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VfGH 28.06.2023, E653/2023

VfGH 28.06.2023, E653/2023

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Ausreisefreiheit durch Versagung der Ausstellung eines Fremdenpasses an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Grundrecht auf Ausreisefreiheit erfordert die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen und Beachtung der Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt"

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit (Art2 4. ZPEMRK) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger. Er stellte im Jahr 2011 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Jahr 2014 wurde ihm der Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 2015 erteilt, welche in weiterer Folge bis Oktober 2019 verlängert wurde.

Am erteilte die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EU" gem. §45 Abs12 NAG mit Gültigkeit bis . Dieser übermittelte in der Folge seine ihn als subsidiär Schutzberechtigten ausweisende Karte auf Grund eines entsprechenden Schreibens der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Dieses erkannte dem Beschwerdeführer am von Amts wegen den Status als subsidiär Schutzberechtigter ab und informierte ihn ua darüber, dass dadurch die Rechtsgrundlage für den ihm ausgestellten Fremdenpass wegfalle, er sich deshalb um einen afghanischen Reisepass bemühen solle und, sofern ihm ein solcher nicht ausgestellt werden kann, beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Fremdenpass erneut beantragen könne. Der Beschwerdeführer legte gegen diese Entscheidung kein Rechtsmittel ein.

2. Der Beschwerdeführer beantragte am und die Ausstellung eines Fremdenpasses gem. §88 Abs1 Z3 FPG beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und begründete seinen Antrag damit, dass er in der EU reisen können wolle und deshalb die Verlängerung seines alten Passes begehre. Die Behörde wies die Anträge mit Bescheid vom ab, da der Beschwerdeführer das von §88 Abs1 FPG geforderte Interesse der Republik Österreich an der Ausstellung eines Fremdenpasses nicht nachweisen könne.

3. Die dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom , Z W202 2265202-1/2E, als unbegründet ab, weil der Beschwerdeführer die in §88 Abs1 FPG normierten gesetzlichen Voraussetzungen zur Ausstellung eines Fremdenpasses nicht erfülle. Weder der Wunsch innerhalb der EU zu reisen noch die – in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ergänzend vorgebrachte – Erkrankung der Mutter im Iran, die der Beschwerdeführer deshalb besuchen wolle, würden das gesetzlich geforderte Interesse der Republik Österreich begründen. Da auch eine Ausstellung des Fremdenpasses gem. §88 Abs2a FPG auf Grund der Aberkennung der subsidiären Schutzberechtigung des Beschwerdeführers nicht in Frage käme, habe das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge des Beschwerdeführers zu Recht abgewiesen.

4. Dagegen richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der Bedenken gegen die Verfassungskonformität sowohl des angefochtenen Erkenntnisses als auch der diesem zugrundeliegenden Rechtsgrundlage vorgebracht werden.

§88 Abs1 FPG verstoße gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freizügigkeit gem. Art2 4. ZPEMRK, weil das gesetzlich normierte Erfordernis des Interesses der Republik an der Ausstellung eines Fremdenpasses einer Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand des Art2 4. ZPEMRK im Einzelfall entgegenstehe.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Bestimmung des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet auszugsweise wie folgt:

"Ausstellung von Fremdenpässen

§88. (1) Fremdenpässe können, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist, auf Antrag ausgestellt werden für

1. Staatenlose oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen;

2. ausländische Staatsangehörige, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen und nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen;

3. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen und bei denen im Übrigen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels 'Daueraufenthalt – EU' (§45 NAG) gegeben sind;

4. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich das für die Auswanderung aus dem Bundesgebiet erforderliche Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen oder

5. ausländische Staatsangehörige, die seit mindestens vier Jahren ununterbrochen ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben, sofern der zuständige Bundesminister oder die Landesregierung bestätigt, dass die Ausstellung des Fremdenpasses wegen der vom Fremden erbrachten oder zu erwartenden Leistungen im Interesse des Bundes oder des Landes liegt.

(2) Fremdenpässe können auf Antrag weiters ausgestellt werden für Staatenlose, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

(2a) Fremdenpässe sind Fremden, denen in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt und die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen, auf Antrag auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(3) […]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Ausreisefreiheit gemäß Art2 4. ZPEMRK liegt ua dann vor, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zur genannten Bestimmung stehend erscheinen ließe.

2.1. Nach Art2 Abs2 4. ZPEMRK steht es jedermann frei, jedes Land (einschließlich seines eigenen) zu verlassen. Die Ausübung dieses Rechtes darf gemäß Art2 Abs3 4. ZPEMRK keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als denen, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung des ordre public, der Verhütung von Straftaten, des Schutzes der Gesundheit oder der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.

2.2. In seinem Urteil vom , 38.121/20, L.B., hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ua betont, dass das Recht, ein Land zu verlassen, ohne Ausstellung irgendeiner Art von Reisedokument nicht praktisch und effektiv gewährleistet wäre (Z60). Jede Maßnahme, durch die einer Person der Gebrauch eines Dokumentes versagt wird, das ihr – wenn sie es gewünscht hätte – das Verlassen eines Landes erlaubt hätte, stellt einen Eingriff in das durch Art2 4. ZPEMRK gewährleistete Recht dar (Z79, mwN). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im genannten Urteil eine Verletzung von Art2 4. ZPEMRK festgestellt, weil die nationalen Behörden die Ausstellung eines Fremdenpasses verweigert hatten, ohne eine Abwägung im Einzelfall vorgenommen und sichergestellt zu haben, dass eine solche Maßnahme im konkreten Einzelfall gerechtfertigt und verhältnismäßig war (Z96).

2.3. Wie der Verfassungsgerichthof bereits im Erkenntnis vom , E3489/2022, betont hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im zitierten Urteil zugleich festgehalten, dass Art2 Abs2 4. ZPEMRK den Vertragsstaaten keine allgemeine Verpflichtung auferlegt, Ausländern, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, ein bestimmtes Dokument auszustellen, das ihnen Auslandsreisen ermöglicht (Z59). Gleichwohl findet Art2 Abs2 4. ZPEMRK nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte auf Sachverhalte Anwendung, in denen ein Vertragsstaat Personen, die sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, in seiner Rechtsordnung bei Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen ein Recht auf Erlangung eines Fremdenpasses einräumt; der Schutzbereich von Art2 Abs2 4. ZPEMRK erstreckt sich also auf derartige Konstellationen (siehe Zlen 61 f.).

3. Vor diesem Hintergrund ist Folgendes festzuhalten:

3.1. Gemäß §88 Abs1 Z3 FPG können für ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen und bei denen im Übrigen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" (vgl §45 NAG) gegeben sind, auf Antrag Fremdenpässe ausgestellt werden, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist.

3.2. Dem Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen gemäß §88 Abs1 FPG kommt nun insofern grundrechtliche Bedeutung zu, als die Behörde anlässlich eines solchen Antrages die Folgen einer Verweigerung auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art2 4. ZPEMRK prüfen kann und muss (vgl EGMR, L.B., Z96 sowie ).

3.3. Angesichts dessen ist die – auch dem Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG entsprechende (vgl zur prinzipiellen Unbedenklichkeit der Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe etwa mwN) – Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik" liegt in §88 Abs1 FPG auch dann erfüllt, wenn die Verweigerung der Ausstellung eines Fremdenpasses eine Verletzung des durch Art2 4. ZPEMRK gewährleisteten Rechtes auf Ausreisefreiheit und damit einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Republik Österreich zur Gewährleistung dieses Konventionsrechtes bedeuten würde (vgl sowie VfSlg 20.330/2019 zu §28 Abs1 Z1 StbG).

4. Da das Bundesverwaltungsgericht die Ausstellung eines vom Beschwerdeführer beantragten Fremdenpasses verweigert hat, ohne eine Interessenabwägung und damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, hat es §88 Abs1 FPG einen Art2 4. ZPEMRK widersprechenden Inhalt unterstellt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit (Art2 4. ZPEMRK) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Zusatzinformationen


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Normen:
EMRK 4. ZP Art2FremdenpolizeiG 2005 §88, §94StbG 1985 §28 Abs1 Z1NAG §45VfGG §7 Abs1
Schlagworte:
Fremdenrecht, Passwesen, Verhältnismäßigkeit, Interessen geschützte, Recht auf Freizügigkeit, EU-Recht, Entscheidungsbegründung
ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2023:E653.2023

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