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VfGH vom 19.06.2002, b20/02

VfGH vom 19.06.2002, b20/02

Sammlungsnummer

16558

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen unsachlicher und erkennbar beleidigender Äußerungen in einem Schreiben

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Tiroler Rechtsanwaltskammer wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes dadurch begangen, daß er im Schreiben vom an Mag. W D und weitere 22 Personen in nach Auffassung des Disziplinarrates "unsachlicher, beleidigender und verhöhnender" Art und Weise ausführt:

"Um dies zu erkennen, ist allerdings Gehirnschmalz in nur homöopathischer Dosierung erforderlich und wundert es, warum solches bei der Staatsanwaltschaft nicht erhältlich war."

Über den Beschwerdeführer wurde hiefür eine Geldbuße von S 10.000,- verhängt.

1.2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (OBDK) vom keine Folge gegeben.

Die OBDK ging dabei von folgendem - bereits vom Disziplinarrat festgestellen - Sachverhalt aus:

"Hintergrund des inkriminierten Schreibens des Disziplinarbeschuldigten vom war eine beim Landesgericht Innsbruck zu 10 Cg 91/96s anhängige Rechtssache der Lienzer Bergbahnen AG gegen den Mandanten des Disziplinarbeschuldigten, Herrn Ing. A M. Die Lienzer Bergbahnen begehrten von diesem, Tatsachenbehauptungen zu widerrufen, die er über die Finanzlage der Bergbahnen in Presse und Gemeinderatssitzung verbreitet hatte.

Diese Rechtssache war von großem lokalen Interesse. Bei den Streitverhandlungen waren Vertreter der Presse zugegen.

Am fand vor dem Bezirksgericht Lienz als Rechtshilfegericht die Einvernahme von Zeugen statt. Wiederum waren zahlreiche Vertreter der Presse und auch anderes Publikum erschienen.

Die Rechtshilferichterin erklärte, die Öffentlichkeit nicht zuzulassen, weil die Öffentlichkeit von Beweistagsatzungen gemäß § 175 Abs 2 ZPO ex lege ausgeschlossen sei. Ein Antrag des Disziplinarbeschuldigten, die Öffentlichkeit zuzulassen, wurde abgewiesen.

Nach dieser Beweistagsatzung vom gab der Disziplinarbeschuldigte einem Reporter der Tageszeitung 'Kleine Zeitung' vor dem Verhandlungssaal Auskunft über den Inhalt der Tagsatzung. Am erschien der Artikel 'Bankergipfel vor Gericht brachte keine Sensationen'. Darin wurde auf den Inhalt dieser Beweistagsatzung Bezug genommen.

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Lienzer Bergbahnen AG übermittelte eine Kopie dieses Artikels dem Bezirksgericht Lienz, in der weiteren Folge hat die Staatsanwaltschaft Innsbruck Vorerhebungen wegen des Verdachts gemäß § 301 StGB beim Bezirksgericht Lienz eingeleitet.

Mit Strafantrag der Staatsanwaltschaft Klagenfurt vom , 10 St 193/97x, wurde dem Disziplinarbeschuldigten das Vergehen der verbotenen Veröffentlichung nach § 301 Abs 1 StGB zur Last gelegt. Der Strafantrag nimmt auf die Mitteilungen des Disziplinarbeschuldigten über die Beweistagsatzung vom vor dem Bezirksgericht Lienz an den Reporter des Osttirolteils der Kärntner Ausgabe der Tageszeitung 'Kleine Zeitung' Bezug. Der Disziplinarbeschuldigte habe einem in den §§172 Abs 3 und 175 Abs 2 ZPO normierten gesetzlichen Verbot zuwider eine Mitteilung über den Inhalt einer Verhandlung vor einem Gericht, in der die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, in einem Druckwerk veröffentlicht.

Der Disziplinarbeschuldigte hat von allem Anfang an darauf hingewiesen, daß der objektive Tatbestand des § 301 Abs 1 StGB nicht hergestellt sei. Im Beweisantrag vom führte der Beschuldigte aus, daß gemäß § 172 Abs 3 ZPO nur Veröffentlichungen über Verhandlungen verboten sind, bei denen die Öffentlichkeit gemäß § 172 ZPO ausgeschlossen ist. Verhandlungen, die ex lege nicht öffentlich sind, wie etwa Beweistagsatzungen (§175 Abs 2 ZPO) seien jedoch von dem 'gesetzlichen Verbot' des § 172 Abs 3 nicht erfaßt und daher im Hinblick auf § 301 Abs 1 StGB nicht tatbildlich.

Diesen Rechtsstandpunkt legte der Disziplinarbeschuldigte auch in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Klagenfurt am dar.

Der in dieser Hauptverhandlung anwesende Erste Staatsanwalt beantragte die Einvernahme der Rechtshilferichterin Dr. V Z-M. Die Hauptverhandlung wurde daher auf unbestimmte Zeit vertagt. Am erhielt der Disziplinarbeschuldigte schließlich die Benachrichtigung des Landesgerichtes Klagenfurt vom , wonach das gegen ihn anhängige Strafverfahren am gemäß § 227 Abs 1 der Strafprozeßordnung eingestellt worden sei.

Der Disziplinarbeschuldigte war über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft verärgert: Seiner Meinung nach hätte die Staatsanwaltschaft schon von allem Anfang an mangels Tatbildlichkeit nicht einschreiten dürfen, zumindest aber während der Verhandlung vor dem Landesgericht Klagenfurt am von der Anklage zurücktreten können, was für den Disziplinarbeschuldigten insofern günstiger gewesen wäre, als die Presse diesfalls von einem Freispruch hätte berichten müssen. Tatsächlich berichtete aber die Kärntner Tageszeitung vom mit der Überschrift 'Rechtsanwalt landete vor dem Kadi'.

In der Folge hat der Disziplinarbeschuldigte das hier verfahrensgegenständliche Schreiben vom mit dem inkriminierten Passus erstellt und an Mag. W D und weitere 22 Personen versendet."

Die OBDK wertete den in Rede stehenden Satz als "unsachlich, beleidigend und herabsetzend" und - entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers - nicht als Ausdruck "scharfer und nachhaltiger Kritik". Nach Auffassung der OBDK bedürfe es keiner näheren Erläuterung, daß sich die bei einem Rechtsanwalt als selbstverständlich vorausgesetzte Argumentationskultur "jedenfalls über Stammtischniveau zu erheben" habe.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten - insbesondere im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung - geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Nach Art 13 Abs 1 StGG hat jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist zwar nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechtes einschränkt (vgl. VfSlg. 6166/1970, 10700/1985). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehaltes findet sich in Art 10 EMRK. Diese Bestimmung bekräftigt den Anspruch auf freie Meinungsäußerung - "right to freedom of expression", "droit a la liberte d'expression" - (Abs1) und stellt klar, daß dieses Recht die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen einschließt, sieht aber im Hinblick darauf, daß die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringe, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, "wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten." Gemäß Art 10 Abs 2 EMRK darf also die Freiheit der Meinungsäußerung nur aus den dort angeführten Gründen beschränkt werden.

1.2. Ein Verwaltungsakt, der sich gegen die Meinungsäußerungsfreiheit richtet, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ua. dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz denkunmöglich angewendet wurde (VfSlg. 3762/1960, 6166/1970 und 6465/1971). Eine denkunmögliche Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art 10 EMRK mißachtenden - Inhalt unterstellt (VfSlg. 10386/1985, 10700/1985, 12086/1989, 13122/1992).

1.3. Derartiges kann der belangten Behörde, die die vom Beschwerdeführer gewählte Formulierung als unsachlich, beleidigend und auch verhöhnend gewertet und damit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Tatbestand eines Disziplinarvergehens als verwirklicht angenommen hat, jedenfalls nicht vorgeworfen werden. Wie der Verfassungsgerichtshof schon mehrfach ausgesprochen hat (vgl. etwa VfSlg. 12796/1991, 14233/1995, 15586/1999 zum Disziplinarrecht der Rechtsanwälte) genießen unsachliche und erkennbar beleidigende Äußerungen nicht den Schutz der freien Meinungsäußerung, da, wie aus Art 10 Abs 2 EMRK hervorgeht, in einer demokratischen Gesellschaft ein dringendes soziales Bedürfnis besteht, das Ansehen der Rechtsprechung zu wahren. Die belangte Behörde hat dem Gesetz somit keinen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt.

Der Beschwerdeführer ist sohin nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

2. Das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers, die Disziplinarbehörden hätten die Bestimmung des § 23 Abs 2 DSt 1990 völlig außer Acht gelassen (wonach kein Disziplinarerkenntnis gefällt hätte werden dürfen), trifft schon deswegen nicht zu, weil hier das in § 23 Abs 2 leg. cit. normierte gesetzliche Erfordernis eines "anhängigen gerichtlichen Strafverfahrens" aufgrund eines "dem angelasteten Disziplinarvergehen zugrunde liegenden Sachverhalts" nicht verwirklicht wurde: Ungeachtet der gerichtlichen Strafbarkeit der als disziplinär beurteilten schriftlichen Äußerung des Beschwerdeführers ergibt sich weder aus der Beschwerde noch aus dem Verwaltungsakt irgendein Anhaltspunkt dafür, daß aus diesem Anlaß ein gerichtliches Strafverfahren eingeleitet wurde.

3. Die behauptete Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes hat sohin nicht stattgefunden.

Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.