VfGH vom 18.06.2015, E666/2015
Leitsatz
Verletzung der Marktgemeinde Eichgraben im Gleichheitsrecht durch eine Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich im fortgesetzten Verfahren nach teilweiser Aufhebung des örtlichen Raumordnungsprogrammes sowie des angefochtenen Bescheides im Anlassfall; Willkür infolge grober Verkennung der Rechtslage durch Annahme des Wiederinkrafttretens der früheren - vor Aufhebung bestehenden - Verordnungsbestimmungen und damit Außerachtlassung einer Bestimmung des Bundesverfassungsrechts
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Beschluss in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Beschluss wird aufgehoben.
II. Das Land Niederösterreich ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die beiden beteiligten Parteien sind je zur Hälfte Eigentümer des Grundstücks Nr 627, KG Eichgraben. Für einen Teil dieses Grundstücks wurde mit der durch Beschluss des Gemeinderates der Marktgemeinde Eichgraben vom , Tagesordnungspunkt 2a der Gemeinderatssitzung, erfolgten Änderung des örtlichen Raumordnungsprogrammes (in der Folge: ÖRP) die Widmung "Grünland-Grüngürtel" ("Ggü") mit der Funktionsfestlegung "Bachbegleitgrün" festgesetzt. Zuvor war dieses Grundstück zur Gänze mit der Widmung "Bauland-Wohngebiet" ("BW") ausgewiesen.
2. Am stellten die beteiligten Parteien einen Antrag auf Feststellung, dass es sich bei dem als Grünland gewidmeten Teil ihres Grundstücks nicht um Wald iSd Bundesgesetzes vom , mit dem das Forstwesen geregelt wird (Forstgesetz 1975), BGBl 440 idF BGBl I 55/2007, handle, was von der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten mit Bescheid vom antragsgemäß festgestellt wurde. In der Folge wurde die bis dahin bestehende "Wald"-Kennzeichnung des relevanten Grundstückteils der beteiligten Parteien aus der Digitalen Katastralmappe (DKM) ausgetragen.
3. Der im Jahr 2012 von den beteiligten Parteien beim Verfassungsgerichtshof eingebrachte Individualantrag, mit welchem die Aufhebung des ÖRP im Hinblick auf die Umwidmung ihres o.a. Grundstückteils in "Grünland-Grüngürtel" mit der Funktionsfestlegung "Bachbegleitgrün" angestrebt wurde, wurde mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom zu V58/2012 mit der Begründung zurückgewiesen, dass ein zumutbarer Weg zur Geltendmachung der behaupteten Rechtswidrigkeit der bekämpften Verordnung im Verfahren zur Bauplatzerklärung bestanden habe.
4. Mit Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde Eichgraben vom wurde der Antrag der beteiligten Parteien, jenen Teil des o.a. Grundstücks, der als "Grünland-Grüngürtel" mit der Funktionsfestlegung "Bachbegleitgrün" gewidmet war, zum Bauplatz zu erklären, abgewiesen.
Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wurde vom Gemeindevorstand der Marktgemeinde Eichgraben mit Bescheid vom abgewiesen.
Die dagegen erhobene Vorstellung wurde mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom abgewiesen. Die Niederösterreichische Landesregierung führte aus, dass eine Bauplatzerklärung auch für eine Teilfläche eines Grundstücks nur dann in Betracht komme, wenn diese im Bauland liege.
5. In der gegen den letztgenannten Bescheid gemäß Art 144 B VG beim Verfassungsgerichtshof eingebrachten, zu B874/2013 protokollierten Beschwerde wurde die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, nämlich des ÖRP, und die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG) sowie auf Unversehrtheit des Eigentums (Art5 StGG) geltend gemacht. Die Beschwerde führte u.a. aus, dass nach § 22 Abs 1 Z 2 des NÖ Raumordnungsgesetzes 1976 (NÖ ROG 1976), LGBl 8000-23, das Raumordnungsprogramm nur bei Vorliegen von wesentlichen Änderungen der Grundlagen hätte geändert werden dürfen.
6. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof am gemäß Art 139 Abs 1 B VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit des ÖRP, soweit dieses für einen Teil des Grundstücks Nr 627, KG Eichgraben, die Widmung "Grünland-Grüngürtel", Funktionsfestlegung "Bachbegleitgrün", vorsah, ein. Mit Erkenntnis vom , V65/2014, hob der Verfassungsgerichtshof die in Prüfung gezogene Verordnung insoweit auf. In der Folge hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom zu B874/2013 den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom wegen Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung auf.
7. Mit Beschluss vom hob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich den Bescheid des Gemeindevorstandes der Marktgemeinde Eichgraben vom auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides "unter Beachtung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom , V65/2014-9" zurück.
Begründend führte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich aus, dass der vorliegende Anlassfall auf Grund der bereinigten Rechtslage zu entscheiden sei, weshalb mit der Aufhebung der als gesetzwidrig erkannten Verordnung, weil der Verfassungsgerichtshof nichts anderes ausgesprochen habe, die vor Aufhebung des ÖRP für das Grundstück Nr 627 bestehenden "gesetzlichen" Bestimmungen wieder in Kraft getreten seien. Für das vorliegende Verfahren bedeute dies, dass nach Wegfall der als gesetzwidrig erkannten Verordnung für das Grundstück der beteiligten Parteien von der Widmung "Bauland-Wohngebiet" auszugehen sei. Auf Basis dieser Widmung werde zu entscheiden sein, ob das Grundstück gemäß "§11 Abs 2 NÖ Bauordnung" zum Bauplatz zu erklären sei.
8. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Selbstverwaltung gemäß Art 118 Abs 2 und Abs 3 Z 9 B VG, auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art 83 Abs 2 B VG sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 7 B VG behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt wird.
8.1. Abgesehen davon, dass die Auffassung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich über die Rechtsfolgen der erfolgten Aufhebung des ÖRP unrichtig sei, weil nach ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofes für das von der Aufhebung erfasste Grundstück überhaupt keine Widmungs- und Nutzungsart festgelegt sei und somit ein widmungsloser Zustand vorliege, lege das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit den Ausführungen in seinem Beschluss die Widmungsart eines Grundstücks fest. Gemäß Art 118 Abs 3 Z 9 B VG seien zur Vollziehung der örtlichen Raumplanung jedoch ausschließlich die Gemeinden im eigenen Wirkungsbereich zuständig. Die planmäßige Gesamtgestaltung eines Gemeindegebietes sei Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches gemäß Art 118 Abs 2 B VG. Aus dieser Bestimmung leite der Verfassungsgerichtshof ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung ab.
8.2. Darüber hinaus nehme das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich durch die dargelegte Widmungsfestlegung eine Kompetenz in Anspruch, die einem Landesverwaltungsgericht verfassungsrechtlich nicht zukomme, sondern – wie oben dargelegt – ausschließlich den Gemeinden im eigenen Wirkungsbereich. Damit verletze das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.
8.3. Schließlich unterstelle das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, indem es für das Grundstück der beteiligten Parteien nunmehr von der Widmung "Bauland-Wohngebiet" ausgehe und damit – wie oben dargelegt – die Widmung unter Außerachtlassung des Art 118 Abs 2 und Abs 3 Z 9 B VG selbst festlege, dem Gesetz fälschlicherweise auch einen gleichheitswidrigen Inhalt.
9. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich legte die Verwaltungsakten sowie den Gerichtsakt vor und verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift.
10. Die beteiligten Parteien erstatteten eine Äußerung, in der sie den Be-schwerdeausführungen entgegentreten und beantragen, den Anträgen der Beschwerdeführerin keine Folge zu geben.
II. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Recht-sprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälsch-licherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Er-lassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Ein willkürliches Verhalten kann dem Verwaltungsgericht u.a. dann vorgeworfen werden, wenn es den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn die angefochtene Entscheidung wegen gehäuften Ver-kennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001).
2. Nach der ständigen Judikatur leben – entsprechend der ausdrücklich unterschiedlichen Textierung des Art 139 B VG für den Fall der Aufhebung von Verordnungen und des Art 140 Abs 6 B VG für den Fall der Aufhebung von Ge-setzen – frühere Verordnungsbestimmungen bzw. Verordnungen nach der Aufhebung von Bestimmungen eines Flächenwidmungs- bzw. Bebauungsplanes durch den Verfassungsgerichtshof nicht wieder auf (s. VfSlg 9690/1983, 10.703/1985, 12.560/1990, 13.742/1994, 15.851/2000, 18.410/2008 – so auch der Verwaltungsgerichtshof in ; , 95/05/0233; , 96/05/0017; , 98/05/0040; , 2000/05/0232; vgl. hiezu weiters die dieser Judikatur entsprechenden Literaturmeinungen Aichlreiter , Stufenbau- und Derogationsfragen bei Flächenwidmungsplänen, ecolex 1995, 65; Hauer , Zur "Theorie vom weißen Fleck", ecolex 1995, 58; Moritz , Zur Rechtslage nach Aufhebung von Verordnungen durch den Verfassungsgerichtshof (zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung), ZfV 1995, 141 und Aichlreiter , Österreichisches Verordnungsrecht II, 1988, 1376 – anders hiezu Mayer , Über die derogatorische Kraft von Flächenwidmungsplänen, ecolex 1994, 354). Dies ergibt sich schon daraus, dass Art 140 Abs 6 erster Satz B VG ausdrücklich vorsieht, dass im Fall der Aufhebung eines Gesetzes die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Kraft treten, die durch das vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren, während Art 139 B VG, der die Aufhebung gesetzwidriger Verordnungen durch den Verfassungsgerichtshof regelt, eine gleichartige Bestimmung nicht enthält (s. zB VfSlg 9690/1983).
3. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich geht im mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Beschluss davon aus, dass mit der Aufhebung der Verordnung (des ÖRP) mangels gegenteiligen Ausspruchs des Verfassungsgerichtshofes die früheren – vor Aufhebung des ÖRP bestehenden – Bestimmungen wieder in Kraft treten würden, weshalb nach Aufhebung der als gesetzwidrig erkannten Verordnung für das Grundstück der beteiligten Parteien von der Widmung "Bauland-Wohngebiet" auszugehen sei.
4. Damit lässt das belangte Landesverwaltungsgericht Niederösterreich den ausdrücklichen Wortlaut der Verfassungsbestimmungen und der dazu ergangenen Judikatur völlig außer Acht. Insbesondere vor dem Hintergrund der seit der Einrichtung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit erforderlichen Abgrenzung der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes von jener des Verwaltungsgerichtshofes zur Prüfung der Rechtmäßigkeit verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen kommt dem Verfassungsgerichtshof die Beurteilung zu, inwieweit Entscheidungen der Verwaltungsgerichte gegen verfassungsrechtliche Bestimmungen verstoßen, insbesondere, wenn ein Verwaltungsgericht die Bestimmungen des Bundesverfassungsrechts – im vorliegenden Fall Art 139 Abs 6 B VG – außer Acht lässt. Ein solcher Fall ist der Ausübung von Willkür gleichzuhalten.
Davon ausgehend ist weiters zu berücksichtigen, dass gemäß § 30 Abs 6 Z 1 NÖ ROG 1976 bzw. § 42 Abs 6 Z 1 NÖ ROG 2014 ein Bauverbot für Flächen gilt, deren Widmung durch den Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, und die Gemeinde in diesem Fall innerhalb eines Jahres ab Aufhebung der Widmung oder ab Kenntnis des Widmungsmangels neuerlich eine Widmung festzulegen hat, weshalb das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit seiner Entscheidung, an welche der Gemeindevorstand der Marktgemeinde Eichgraben im Rahmen des fortgesetzten Verwaltungsverfahrens gebunden wäre, auch diesbezüglich die Rechtslage grob verkannt und somit Willkür iSd ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes geübt hat.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
2. Der Beschluss ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Ver-handlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 iVm § 88a VfGG. In den zuge-sprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:E666.2015