese Überschreitung von einem Menschen mit gewöhnlichen geistigen Fähigkeiten auch unter Bedachtnahme auf die ihm zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwartet werden konnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass den Leistungsbezieher eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Einkünfte trifft und der Gesetzgeber die Möglichkeit eines Verzichts auf den Bezug von Kinderbetreuungsgeld für bestimmte Zeiträume (§ 5 Abs 6 KBGG) geschaffen hat (vgl 10 ObS 145/09k ua).
3. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin die zu erwartenden Einkünfte aus ihrer unselbständigen Erwerbstätigkeit geprüft und grundsätzlich auch richtig kalkuliert. Der Umstand, dass die der Klägerin gewährten monatlichen Fahrtkostenzuschüsse lohnsteuerpflichtig sind und daher zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören, war aus den Gehaltsabrechnungen objektiv nicht erkennbar. Es wäre dafür eine genaue Kenntnis der Bestimmungen der §§ 25 f EStG 1988 erforderlich gewesen, die aber bei einem Menschen mit gewöhnlichen Fähigkeiten nicht vorausgesetzt werden kann. Auch der Hinweis des Berufungsgerichts, die Klägerin hätte den Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte aus den auch auf den Gehaltszetteln angegebenen Lohnsteuerbemessungsgrundlagen errechnen können, vermag ohne eine entsprechende Belehrung, welche von der beklagten Partei gar nicht behauptet wurde, keine Verletzung des objektiven durchschnittlichen Sorgfaltsmaßstabs durch die Klägerin zu rechtfertigen.
Da bereits eine Nichtberücksichtigung der von der Klägerin im Zeitraum ihres Kinderbetreuungsgeldbezugs erhaltenen Fahrtkostenzuschüsse zu dem Ergebnis führt, dass eine Überschreitung der Zuverdienstgrenze in diesem Fall nicht vorliegt, erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Vorbringen der Klägerin bezüglich der von ihr in diesem Zeitraum auch bezogenen Reisekosten. Die Überschreitung der Zuverdienstgrenze durch die Klägerin war daher nach zutreffender Rechtsansicht des Erstgerichts nicht vorhersehbar, sodass vom Vorliegen eines Härtefalls iSd § 1 lit a der KBGG Härtefälle VO auszugehen ist.
Die Revision der Klägerin erweist sich somit als berechtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Im Berufungsverfahren gebührt der Klägerin nach § 23 Abs 9 RATG mangels Durchführung einer Berufungsverhandlung nur ein dreifacher Einheitssatz. Die Klägerin verzeichnete ihre Kosten des Revisionsverfahrens nicht in ihrer Revision, sondern erst in einem „Nachtrag zur Revisionsschrift (Kostenverzeichnis)“ mit dem Hinweis, dass die Kosten des Revisionsverfahrens versehentlich nicht in die Revisionsschrift aufgenommen worden seien. Diese nachträgliche Verzeichnung der Revisionskosten ist jedoch nach der Rechtsprechung nicht zulässig, weil Kosten des Rechtsmittelverfahrens gemäß § 54 Abs 1 ZPO bei sonstigem Verlust des Ersatzanspruchs im Rechtsmittelschriftsatz zu verzeichnen sind (vgl 1 Ob 70/07m; 6 Ob 256/06z; 10 ObS 92/91 ua; RIS Justiz RS0036034). Die von der Klägerin erst verspätet verzeichneten Kosten des Revisionsverfahrens konnten daher bei der Kostenentscheidung nicht mehr berücksichtigt werden.