VfGH vom 13.06.1989, b34/89
Sammlungsnummer
12059
Leitsatz
Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung; wesentlicher verfahrensrechtlicher Fehler bei der Beweiswürdigung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist verpflichtet, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Vertreters die mit S 15.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK) wies mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom einen vom Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf § 2 Abs 1 Zivildienstgesetz 1986 (ZDG) gestellten Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht - nach mündlicher Verhandlung - gemäß § 2 Abs 1 iVm § 6 Abs 1 ZDG ab.
2. Gegen diesen Bescheid der ZDOK richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher sich der Beschwerdeführer in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung sowie auf Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt erachtet und die Aufhebung des Bescheides begehrt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die belangte Behörde hat ihren Bescheid wie folgt begründet:
"Infolge der komplexen, zahlreiche auch intuitiv verlaufende Wertungsvorgänge in sich schließenden Natur der freien Beweiswürdigung (vgl. etwa VfGH B376/82, B128/83 und B304/83) kann nur sehr grob umrissen werden, was den Senat zu dieser Ansicht führte, zumal sich Ausdrucksbewegungen während eines Gesprächs, die oft entscheidend dazu beitragen, einem Menschen Glauben zu schenken oder zu versagen, einer Verbalisierung weitestgehend entziehen.
Es muß daher mit den globalen Bemerkungen sein Bewenden haben, daß der Antragsteller bei den seine Gewissensphäre betreffenden Angaben - das menschliche Leben sei für ihn das höchste Gut und er könne daher gegen einen anderen Menschen nie mit mörderischen Waffen vorgehen; die Hauptwurzel für diese Einstellung liege darin, daß seine Mutter vor vier Jahren von seinem Onkel mit einem Gewehr erschossen worden sei, sein Onkel habe nach der Tat Selbstmord verübt; er habe sich damals geschworen, in seinem künftigen Leben auf Gewalt zu verzichten - insgesamt nicht wie ein junger Mann wirkte, der eine gefestigte innere Einstellung - die ja nicht mit einer bloßen Meinung verwechselt werden darf - zum Ausdruck bringt. Insbesondere gelang es ihm nicht, dem Senat glaubhaft, das heißt objektiv wahrscheinlich zu machen, daß der Mord an seiner Mutter bei ihm eine grundsätzliche und vorbehaltslose Ablehnung jeglicher Waffengewalt - also auch im Verteidigungsfalle - bewirkte, er sonach im Falle der Präsenzdienstleistung tatsächlich in einen schweren Gewissenskonflikt geraten würde. Zu wenig Nachdruck war bei den betreffenden Äußerungen zu erkennen, zu schwach erschien die innere Anteilnahme bei Äußerung der Erklärung, das menschliche Leben sei für ihn das höchste Gut und er könne daher gegen andere Menschen nicht mit Waffen vorgehen.
Daß auch die Angaben zu der vom Antragsteller angeblich bevorzugten gewaltfreien Verteidigung relativ substanzlos verblieben und sich auf die Wiedergabe einiger der üblichen Wendungen beschränkten - Versuch, mit dem Angreifer zu reden; Blockierung von Verkehrswegen um den Vormarsch zu hindern - rundet das Bild und deutet gleichfalls in die Richtung geringer innerer Anteilnahme an der Gesamtmaterie. Um diesbezüglich allfälligen Mißverständnissen vorzubeugen sei betont, daß nicht das mangelnde Wissen, sondern lediglich der Umstand negativ bewertet wird, daß sich der Antragsteller mit dem Gebiet der gewaltfreien Verteidigung nicht näher befaßte, obwohl er sie für die bessere Verteidigungsmethode hält. Dieser Mangel nämlich läßt darauf schließen, daß ihm das gesamte Thema nicht sehr am Herzen liegt und dies wiederum spricht gegen eine gefestigte innere Einstellung auch in Ansehung des Waffengebrauchs."
2. In der Beschwerde wird im wesentlichen vorgebracht, die Gewissensnot sei durch die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse des Beschwerdeführers glaubhaft bescheinigt worden. Eine schwere innere Gewissensnot sei auch dann anzunehmen, wenn eine gefestigte Überzeugung gegen den Wehrdienst mit der Waffe nicht eine außergewöhnliche, also einem unwiderstehlichen Zwang gleichzuhaltende Intensität aufweise, sondern, wie im vorliegenden Fall, auf ernsthaften inneren, höchstpersönlichen Erfahrungen beruhe. Da der Beschwerdeführer versuche, den Verlust seiner Mutter zu verdrängen, hätte die belangte Behörde sich damit näher befassen müssen, die ZDOK sei jedoch auf dieses Thema nicht näher eingegangen, da es ihr aufgefallen sei, daß es für den Beschwerdeführer nur sehr schwer möglich sei, über dieses Thema zu reden.
Die belangte Behörde habe "gegen das Verfahrensrecht" verstoßen, da die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Verantwortungen nicht umfassend behandelt worden seien. Die belangte Behörde sei in der Berufungsverhandlung eher versucht gewesen, auf das Thema der Ermordung der Mutter des Beschwerdeführers nicht näher einzugehen.
3. Die Verfassungsbestimmung des § 2 Abs 1 ZDG besagt, daß Wehrpflichtige im Sinn des Wehrgesetzes 1978, BGBl. 150, auf ihren Antrag (und zwar nach Maßgabe des § 5 Abs 1 und 3 ZDG, der das Antragsrecht - in hier allerdings unerheblicher Weise - beschränkt) von der Wehrpflicht zu befreien sind, wenn sie es - von Fällen der persönlichen Notwehr oder Nothilfe abgesehen - aus schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen ablehnen, Waffengewalt gegen andere Menschen anzuwenden und daher bei Leistung des Wehrdienstes in schwere Gewissensnot geraten würden; sie sind zivildienstpflichtig. Der Verfassungsgerichtshof vertritt in seiner mit VfSlg. 8033/1977 eingeleiteten ständigen Rechtsprechung die Auffassung, daß diese Vorschrift das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung beinhaltet (vgl. auch VfSlg. 9391/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9971/1984, 9985/1984, 10021/1984).
Dieses Grundrecht wird nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes nicht bloß dadurch verletzt, daß die Behörde die im § 2 Abs 1 ZDG umschriebenen materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Wehrpflichtbefreiung unrichtig beurteilt; eine solche Verletzung ist - da sich der Schutzumfang des Grundrechtes auf die für den Nachweis der Voraussetzungen maßgebende Vorgangsweise der Glaubhaftmachung (Bescheinigung) miterstreckt - auch dann gegeben, wenn der Behörde wesentliche Verstöße in diesem verfahrensrechtlichen Bereich unterlaufen oder wenn sie dem Antragsteller überhaupt die Möglichkeit nimmt, das Vorliegen der materiellen (Befreiungs-)Bedingungen glaubhaft zu machen (vgl. zB VfSlg. 8787/1980, 9549/1982, 9842/1983, 9985/1984, 10980/1986).
Wie der Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang schon wiederholt aussprach (VfSlg. 8268/1978, 8391/1978, 9785/1983, 9985/1984), zählen zu den hier wahrzunehmenden Verstößen auf verfahrensrechtlichem Gebiet auch wesentliche Fehler bei der Beweiswürdigung einschließlich der Würdigung der Parteiaussage als Bescheinigungsmittel.
4. Auch die belangte Behörde stellt in der Begründung des angefochtenen Bescheides an sich nicht in Abrede, daß nach der allgemeinen Lebenserfahrung ein Ereignis wie die Ermordung der Mutter durch den Onkel bei einem 14-jährigen Buben eine grundsätzliche und vorbehaltslose Ablehnung jeglicher Waffengewalt bewirken kann, welche im Falle der (späteren) Präsenzdienstleistung eine schwere Gewissensnot herbeiführt. Wenngleich einzuräumen ist, daß ein solches tragisches Ereignis auch bei einem jungen Menschen nicht immer zu derartigen Konsequenzen führen muß, ist die im angefochtenen Bescheid für die mangelnde Glaubhaftmachung der schweren Gewissensnot dazu gegebene (einzige) Begründung, es sei zu wenig Nachdruck und eine zu schwache innere Anteilnahme bei den betreffenden Äußerungen des Beschwerdeführers zu erkennen gewesen, nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes nicht hinreichend für eine Abweisung des Antrages auf Befreiung von der Wehrpflicht. Es darf nämlich nicht außer Betracht gelassen werden, daß es einem Menschen oft gerade dann nur schwer möglich ist, sich mit einem Geschehen nach außen hin auseinanderzusetzen, wenn ihn dieses Ereignis zutiefst getroffen und bewegt hat.
Daß die belangte Behörde sich in diesem für den vorliegenden Fall wohl entscheidenden Punkt mit den hier gegebenen spezifischen Umständen nicht hinreichend auseinandergesetzt hat, stellt einen wesentlichen (verfahrensrechtlichen) Fehler bei der Beweiswürdigung im Sinne der oben unter Pkt. 3. zitierten ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes dar.
5. Der Beschwerdeführer ist daher durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzt worden.
Der Bescheid ist infolgedessen aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Fundstelle(n):
EAAAE-13548