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VfGH vom 27.02.1987, b45/85

VfGH vom 27.02.1987, b45/85

Sammlungsnummer

11228

Leitsatz

schwungvolles Hinunterwerfen der Bf. über eine Böschung im Zuge der gewaltsamen Auflösung der Versammlung in der Stopfenreuther Au; (anders als in VfSlg. 11082/1986) kein maßhaltendes Vorgehen; Verletzung des Art 3 MRK

Spruch

Die Bf. ist dadurch, daß sie am in der Stopfenreuther Au von Gendarmeriebeamten über eine Böschung hinuntergeworfen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Bf. zu Handen ihres Vertreters die mit S 34.100,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, die Bf. hätte am in der Stopfenreuther Au an der "Versammlung zahlreicher Menschen" teilgenommen, welche den Beginn der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg verhindern wollten.

Als sich die Bf. mit einer Gruppe anderer Versammlungsteilnehmer im Augebiet in der Nähe der Donaubrücke aufgehalten habe, sei eine größere Anzahl von Gendarmen erschienen. Ein Zivilist habe die Versammelten mittels Megaphon aufgefordert, den Weg freizugeben. Diese hätten sich jedoch eng zu einer Gruppe zusammengeschlossen, indem sie einander umklammert bzw. sich bei den Armen eingehakt hätten. Die Gendarmeriebeamten seien in geschlossener Reihe auf die Demonstranten zumarschiert und hätten versucht, einen nach dem anderen aus der Gruppe mit Gewalt herauszureißen. Die Bf. sei von einer neben ihr stehenden Person um den Leib gehalten worden. Der Griff dieser Person habe sich jedoch gelöst, als Gendarmen an der Bf. gezerrt und sie schließlich aus der Gruppe herausgerissen hätten. Die Bf. sei von Gendarmeriebeamten gepackt, von der Gruppe weggerissen und mit heftigem Schwung über die Böschung hinuntergeworfen worden. Durch den Aufprall habe sich die Bf. - näher beschriebene - Verletzungen zugefügt. Für ein derart aggressives und brutales Einschreiten sei kein Grund vorgelegen, zumal die Versammelten keinerlei Gewalt gegen die einschreitenden Beamten angewandt hätten.

Ein Einsatz derartiger körperlicher Gewalt, wie er hier erfolgt sei, sei überhaupt nicht notwendig gewesen, weil kein Anlaß dazu bestanden habe, die Versammelten angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen. Es sei nicht nur als unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, sondern auch als sinnlos zu bezeichnen, Personen, von denen selbst keine Gewalt ausgehe, eine steinige Böschung hinunterzuwerfen und ihnen Fußtritte zu versetzen. In diesem Verhalten der Gendarmeriebeamten sei eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung der Bf. im Sinne des Art 3 MRK zu erblicken.

Die Bf. beantragt, der VfGH wolle dies feststellen, in eventu die Beschwerde dem VwGH abtreten.

2. Die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich hat die Abweisung der vorliegenden Beschwerde beantragt und zunächst darauf hingewiesen, daß der Einsatz von 269 Gendarmeriebeamten am unter der Leitung der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich erfolgt sei. Der Sicherheitsdirektor, Hofrat Dr. S, habe um 11.00 Uhr dieses Tages die Vertreter der Bezirkshauptmannschaften Bruck a.d. Leitha und Gänserndorf angewiesen, um 13.00 Uhr die Versammlungen im Augebiet zu untersagen und aufzulösen. Der eventuell notwendige Einsatz der Gendarmerie sei danach durch den Vertreter der Sicherheitsdirektion, OR Mag. W, anzuordnen und zu leiten.

Da die Versammelten den mehrfachen und wiederholten Aufforderungen, auseinanderzugehen, nicht nachgekommen seien, habe der Vertreter der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich, OR Mag. W, den Gendarmerieeinsatz angeordnet. Da die Demonstranten dieser Aufforderung trotz einer neuerlichen Abmahnung nicht entsprochen hätten, hätten die Gendarmeriebeamten eine keilförmige Aufstellung angenommen und begonnen, die am Boden sitzenden und ineinander eingehängten Demonstranten auseinanderzudrängen und einen Weg für die nachfolgenden Arbeiter und Arbeitsgeräte freizumachen. Die Demonstranten hätten sich den Gendarmeriebeamten insoweit widersetzt, als sie sich fest aneinandergeklammert und an den Armen eingehakt hätten. Die Beamten seien daher gezwungen gewesen, die Versammlungsteilnehmer an Armen und Beinen zu ergreifen und sie wegzuzerren bzw. wegzudrängen, um sie voneinander zu lösen und in der Folge wegtragen zu können. Der Gendarmerieeinsatz sei mit möglichster Schonung der Demonstranten und ohne Waffengebrauch durchgeführt worden. Beim sogenannten "Tiergarten-Arm" sei die Auflösung der untersagten Versammlung nur dadurch möglich gewesen, daß die Gendarmeriebeamten die Demonstranten unter Anwendung von Körperkraft vom Versammlungsort weggebracht und durch Abriegelung deren Zurückkehren "in die Blockade" verhindert hätten. Hiebei sei es unvermeidbar gewesen, daß einzelne Demonstranten über die Böschung des Dammes gedrängt wurden, weil die Fläche auf der Dammkrone relativ begrenzt sei, die Anzahl der Widerstand leistenden Demonstranten teilweise bis zu 100 Personen betragen habe und ein Großteil der abgedrängten Demonstranten immer wieder versucht habe, "in die Blockade zurückzukommen".

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die bekämpften Amtshandlungen wurden - worauf auch die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich und die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf im verfassungsgerichtlichen Verfahren übereinstimmend hingewiesen haben - im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich durchgeführt. Sie sind somit dieser Behörde zuzurechnen (s. hiezu VfSlg. 8545/1979, S 313). Die einschreitenden Beamten vollzogen die hier bekämpften Maßnahmen für die Sicherheitsdirektion, als deren Hilfsorgane sie tätig wurden und deren Vollzugsgewalt sie im konkreten Fall gehandhabt haben (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 157 sowie insbesondere und B44/85); dies gilt auch für den vorliegenden Fall.

Belangte Behörde ist hier daher die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich.

2.a) Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Bf. als Partei sowie der Zeugen E W, H S und G S im Rechtshilfewege sowie durch Einsichtnahme in die Ambulanzkarte des öffentlichen Krankenhauses der Stadt Hainburg betreffend die Bf.

Die Bf. hat bei ihrer Aussage im wesentlichen ihr Beschwerdevorbringen (s. oben unter Pkt. I.1.) wiederholt und insbesondere darauf hingewiesen, daß sie "durch die Luft geflogen" sei. Die Zeugen E W und H S - beide ebenfalls Versammlungsteilnehmer -, welche sich zum hier maßgeblichen Zeitpunkt in unmittelbarer Nähe der Bf. befanden, gaben übereinstimmend an, die Bf. sei von mehreren Gendarmeriebeamten aus der Kette der am Boden sitzenden Demonstranten weggezerrt und (Zeuge S: "in hohem Bogen", Zeugin W: "Ich habe sie jedenfalls durch die Luft fliegen gesehen") über die Böschung hinuntergeworfen worden. Die Zeugin S hat zwar nicht selbst beobachtet, wie die Bf. unten an der Böschung zu Sturz kam, bestätigte jedoch wie die anderen Zeugen, daß die Bf. unten an der Böschung verletzt gelegen sei und nicht mehr aufstehen habe können.

b) Der VfGH nimmt aufgrund der übereinstimmenden Angaben der Bf. und der genannten Zeugen als erwiesen an, daß die Bf. von (unbekannt gebliebenen) Gendarmeriebeamten gepackt, vom Boden aufgehoben und mit Schwung (durch die Luft) über eine Böschung hinuntergeworfen wurde und hiebei am linken Fuß einen Knöchelbruch erlitt. Der VfGH sieht keinen Anlaß, an der Richtigkeit dieser - auf der unmittelbaren Wahrnehmung mehrerer Personen beruhenden - Angaben zu zweifeln.

c) Der VfGH hat im Erkenntnis vom , B91/85 - betreffend den hier vergleichbaren Fall der gewaltsamen Auflösung der Versammlung in der Stopfenreuther Au am - zum Ausdruck gebracht, das Hinabdrängen bzw. das (bloße) Hinunterstoßen vom Damm verletze nicht Art 3 MRK. Der VfGH hat dies damit begründet, daß eine derartige Vorgangsweise angesichts des nachhaltigen passiven Widerstandes vieler Versammlungsteilnehmer schon von der Intention her auf den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung), nicht aber gegen die Menschenwürde gerichtet gewesen sei; in Anbetracht der gesamten Situation und der Haltung einer großen Anzahl von Manifestanten, der sich die Beamten gegenüber gesehen hätten, könne auch nicht in Abrede gestellt werden, daß die Vorgangsweise der Beamten an sich maßhaltend gewesen sei, um so die Befolgung der behördlichen Anordnung zu erreichen. Der VfGH hat diese rechtliche Qualifikation in dem genannten Erkenntnis aufgrund eines Sachverhaltes vorgenommen, bei welchem (lediglich) ein Hinunterstoßen, nicht aber - wie dort ausdrücklich betont wurde ein schwungvolles Hinunterwerfen über den Damm als erwiesen angenommen werden konnte.

Der im vorliegenden Fall festgestellte Sachverhalt ist - in Fortsetzung der im Erkenntnis vom angestellten Erwägungen - anders zu beurteilen: Die Art und Weise, mit der die Beamten die an der Versammlung teilnehmende Bf. vom Versammlungsort zu entfernen trachteten, kann nicht (mehr) als maßhaltend im Sinne der ständigen Rechtsprechung des VfGH zu Art 3 MRK qualifiziert werden. Ein - überdies mit noch größerer Verletzungsgefahr als das Hinabstoßen verbundenes Hinunterwerfen über den Damm war auch angesichts der damals gegebenen Situation nicht erforderlich, um zu bewirken, daß sich die Manifestanten nicht mehr am Versammlungsort (bzw. am Damm) aufhalten. Es kann der Auffassung der bel. Beh. - wie bereits oben und in der zitierten Vorjudikatur zum Ausdruck gebracht wird - nicht entgegengetreten werden, daß die Auflösung der Versammlung damals nur durch eine gewaltsame Räumung möglich war (wozu auch das Hinunterdrängen vom Damm gehörte), doch ist nicht erkennbar, daß ein Hinunterwerfen von Personen ein adäquates Mittel zur Durchführung dieser Räumung gewesen wäre (was im übrigen auch von der bel. Beh. nicht behauptet wird).

5. Es ist daher auszusprechen, daß die Bf. dadurch, daß sie von Organen der bel. Beh. über eine Dammböschung hinuntergeworfen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wurde.

Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich zu untersuchen, ob durch das inkriminierte Verhalten auch andere (nicht geltend gemachte) Grundrechtsverletzungen eingetreten sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 3.100,-enthalten.

Diese Entscheidung konnte in einer der Norm des § 7 Abs 2 litc VerfGG genügenden Zusammensetzung getroffen werden.