VfGH vom 11.06.2018, E435/2018

VfGH vom 11.06.2018, E435/2018

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz eines nigerianischen Staatsangehörigen und Anordnung der Außerlandesbringung; unzulässige Verneinung eines Familienlebens zwischen dem bei Pflegeeltern lebenden Sohn und seinem leiblichen Vater

Spruch

I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Italien am unter der Identität des ***** *******, geboren am . Den zweiten Antrag auf internationalen Schutz stellte der Beschwerdeführer am in der Schweiz. Den dritten Antrag auf internationalen Schutz stellte der Beschwerdeführer in Österreich am unter der Identität des ***** *****, geboren am . Nach Zurückweisung dieses Antrages wurde der Beschwerdeführer nach Italien überstellt. Am stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Begründend führte er aus, dass er sich nach seiner Überstellung nach Italien ca. vier Monate dort aufgehalten habe und dann nach Österreich zurückgekehrt sei, um mit seiner Freundin, die er zwischenzeitig geheiratet habe, gemeinsam leben zu können. Den neuen Antrag auf internationalen Schutz begründet der Beschwerdeführer mit der Geburt seines Sohnes am ; er halte es für besser, wenn er mit der Kindesmutter, einer österreichischen Staatsangehörigen, und seinem Sohn in Österreich leben würde.

2.Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen zweiten Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 als unzulässig zurück, erteilte dem Beschwerdeführer auch keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, sondern ordnete die Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs 2 FPG an und sprach die Zulässigkeit der Abschiebung nach Italien aus. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Italien subsidiären Schutz erhalten habe. Ein gemeinsames Familienleben sei mangels gemeinsamen Wohnsitzes und auf Grund von Streit und Spannungen in der Ehe nicht gegeben.

Die dagegen erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wendete im Wesentlichen das Bestehen eines Familienlebens mit seinem Sohn ein. Der Beschwerdeführer würde von der Kindesmutter getrennt leben und es bestünde trotz aufrechter Ehe kein Kontakt mehr zu ihr, weil diese eine Beziehung mit einem anderen Mann eingegangen sei und mit diesem ein Kind habe. Der Sohn sei der Mutter durch das Jugendamt abgenommen worden, weil sich diese nicht ausreichend um ihn gekümmert habe. Die Obsorge für den Sohn sei dem Beschwerdeführer wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus nicht zugesprochen worden.

3.Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab und sprach die Unzulässigkeit der Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 133 Abs 4 B-VG aus. Eine mündliche Verhandlung konnte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG unterbleiben.

Hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Zurückweisung nach § 4a AsylG 2005 zu Recht erfolgt sei, weil dem Beschwerdeführer in Italien der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zukomme.

Hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung verneint das Bundesverwaltungsgericht ein relevantes Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn, weil sich dieser in der Obhut des Jugendamtes befinde. Ein aufrechtes Familienleben mit der Kindesmutter, mit welcher der Beschwerdeführer noch verheiratet sei, könne ebenfalls ausgeschlossen werden, weil sich diese einem anderen Mann zugewandt und mit diesem ein Kind gezeugt habe. Hinzu komme, dass sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Entstehens seiner familiären Beziehungen seines unsicheren Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet bewusst gewesen sein müsste.

4.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung Fremder untereinander, auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie im Recht nach Art 47 GRC auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

4.1.In der Beschwerde wird dem Bundesverwaltungsgericht zum einen Willkür vorgeworfen, weil es in einem entscheidenden Punkt, nämlich bei der Frage, welchen Aufenthaltstitel der Beschwerdeführer in Italien inne habe, jede Ermittlungstätigkeit unterlassen habe. Dem Erkenntnis seien keine Ermittlungen zu entnehmen, ob dem Beschwerdeführer tatsächlich der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zugekommen sei, er diesen Status zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides erster Instanz – mehr als vier Jahre nach dem Aufgriff des Beschwerdeführers im August 2013, bei dem ein "Fremdenpass für subsidiär Schutzberechtigte" von Italien sichergestellt worden sei – auch noch besessen habe oder etwa zwischenzeitig aberkannt worden sei.

4.2.Zum anderen wird eine verfassungswidrige Interessenabwägung moniert: Der Beschwerdeführer habe schon in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht sowie im Rahmen der niederschriftlichen Befragung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgeführt, sich ernstlich um die Übertragung der Obsorge für seinen Sohn zu bemühen. Darüber hinaus fehle eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Konsequenzen die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Wohl des minderjährigen Sohnes haben werde, der als einziger leiblicher Elternteil für die Übertragung der Obsorge in Frage komme. Dem Bundesverwaltungsgericht sei daher vorzuwerfen, dass es das Kindeswohl des derzeit bei Pflegeeltern untergebrachten minderjährigen Sohnes des Beschwerdeführers, der eine starke Bindung zum Beschwerdeführer ausweise, völlig unberücksichtigt gelassen habe. Vor diesem Hintergrund wäre das Bundesverwaltungsgericht auch verpflichtet gewesen, in einer mündlichen Verhandlung den Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Kontakte zu seinem Sohn und seiner Absicht, das Sorgerecht zu beantragen, ebenso anzuhören, wie die Kinder- und Jugendhilfe.

5.Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah jedoch – ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1.Das Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012, idF BGBl I 145/2017, lautet auszugsweise:

"Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

§3. (1) Behörde im Inland nach diesem Bundesgesetz ist das Bundesamt mit bundesweiter Zuständigkeit.

(2) Dem Bundesamt obliegt

1. […]

2. die Gewährung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß dem AsylG 2005,

3. die Anordnung der Abschiebung, die Feststellung der Duldung und die Voll-streckung von Rückführungsentscheidungen von EWR-Staaten gemäß dem 7. Hauptstück des FPG,

4. die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gemäß dem 8. Hauptstück des FPG,

[5. - 7. …]

[…]

Bundesverwaltungsgericht

§7. (1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über

1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes,

[2. - 5. …]

[…]

Schutz des Privat- und Familienlebens

§9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

[…]

Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§21. [(1) - (6a) …]

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

2.Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 145/2017, lautet auszugsweise:

"Drittstaatsicherheit

§4. [(1) - (4) …]

(5) Kann ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß Abs 1 als unzulässig zurückgewiesen wurde, aus faktischen Gründen, die nicht in seinem Verhalten begründet sind, nicht binnen drei Monaten nach Durchsetzbarkeit der Entscheidung zurückgeschoben oder abgeschoben werden, tritt die Entscheidung außer Kraft.

Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz

§4a. Ein Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn dem Fremden in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und er dort Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, in welchen Staat sich der Fremde zurück zu begeben hat. § 4 Abs 5 gilt sinngemäß.

[…]

Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme

§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rück-kehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4 oder 4a zurückgewiesen wird,

[2. - 5. …]

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs 9 Z 1 bis 3 vorliegt.

[…]

'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz'

§57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz' zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§382b oder 382e EO,RGBl. Nr 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der 'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz' zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der 'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz' eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.

[…]

Antragstellung und amtswegiges Verfahren

§58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4 oder 4a zurückgewiesen wird,

[2. - 5. …]"

3.§61 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 24/2016, lautet:

"Anordnung zur Außerlandesbringung

§61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs 1 AVG oder

2. er in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Mitgliedstaat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung dieses Antrages zuständig ist. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

(3) Wenn die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen, die in der Person des Drittstaatsangehörigen liegen, eine Verletzung von Art 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.

(4) Die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird."

III.Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.§10 AsylG 2005 regelt u.a., welche Arten von Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz mit einer Anordnung der Außerlandesbringung nach § 61 FPG zu verbinden sind.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer in Art 8 EMRK eingreifenden Anordnung zur Außerlandesbringung nur zulässig im Falle ihrer dringenden Erforderlichkeit zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele. Dabei sind nach § 9 Abs 2 BFA-VG unter anderem die Art, Dauer und Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des bisherigen Aufenthaltes, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts sowie das Wissen um den unsicheren Aufenthaltsstatus im Zeitpunkt des Entstehens eines Privat- und Familienlebens des Fremden zu berücksichtigen.

2.Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1.Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seiner Entscheidung vom , E1349/2016, unter Bezugnahme auf sein Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

3.2.Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art 8 Abs 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR , Fall Berrehab, Appl. 10.730/84 [Z21]; , Fall Keegan, Appl. 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR , Fall Gül, Appl. 23.218/94 [Z32], ÖJZ 1996, 593). Das Zusammenleben zwischen einem Elternteil und dem Kind ist dabei keine unabdingbare Voraussetzung für das Vorhandensein eines Familienlebens iSv Art 8 Abs 1 EMRK (EGMR , Fall Boughanemi, Appl. 22.070/93 [Z33 und 35], ÖJZ 1996, 834; VfSlg 16.777/2003; ).

Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-rechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl. VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR , Fall Margareta und Roger Andersson, Appl. 12.963/87 [Z72] mwN, ÖJZ 1992, 552; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR , Fall Schneider, Appl. 17.080/07 [Z81] mwN, EuGRZ 2011, 565).

Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art 8 EMRK führen (vgl. VfSlg 19.362/2011 mwN; ; mit Hinweis auf EGMR , Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, newsletter 2006, 26 = ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562, sowie insbesondere EGMR , Fall Nunez, Appl. 55.597/09, newsletter 2011, 169).

3.3.Im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verneint das Bundesverwaltungsgericht das Bestehen eines Familienlebens zwischen dem Beschwerdeführer und seinem im Bundesgebiet lebenden Sohn, weil sich dieser in der Obhut des Jugendamtes befindet. Damit übersieht das Bundesverwaltungsgericht aber, dass die fehlende Obsorge durch den Beschwerdeführer nicht von der grundrechtlichen Verpflichtung entbindet, die konkreten Auswirkungen einer Außerlandesbringung auf die Beziehung des Beschwerdeführers und das Wohl seines Sohnes zu ermitteln (vgl. allgemein zu dieser Verpflichtung VfSlg 19.362/2011 mwN; ). Das Bundesverwaltungsgericht stellt keine näheren Ermittlungen oder Überlegungen an (und führt auch keine mündliche Verhandlung durch) zur Frage, welche konkreten Auswirkungen eine Aufenthaltsbeendigung des Vaters auf die Beziehung zu und das Wohl des Sohnes haben würde. Während im erstinstanzlichen Bescheid festgestellt worden war, dass der gemeinsame Sohn bei der Kindesmutter aufhältig gewesen sei und sich der Kontakt des Beschwerdeführers zu seinem Sohn in Form von Besuchen ein bis vier Mal pro Woche ereignet hätte, führt der Beschwerdeführer in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Sohn zwischenzeitig der Mutter vom Jugendamt abgenommen worden sei, weil sich die Ehefrau des Beschwerdeführers nicht ausreichend um den Sohn kümmern hätte können. Das Bundesverwaltungsgericht stellt trotz des Umstandes, dass der Sohn nunmehr nicht mehr bei seiner Mutter, sondern bei Pflegeeltern aufhältig ist, keine näheren Nachforschungen zum (weiterhin behaupteten) bestehenden Kontakt zwischen Beschwerdeführer und seinem Sohn im Rahmen von Besuchskontakten an. Zudem geht das Bundesverwaltungsgericht in keiner Weise auf das Vorbringen des Beschwerdeführers in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ein, dass ihm die Obsorge für seinen Sohn, die ihm zuvor im Bereich Pflege und Erziehung gemeinsam mit seiner Ehefrau und in den Teilbereichen gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung zur alleinigen Ausübung übertragen worden war, nach der Trennung von seiner Ehefrau nur deshalb nicht zugesprochen worden sei, weil sein Aufenthaltsstatus in Österreich nicht geklärt sei. Diese Angaben werden in einem Schreiben des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 11, vom bestätigt. Aus dem Schreiben geht zudem hervor, dass der Beschwerdeführer seinen Sohn, der bei Pflegeeltern untergebracht wurde, weiterhin regelmäßig – wie bereits im erstinstanzlichen Bescheid hinsichtlich von Besuchen des zum damaligen Zeitpunkt noch bei der Mutter aufhältigen Sohnes festgestellt wurde – im Rahmen von Besuchskontakten besucht und der Kontakt zum Beschwerdeführer im Interesse des Kindes liegt.

3.4.Indem das Bundesverwaltungsgericht auf sämtliche diese Vorbringen in keiner Weise eingeht, sondern unter Außerachtlassung eines wesentlichen Aspektes des Kindeswohles (und des damit in Zusammenhang stehenden Parteivorbringens) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem Hinweis auf die Unterbringung des Sohnes bei Pflegeeltern das Nichtbestehen eines relevanten Familienlebens annimmt, hat es seiner Entscheidung einen nicht von Art 8 EMRK gedeckten Inhalt unterstellt.

IV.Ergebnis

1.Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießt.

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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2018:E435.2018
Schlagworte:
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Privat- und Familienleben, Kinder

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