VfGH vom 09.06.2017, E484/2017 ua
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Bulgariens sowie Anordnung der Außerlandesbringung infolge Unterlassens eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens zur Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien; Widerspruch zwischen rechtlicher Beurteilung und Länderfeststellungen
Spruch
I.Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1.Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan. Die Erst- und Zweitbeschwerdeführer sind Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer (Drittbeschwerdeführerin geb. 2012, Viertbeschwerdeführer geb. 2014). Am stellten sie Anträge auf internationalen Schutz. Ausweislich einer EURODAC-Abfrage waren sie zuvor in Bulgarien erkennungsdienstlich behandelt worden und hatten dort am Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
Am richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein auf Art 18 Abs 1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Ersuchen auf Wiederaufnahme der Beschwerdeführer an Bulgarien. Mit Schreiben vom erklärten sich die bulgarischen Behörden zur Wiederaufnahme bereit.
2.Mit Bescheiden vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – ohne in die Sache einzutreten – die Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig zurück und sprach aus, dass Bulgarien zur Prüfung der Anträge zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer angeordnet und ausgesprochen, dass die Abschiebung nach Bulgarien zulässig sei.
3.Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der Beschwerdeführer wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom ab. Aus den – bereits in den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl enthaltenen und auch im Erkenntnis gekürzt abgedruckten – Feststellungen zur Lage in Bulgarien geht hinsichtlich der Unterbringung von Asylwerbern u.a. Folgendes hervor:
"Die Unterbringungsbedingungen sind Berichten zufolge nicht zufriedenstellend, da sie sich nach Verbesserungen 2014 im Laufe des Jahres 2015 wieder verschlechtert haben. Es gibt in den Zentren zwei Mahlzeiten am Tag, außer für Kinder unter 18 Jahren, welche drei Mahlzeiten erhalten. Es gibt aber Kritik bezüglich Regelmäßigkeit und Qualität der Verpflegung (AIDA 10.2015; vgl. ECRE/ELENA 2.2016).
[…]
Es gibt weiterhin Bedenken bezüglich der Unterbringungsbedingungen von AW, vor allem betreffend Verpflegung, Unterbringung und medizinischer Versorgung (AI )." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)
Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Abweisung der Beschwerden insbesondere damit, dass nicht erkannt werden könne, dass auf Grund der bulgarischen Rechtslage und/oder Vollzugspraxis systematische Verletzungen von Rechten gemäß der EMRK erfolgen würden. Betreffend die Versorgungslage führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus:
"Im Hinblick auf die Versorgung von Asylsuchenden und die Durchführung von Asylverfahren in Bulgarien ist darauf hinzuweisen, dass nach der UNHCR-Empfehlung vom April 2014 eine Verbesserung der Situation von Flüchtlingen eingetreten ist und die in den Berichten von UNHCR vom Jänner und Februar 2014 empfohlene Aussetzung von Rückführungen nach Bulgarien nicht aufrechterhalten wird. Vielmehr sind Einzelfallprüfungen vorzunehmen. Gerade eine solche Einzelfallprüfung, wie sie im gegenständlichen Verfahren erfolgt, ergibt jedoch, dass die Beschwerdeführer, die keiner vulnerablen Personengruppe angehören, in Bulgarien kein 'real risk' einer Verletzung ihrer Rechte zu befürchten haben. Im Falle einer Überstellung haben sie Behördenkontakt, sodass ihnen, entsprechend den Feststellungen, Unterkunft und Verpflegung zustehen. Vor diesem Hintergrund gehen die Beschwerdeeinwendungen, wonach im Falle einer Überstellung nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden könne, dass die Antragsteller in Bulgarien ein Asylverfahren nach europäischen Standards sowie ausreichende Versorgung und Unterbringung erhalten, ins Leere."
4.Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art 144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend führen die Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht auf das zur Beurteilung der Situation von Asylwerbern in Bulgarien herangezogene Berichtsmaterial eingegangen sei.
5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001)oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3.Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1.Die Entscheidung, einen Fremden auszuweisen oder in anderer Form außer Landes zu schaffen, kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
3.2.Dies gilt – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 3 Abs 2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO – auch dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß Dublin III-VO für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrages zuständig ist. Insofern muss geprüft werden, ob es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, den zur Beurteilung der Verpflichtung zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und zu würdigen (vgl. VfSlg 19.264/2010, 19.794/2013, 19.878/2014, 20.021/2015). Zur Situation von vulnerablen Personen hat der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach die Bedeutung der zur Versorgungslage besonders schutzwürdiger Personen getroffenen Länderfeststellungen hervorgehoben (vgl. ua. und E1622/2015 ua.).
3.3.Vor diesem Hintergrund hat es das Bundesverwaltungsgericht aber in entscheidungswesentlichen Punkten unterlassen nähere Ermittlungen anzustellen und sich mit der aktuellen Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien auseinanderzusetzen:
3.3.1.Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung unter Zugrundelegung der UNHCR-Empfehlung vom April 2014 hinsichtlich der Versorgung von Asylsuchenden und der Durchführung von Asylverfahren in Bulgarien davon aus, dass eine Verbesserung eingetreten sei und die Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Bulgarien "kein 'real risk' einer Verletzung ihrer Rechte zu befürchten" hätten.
3.3.2.Diese Annahmen stehen jedoch im Gegensatz zu den im Erkenntnis wiedergegebenen Länderfeststellungen: Diesen zufolge hätten sich die Unterbringungsbedingungen im Laufe des Jahres 2015 wieder verschlechtert und seien nicht zufriedenstellend (vgl. zB AIDA, National Country Report Bulgaria [10.2015]; ECRE/ELENA, Research Note: Reception conditions, detention and procedural safeguards for asylum seekers and content of international protection status in Bulgaria [2.2016]; AI, Amnesty International Report 2015/16 – Bulgaria []; aus diesen ergibt sich u.a. die "Vervierfachung der Zahl von Flüchtlingen und Migranten" im Jahr 2015 im Vergleich zur spürbaren Abnahme der Ankünfte im Jahr 2014 [AI, ]; es wird auf nicht zufriedenstellende Unterbringungsbedingungen hingewiesen und es werden Bedenken hinsichtlich der Verpflegung und medizinischen Versorgung geäußert [AIDA, 10.2015; ECRE/ELENA, 2.2016; AI, ]). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in der rechtlichen Beurteilung jedoch nicht mit diesen Feststellungen zur Versorgungslage auseinandergesetzt (vgl. zum Widerspruch zwischen rechtlicher Beurteilung und Länderfeststellungen ). Im Übrigen hat es auch den – zum Zeitpunkt des Erkenntnisses bereits bekannten – UNHCR-Bericht vom (Bulgaria: UNHCR concerned about calls for expulsions following tensions at overcrowded and substandard reception centre for asylum-seekers) außer Acht gelassen, der ebenfalls die Verschlechterung der Versorgungslage in Bulgarien aufzeigt.
3.3.3.Schließlich entbindet auch der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes () dieses nicht davon, sich vor dem Hintergrund der geänderten Sachlage, wie sie sich auch aus dem im Erkenntnis wiedergegebenen Berichtsmaterial ergibt, mit diesem auseinanderzusetzen.
3.3.4.Da es das Bundesverwaltungsgericht – vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern (Drittbeschwerdeführerin geb. 2012, Viertbeschwerdeführer geb. 2014) handelt – unterlassen hat, das zum Entscheidungszeitpunkt vorgelegene Berichtsmaterial zum bulgarischen Asylsystem, das die für Asylwerber in Bulgarien neu entstandene Versorgungssituation berücksichtigt hätte, in der rechtlichen Beurteilung der Entscheidung heranzuziehen und zu würdigen, ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl. VfSlg 19.878/2014, 20.021/2015).
III.Ergebnis
1.Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, war der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen Streitgenossenzuschlag von 20 vH des Pauschal-satzes, zuzusprechen (s. ua.; ferner VfSlg 18.836/2009; ; , B1244/2013; , B1503/2013; , E1085/2016 ua.). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 523,20 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die beschwerdeführenden Parteien Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießen.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2017:E484.2017 |
Schlagworte: | Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung |
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