VfGH vom 09.03.2016, E22/2016

VfGH vom 09.03.2016, E22/2016

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch eine Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Serbien wegen verfassungswidriger Interessenabwägung; Überwiegen des Interesses an der Fortführung des bestehenden Familienlebens angesichts des besonderen Abhängigkeitsverhältnisses der beiden minderjährigen, schwer behinderten Geschwister

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit auch Spruchpunkt III. des vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bestätigt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der 1995 geborene Beschwerdeführer reiste 2013 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen beiden minderjährigen Geschwistern, alle serbische Staatsangehörige, nach Österreich ein und hält sich seither hier ununterbrochen auf. Seinem Bruder und seiner Schwester wurde auf Grund ihrer schweren Behinderung subsidiärer Schutz gewährt, ebenso resultierend daraus der Mutter.

2. Hingegen wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Beschwerdeführer auch keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ – unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise – eine Rückkehrentscheidung und sprach die Zulässigkeit einer Abschiebung nach Serbien aus.

Die erkennbar insbesondere gegen die Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wendete im Wesentlichen eine tiefgreifende emotionale Bindung und ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner – angesichts der Pflegebedürftigkeit seiner Geschwister auf seine Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags angewiesenen – Familie in Österreich ein. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde "gemäß §§3 Abs 1, 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005,§ 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 52 Abs 2 Z 2 iVm. Abs 9 FPG idgF, §§55 und 57 AsylG 2005 idgF" als unbegründet ab und sprach die Unzulässigkeit der Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art 133 Abs 4 B VG aus. Eine mündliche Verhandlung konnte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß § 21 Abs 7 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 70/2015, unterbleiben, da "der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint".

Seine Entscheidung hinsichtlich des internationalen Schutzes begründet das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen mit einer mangelnden Glaubhaftigkeit einer asylrelevanten Verfolgung bzw. der mangelnden realen Gefahr einer Verletzung der Art 2, 3 EMRK oder des 6. und 13. ZPEMRK.

Im Zusammenhang mit der Aufenthaltsbeendigung anerkennt das Bundesverwaltungsgericht ein zwischen dem Beschwerdeführer, seiner Mutter und seinen Geschwistern bestehendes Familienleben. Es glaubt dem Beschwerdeführer auch, dass er seine Familie unterstütze und dass insoweit ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe: Der Beschwerdeführer bringt in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vor, dass bei der Bewältigung des Alltages seine beiden Geschwister auf seine Hilfe angewiesen seien. So sei seine Mutter nicht mehr in der Lage, seinen Bruder auf Grund seiner Größe und seines Gewichts täglich beispielsweise zum Waschen zu heben, was daher der Beschwerdeführer besorgen müsse. Auch seien die beiden Geschwister in Bezug auf ihre wöchentliche Therapie, die zu unterschiedlichen Wochentagen jeweils für seinen Bruder und seine Schwester stattfinde, auf die Begleitung des Beschwerdeführers angewiesen, weil die Mutter dann auf das jeweils andere Kind zuhause aufpassen müsse. Im Anschluss an dieses Vorbringen stellt das Bundesverwaltungsgericht als Sachverhalt ausdrücklich fest, dass ein Abhängigkeitsverhältnis der beiden Geschwister auf Grund ihrer Behinderung zum Beschwerdeführer bestehe.

Das Bundesverwaltungsgericht hält jedoch die Fortsetzung des Familienlebens im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat mittels Besuchen (in Gestalt eines drei monatigen visumfreien Aufenthalts im Kalenderhalbjahr), Telekommunikation sowie elektronischer Medien für möglich. Das umfassende Sozialsystem im Bundesgebiet stelle unterdessen die Versorgung der in Österreich verbleibenden Familie auch ohne den Beschwerdeführer sicher. Eine berücksichtigungswürdige Integration des jungen und damit anpassungsfähigen Beschwerdeführers verneint das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis insbesondere auf fehlende Nachweise von Deutschkenntnissen, Erwerbstätigkeiten oder "gar" sozialen Bemühungen und auf seine vergleichsweise kurze Aufenthaltsdauer.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK, auf das Wohl des Kindes nach Art 1 BVG über die Rechte von Kindern (im Folgenden: BVG über die Rechte von Kindern), BGBl I 4/2011, und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art 47 GRC behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Zu Art 8 EMRK wird im Wesentlichen eine Pflege- und Therapiebedürftigkeit der beiden minderjährigen Geschwister und eine damit zusammenhängende intensive Beziehung zwischen dem – im Hausverband lebenden – Beschwerdeführer und seinen auf Unterstützung angewiesenen Geschwistern in Österreich vorgebracht. Beide Geschwister des Beschwerdeführers seien höchstgradig behindert (dies untermauert die Beschwerde mit zwei Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice, Landesstelle Steiermark, jeweils vom ). Die Mutter könne daher ohne Unterstützung des Beschwerdeführers die Pflege zweier schwer behinderter Kinder nicht bewältigen. Der Beschwerdeführer fungiere als unentbehrliche Stütze im Alltag und sei als Ansprechperson in die Behandlung seiner Geschwister stark eingebunden. Auch gehe das Bundesverwaltungsgericht leichtfertig vom Akteninhalt ab, indem es die Fortsetzung des Familienlebens via Telekommunikation oder elektronischer Medien für möglich halte, während beide Geschwister auf Grund aktenkundiger Krankheitsbilder nicht schreiben könnten und sich seine Schwester zudem nicht verbal zu artikulieren vermöge.

Hinsichtlich Art 1 des BVG über die Rechte von Kindern wird vorgebracht, dass ein weiterer positiver Therapieverlauf ohne den bei der Behandlung und Pflege seiner Geschwister eine zentrale Rolle einnehmenden Beschwerdeführer zumindest gefährdet sei, weshalb ein unverhältnismäßiger Eingriff in das verfassungsgesetzlich geschützte Kindeswohl vorliege.

Schließlich moniert die Beschwerde im Zusammenhang mit Art 47 GRC die Ergänzungsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens, woraus sich eine Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergebe.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie das Bundesverwaltungsgericht legten die Verwaltungs- bzw. Gerichtsakten vor, sahen jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift bzw. Äußerung ab.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. Das Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 70/2015, lautet auszugsweise:

"2. Hauptstück

Zuständigkeiten

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

§3. (1) Behörde im Inland nach diesem Bundesgesetz ist das Bundesamt mit bundesweiter Zuständigkeit.

(2) Dem Bundesamt obliegt

1. die Zuerkennung und die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten an Fremde in Österreich gemäß dem AsylG 2005,

2. die Gewährung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß dem AsylG 2005,

3. […]

4. die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gemäß dem 8. Hauptstück des FPG,

5.-7. […]

(3) […]

Bundesverwaltungsgericht

§7. (1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über

1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes,

2.-5. […]

(2) […]

3. Hauptstück

Allgemeine Verfahrensbestimmungen

Schutz des Privat- und Familienlebens

§9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§45 oder §§51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I Nr 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(4)-(6) […]"

2. Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 70/2015, lautet auszugsweise:

"5. Abschnitt

Gemeinsame Bestimmungen

Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme

§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1.-2. […]

3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

4.-5. […]

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§8 Abs 3a oder 9 Abs 2 vorliegt.

(2)-(3) […]

7. Hauptstück:

Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen

1. Abschnitt:

Aufenthaltstitel

Arten und Form der Aufenthaltstitel

§54. (1) Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen werden Drittstaatsangehörigen erteilt als:

1. 'Aufenthaltsberechtigung plus', die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl Nr 218/1975 berechtigt,

2. 'Aufenthaltsberechtigung', die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt,

3. 'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz', die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

(2) Aufenthaltstitel gemäß Abs 1 sind für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen. Aufenthaltstitel gemäß Abs 1 Z 1 und 2 sind nicht verlängerbar.

(3) Den Verlust und die Unbrauchbarkeit eines Aufenthaltstitels sowie Änderungen der dem Inhalt eines Aufenthaltstitels zugrunde gelegten Identitätsdaten hat der Drittstaatsangehörige dem Bundesamt unverzüglich zu melden. Auf Antrag sind die Dokumente mit der ursprünglichen Geltungsdauer und im ursprünglichen Berechtigungsumfang, falls erforderlich mit berichtigten Identitätsdaten, neuerlich auszustellen.

(4) Der Bundesminister für Inneres legt das Aussehen und den Inhalt der Aufenthaltstitel gemäß Abs 1 Z 1 bis 3 durch Verordnung fest. Die Aufenthaltstitel haben insbesondere Name, Vorname, Geburtsdatum, Lichtbild, ausstellende Behörde und Gültigkeitsdauer zu enthalten; sie gelten als Identitätsdokumente.

(5) Die Bestimmungen des 7. Hauptstückes gelten nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK

§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl I Nr 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen.

[…]"

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 ist die Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz mit einer – Drittstaatsangehörige zur Ausreise in ihren Herkunftsstaat verpflichtenden – Rückkehrentscheidung gemäß § 52 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005FPG), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 121/2015, zu verbinden, sofern kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 zu erteilen ist. Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer in Art 8 EMRK eingreifenden Rückkehrentscheidung nur zulässig im Falle ihrer dringenden Erforderlichkeit zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele, worüber gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG zwingend begründet abzusprechen ist. Dabei sind nach § 9 Abs 2 BFA VG unter anderem die Art, Dauer und Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des bisherigen Aufenthaltes, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts sowie das Wissen um den unsicheren Aufenthaltsstatus im Zeitpunkt des Entstehens eines Privat- und Familienlebens des Fremden zu berücksichtigen. Ist im Lichte der maßgeblichen Kriterien die Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens geboten, ist gemäß § 55 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK von Amts wegen oder auf begründeten Antrag zu erteilen. Eine entsprechende amtswegige Prüfpflicht für Fälle einer dauerhaften Unzulässigkeit von (Art8 EMRK verletzenden) Rückkehrentscheidungen sieht auch § 58 Abs 2 AsylG 2005 vor.

2. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Art8 EMRK schützt dabei als Familienleben auch tatsächliche – etwa durch Abhängigkeitsverhältnisse oder ein Zusammenleben geprägte – Beziehungen zwischen Geschwistern (vgl. EGMR , Fall Boughanemi, Appl. 22070/93 [Z35]; EKMR , Appl. 8986/80, EuGRZ1982, 311; ; VfSlg 18.441/2008).

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht geht vor diesem Hintergrund zunächst zutreffend davon aus, dass unzweifelhaft ein Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und sowohl seiner Mutter als auch seinen Geschwistern vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht hält es auch ausdrücklich für glaubwürdig, dass auf Grund der bestehenden Behinderung der Geschwister und der deshalb erforderlichen Unterstützung der Mutter ein Abhängigkeitsverhältnis zum Beschwerdeführer besteht.

Diese Umstände des konkreten Sachverhalts stellen für das Bundesverwaltungsgericht allerdings kein Hindernis dar, dass der Beschwerdeführer das Familienleben mit seiner Mutter und den beiden Geschwistern auch im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat fortsetzen könne. Ausschlaggebend dafür erachtet das Bundesverwaltungsgericht zum einen das Recht des Beschwerdeführers, sich als serbischer Staatsangehöriger mit einem gültigen Reisedokument visumfrei für drei Monate im Kalenderhalbjahr durchgehend in Österreich aufzuhalten. In diesem Rahmen könne er selbst entsprechende Unterstützung für seine Mutter bieten sowie persönlichen Kontakt zu seinen Geschwistern halten. Zwischenzeitig stehe der Mutter "im Hinblick auf die Versorgung der behinderten Kinder ein äußerst umfassendes Sozialsystem im Bundesgebiet zur Verfügung." Zum anderen könne der Beschwerdeführer die Beziehung zwischenzeitlich über Telekommunikation oder elektronische Medien aufrechterhalten.

3.3. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass in der vorliegenden Konstellation eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses insbesondere der beiden schwer behinderten Geschwister zum Beschwerdeführer Art 8 EMRK der Aufrechterhaltung des Familienlebens zwischen dem Beschwerdeführer, seinen beiden Geschwistern und der Mutter ein besonderes Gewicht zuerkennt, das im vorliegenden Fall die öffentlichen Interessen an einer gegenüber dem Beschwerdeführer auszusprechenden Rückkehrentscheidung überwiegt (zur Bedeutung einer durch die Pflegebedürftigkeit eines Familienmitgliedes indizierten besonderen Beziehungsintensität vgl. zB VfSlg 16.958/2003; 19.044/2010):

Wie das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich richtig erkennt, besteht zwischen dem Beschwerdeführer und seinen beiden Geschwistern ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis insofern, als der Beschwerdeführer diese zum einen mitbetreut, sohin eine Bezugsperson darstellt. Zum zweiten ist die Unterstützung des Beschwerdeführers bei der Pflege seiner beiden Geschwister auch insofern wesentlich, als die Mutter alleine den Alltag mit zwei schwer behinderten Kindern nicht entsprechend bewältigen könnte. Das verleiht im vorliegenden Fall dem Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern, aber auch zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter eine besondere Schutzbedürftigkeit. Geht man mit dem Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall aber von einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis der beiden behinderten Geschwister zum Beschwerdeführer aus, dann kann deren Familienleben nicht durch regelmäßige, aber eben immer wieder durch längere Perioden unterbrochene Besuche in einer dem Art 8 EMRK entsprechenden Art und Weise aufrecht erhalten werden. Dass solches dem Beschwerdeführer angesichts der stark eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten seiner beiden Geschwister nicht über Telefon oder elektronische Medien möglich ist, liegt auf der Hand.

In einer solchen Situation erhält somit im Hinblick auf Art 8 EMRK das nachgewiesene Interesse des Beschwerdeführers an der Fortführung des konkret bestehenden Familienlebens im Bundesgebiet ein Gewicht, das jenes der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet überwiegt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit dieses den vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl auch dahingehend bestätigt, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt wird, dass seine Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig sei (und gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage), im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

2. Da das angefochtene Erkenntnis in seinem Spruch einheitlich die Abweisung der Beschwerde ausspricht, ist es insgesamt aufzuheben.

3. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,- sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,- enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:E22.2016