VfGH vom 09.06.2016, E389/2016
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags auf subsidiären Schutz eines der tschetschenischen Volksgruppe zugehörigen und vor seiner Ausreise in Dagestan lebenden Staatsangehörigen der Russischen Föderation und Zurückverweisung des Verfahrens hinsichtlich einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mangels Auseinandersetzung mit der Situation in Dagestan bzw den innerstaatlichen Fluchtalternativen; teils Ablehnung der Beschwerdebehandlung
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen und das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein der tschetschenischen Volksgruppe zugehöriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der vor seiner Ausreise in Dagestan gelebt hat, stellte nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei er begründend im Wesentlichen vorbrachte, dass er mehrmals festgenommen worden sei und nach dem Aufenthaltsort seines Onkels – eines in Österreich lebenden anerkannten Flüchtlings – gefragt worden sei; man habe ihm unterstellt, tschetschenische Widerstandskämpfer zu unterstützen.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Asylstatus abgewiesen, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und seines Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgesprochen.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am – mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom gemäß §§3 und 8 Abs 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubwürdig sei, weil die "Fluchtgeschichte bzw. Bedrohungssituation" auf Grund zahlreicher Widersprüche nicht glaubhaft sei. Der Beschwerdeführer habe den Fluchtgrund nicht plausibel geschildert und insbesondere bei der mündlichen Verhandlung kein konkretes, gleichbleibendes und präzises Vorbringen erstattet. Zu § 8 AsylG 2005 führt das Bundesverwaltungsgericht u.a. aus, dass weder aus den Angaben des Beschwerdeführers noch aus den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens ersichtlich sei, dass die nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geforderten exzeptionellen Umstände, die eine Außerlandesschaffung im Widerspruch zu Art 3 EMRK erscheinen lassen, vorliegen würden.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie in den Rechten nach Art 3 und 8 EMRK, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
A. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation richtet, begründet:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Das Vorhandensein einer Unterkunft und die Möglichkeit der Versorgung im Zielstaat können unter dem Gesichtspunkt des Art 3 EMRK relevant sein (VfSlg 19.602/2011 mwN).
2.2. In dem – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen – angefochtenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht zunächst umfangreiche (über 40 Seiten) Feststellungen zur "Situation in der Russischen Föderation" getroffen. Diese Feststellungen befassen sich im Wesentlichen mit der Lage in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation allgemein und setzen sich nur an wenigen Stellen kurz mit der Situation in Dagestan auseinander, obwohl der Beschwerdeführer im Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz angegeben hat, in einem Dorf in Dagestan geboren zu sein und dort bis zu seiner Ausreise gelebt zu haben; auch hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise in diesem Dorf gelebt hat (dementsprechend befasste sich der Bescheid des Bundesasylamtes insoweit auch mit der Situation in Dagestan). Soweit das Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis die Situation in Tschetschenien schildert, kommt diesen Ausführungen kein Begründungswert zu, weil der Beschwerdeführer dort nicht gelebt hat; zwar lebt der Vater des Beschwerdeführers (mit seiner neuen Frau) in Tschetschenien, doch hat der Beschwerdeführer diesen nach seinen Angaben zehn Jahre nicht gesehen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen sollte, dass der Beschwerdeführer nach Tschetschenien zurückkehren kann, weil eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe, hätte es sich damit auseinandersetzen müssen (vgl. zB ; , U2643/2012).
2.3. Weiters ist darauf hinzuweisen, dass zwischen Erlassung des Bescheides des Bundesasylamtes und dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes beinahe vier Jahre vergangen sind. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung vor der Erlassung seines Erkenntnisses durchgeführt und Länderberichte im Erkenntnis wiedergegeben, jedoch wurden diese dem Beschwerdeführer weder im Rahmen der mündlichen Verhandlung noch im sonstigen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zur Kenntnis gebracht (vgl. ). Im Widerspruch dazu stehend führt das Bundesverwaltungsgericht überdies beweiswürdigend aus, dass der Beschwerdeführer den übermittelten Länderberichten nicht substantiiert entgegengetreten sei.
3. Aus diesen Gründen hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, jegliche Auseinandersetzung mit einem wesentlichen Aspekt für die Begründung seiner Entscheidung samt dazugehörender Ermittlungstätigkeit und Gewährung von Parteiengehör vermissen lassen, wodurch die angefochtene Entscheidung den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
4. Eine Zurückverweisung des Verfahrens zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, wie sie im zweiten Teil des Spruchpunktes A) der angefochtenen Entscheidung angeordnet wird, ist gemäß § 75 Abs 20 AsylG 2005 nur dann zulässig, wenn der abweisende Bescheid bestätigt wird. Dies ist mit der (teilweisen) Kassation des ersten Spruchpunktes von A) nicht länger der Fall. Da die Aufhebung dieses Spruchteils auf den Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung zurückwirkt, entbehrt damit auch der zweite Teil des Spruchpunktes von A) des angefochtenen Erkenntnisses nunmehr seiner Rechtsgrundlage; auch dieser Spruchpunkt ist daher aufzuheben (vgl. ; , E707/2015).
B. Die Behandlung der Beschwerde wird, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die gerügten Rechtsverletzungen (s. I.4.) wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen und das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen ist die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG und § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2016:E389.2016