VfGH vom 05.10.2011, b31/11
Sammlungsnummer
19519
Leitsatz
Willkürliche Enteignung von Flächen für ein Straßenbauvorhaben; keine Begründung für die Notwendigkeit der Heranziehung der Grundstücke des Beschwerdeführers
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Das Land Steiermark ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I.
1. Mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom wurden für die Ausführung des Straßenbauvorhabens an der Landesstraße B 317 im Baulos "St. Georgen o.J. - Scheifling" näher bestimmte Teilflächen und sonstige Anlagen gemäß §§48 bis 50 Steiermärkisches Landes-Straßenverwaltungsgesetz 1964 (in der Folge: Stmk. LStVG) dauernd und lastenfrei zugunsten des Landes Steiermark, Landesstraßenverwaltung, enteignet und wurde die Höhe der Entschädigung für den Beschwerdeführer festgesetzt. Das Land Steiermark, Landesstraßenverwaltung, wurde dazu verpflichtet, die Entschädigungsbeträge binnen zwölf Wochen nach Rechtskraft des Bescheides zur Auszahlung zu bringen.
1.1. Die Enteignung erfolgte auf den von der Fachabteilung 18A, Gesamtverkehr und Projektierung, als Landesstraßenverwaltung namens des Landes Steiermark gestellten Antrag auf Ablösung der Grundstücke, Objekte und sonstigen Anlagen, die für die Ausführung des Straßenbauvorhabens an der Landesstraße B 317 im Baulos "St. Georgen o.J. - Scheifling" in Anspruch genommen werden müssten. Für dieses Baulos war mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom die straßenrechtliche Bewilligung erteilt worden. Über den Antrag des Landes Steiermark wurden am eine örtliche Erhebung sowie eine mündliche Verhandlung durchgeführt.
1.2. In ihrer Begründung stützt sich die belangte Behörde zunächst auf das zur Bewertung der enteigneten Grundstücke eingeholte Gutachten des Sachverständigen für Liegenschaftsbewertung, in dem dieser die Entschädigungssumme im Rahmen des Vergleichswertverfahrens ermittelt hat. In der Folge wird die im Zuge der mündlichen Verhandlung durch den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erstattete Stellungnahme wiedergegeben und von der belangten Behörde als nicht relevant beurteilt, da die Einwendungen sich auf das bereits abgeschlossene straßenrechtliche Bewilligungsverfahren bezüglich der Bundesstraße S 36 sowie der Landesstraße B 317 beziehen würden.
1.3. Schließlich wird in der Bescheidbegründung Folgendes ausgeführt:
"Diese Entscheidung stützt sich auf die im Spruche angeführten gesetzlichen Bestimmungen sowie auf das Ergebnis der Ortsverhandlung, insbesondere auf das hiebei vom gerichtlich zertifizierten Sachverständigen abgegebene Gutachten.
Die Inanspruchnahme der im Spruch näher bezeichneten Grundstücke und sonstigen Anlagen, wie sie im Enteignungsplan ausgewiesen sind, ist für die von der Steiermärkischen Landesregierung genehmigte Ausführung des Straßenbauvorhabens an der Landesstraße Nr. B 317, Friesacher Straße im Baulos 'St. Georgen o.J.
- Scheifling' erforderlich."
2. In der dagegen erhobenen, auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird einerseits die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm, nämlich der Trassenverordnung der "S 36 Judenburg - Scheifling", andererseits die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz "wegen eines im Kern begründungslos ergangenen Bescheides" behauptet.
Zum Willkürvorwurf führt der Beschwerdeführer aus, dass die belangte Behörde sich mit den Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die rechtliche Zulässigkeit des Projektes gar nicht auseinandergesetzt habe. Dabei übersehe die belangte Behörde, dass nicht nur die im Bescheid wiedergegebenen Einwendungen, sondern auch umfangreiche schriftliche Einwendungen erhoben worden seien. Die im Bescheid enthaltenen Ausführungen seien in keiner Weise begründet, nicht einmal durch ein Gesetzeszitat.
Nach § 50 Stmk. LStVG sei über die Notwendigkeit, dh. die generelle Rechtmäßigkeit der Enteignung, im Enteignungsverfahren selbst abzusprechen. Dass im Enteignungsverfahren nur mehr über den Umfang der Enteignung und die Höhe der Entschädigung abzusprechen sei, nicht aber über die Notwendigkeit, widerspreche dem Wortlaut dieser Bestimmung.
3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde unter Kostenersatz beantragt. Im Wesentlichen führt sie aus, dass der Beschwerdeführer es in dem mit Bescheid vom abgeschlossenen straßenrechtlichen Verfahren unterlassen habe, Einwendungen gegen die rechtliche Zulässigkeit des Vorhabens zu erheben. Im Enteignungsverfahren könnte nur eingewendet werden, dass die zu enteignenden Flächen gar nicht oder zumindest nicht im beantragten Umfang zur Realisierung des straßenbaurechtlich genehmigten Projekts erforderlich seien. Mit dem Begriff der Notwendigkeit iSd § 50 Stmk. LStVG sei nicht die "generelle Rechtmäßigkeit der Enteignung als solcher", sondern die Notwendigkeit der Heranziehung des im konkreten Fall zu enteignenden Grundstückes gemeint. Jede andere Interpretation würde die Durchführung des zugrundeliegenden straßenbaurechtlichen Bewilligungsverfahrens, in dem das öffentliche Interesse am Bauvorhaben und somit auch die Notwendigkeit geprüft werde, "ad absurdum führen".
II.
1. § 50 Stmk. LStVG, LGBl. 154/1964 idF LGBl. 60/2008, lautet in seinen maßgeblichen Teilen wie folgt:
"§50.
Enteignungsverfahren
(1) Über die Notwendigkeit, den Gegenstand und Umfang der Enteignung entscheidet die im § 49 genannte Behörde unter sinngemäßer Anwendung der Abschnitte II und IV des Eisenbahn-Enteignungsentschädigungsgesetzes, wobei auch auf die Wirtschaftlichkeit der Bauausführung Rücksicht zu nehmen ist. Kommen hiebei Grundstücke in Betracht, die öffentlichen Zwecken dienen, so ist im Einvernehmen mit den zur Wahrung dieser öffentlichen Interessen zuständigen Behörden vorzugehen.
(2) Das Enteignungserkenntnis hat zugleich eine Bestimmung über die Höhe der Entschädigung zu enthalten. Diese ist auf Grund der Schätzung beeideter unparteiischer Sachverständiger unter Beobachtung der im Abschnitt II des Eisenbahn Enteignungsentschädigungsgesetzes aufgestellten Grundsätze zu ermitteln. Insbesondere hat der Wert der besonderen Vorliebe sowie die Werterhöhung, welche der Gegenstand der Enteignung infolge der Anlage der Straße erfährt, bei der Berechnung der Entschädigung außer Betracht zu bleiben.
(3) - (5) ..."
2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
2.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.
Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften - mangels Präjudizialität der Trassenverordnung zur S 36 Murtal Schnellstraße stellt sich die in der Beschwerde aufgeworfene Frage der Gesetzmäßigkeit dieser nicht - und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass die Behörde diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn die Behörde Willkür geübt hätte.
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002). Darüber hinaus begründet das Unterlassen jeglicher Begründung nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Willkür VfSlg. 12.477/1990, 15.409/1999, 15.696/1999, 17.050/2003).
2.2. Auf Grund der folgenden Überlegungen ist der belangten Behörde hier - objektiv - willkürliches Verhalten vorzuwerfen:
Die belangte Behörde nimmt im bekämpften Bescheid keine Prüfung iSd § 50 Abs 1 Stmk. LStVG, ob die Voraussetzung der Notwendigkeit der Enteignung gegeben ist, vor und unterlässt es gänzlich, darzulegen, weshalb sie vom Vorliegen dieser Voraussetzung ausgeht.
Zwar ist der belangten Behörde, soweit diese in ihrer Gegenschrift vorbringt, dass mit dem Begriff der Notwendigkeit iSd § 50 Stmk. LStVG "nur" die Notwendigkeit der Heranziehung des im konkreten Fall zu enteignenden Grundstückes gemeint ist, zuzustimmen:
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Grundlage des Enteignungsverfahrens jene Gestaltung des Straßenbauvorhabens, die dieses durch den gemäß § 47 Abs 3 Stmk. LStVG zu erlassenden straßenbaurechtlichen Bewilligungsbescheid erhalten hat; im Enteignungsverfahren ist daher nicht mehr die Notwendigkeit des Straßenbaus, sondern nur die Notwendigkeit der Heranziehung der betroffenen Grundflächen für den Straßenbau zu prüfen (; , 96/06/0217; , 2002/06/0079; , 2004/06/0190; , 2007/06/0134).
Wenn sich die belangte Behörde auch nicht mit den Einwendungen des Beschwerdeführers betreffend die Zulässigkeit des Straßenbauvorhabens auseinandersetzen musste, so hat sie im angefochtenen Bescheid doch jegliche Begründung für ihre Annahme der Notwendigkeit der Heranziehung des Grundstücks des Beschwerdeführers unterlassen. Die Pflicht der belangten Behörde zur Begründung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 50 Stmk. LStVG für die Enteignung besteht unabhängig davon, ob der betroffene Liegenschaftseigentümer im Enteignungsverfahren zulässige Einwendungen gegen die Erforderlichkeit der betreffenden Liegenschaftsteile erhoben hat.
Die belangte Behörde wäre zumindest verpflichtet gewesen, in der Begründung des angefochtenen Bescheides jene Bedingung der Zulässigkeit einer Enteignung, dass keine privatrechtliche Einigung zwischen der Landesstraßenverwaltung als Enteignungswerberin und dem Beschwerdeführer über die Höhe der Entschädigung erzielt werden konnte (vgl. VfSlg. 13.579/1993 mwN; vgl. zB auch ), zu prüfen. Der bloße Hinweis, dass sich die Entscheidung auf das Ergebnis der mündlichen Verhandlung stützt, ohne jegliche Ausführung, worum es sich dabei handelt und welche Schlussfolgerungen die belangte Behörde daraus gezogen hat, reicht diesbezüglich nicht aus.
Die Feststellung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid, sich in ihrer Entscheidung insbesondere auf das Sachverständigengutachten zu stützen, vermag keine Begründung der Erforderlichkeit der Inanspruchnahme der im Spruch bezeichneten Grundstücke des Beschwerdeführers darzustellen, da sich dieses Gutachten lediglich auf die Ermittlung der Höhe des Entschädigungsbetrages bezieht.
2.3. Die Behörde ist daher eine Begründung schuldig geblieben, die in einer Weise nachvollziehbar wäre, dass dem Willkürverbot des Gleichheitssatzes entsprochen würde (vgl. VfSlg. 17.050/2003, 18.925/2009). Eine Behörde, die sich mit einer für ihre Entscheidung wesentlichen Frage gar nicht auseinandersetzt, belastet den von ihr erlassenen Bescheid nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes mit Willkür (vgl. etwa VfSlg. 8808/1980, 17.842/2005).
3. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.