VfGH vom 27.06.2017, E1203/2017
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Ungarns sowie Anordnung der Außerlandesbringung mangels Heranziehung und Würdigung des eine aktuelle Gesetzesänderung berücksichtigenden Berichtsmaterials zur Lage von Asylwerbern in Ungarn; Willkür auch infolge der - mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbaren - Argumentation in der Entscheidungsbegründung
Spruch
I.Die beschwerdeführende Partei ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Tadschikistans. Am stellte sie für sich und ihre beiden minderjährigen Kinder einen Antrag auf internationalen Schutz.
In ihrer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am gab die Beschwerdeführerin an, über Kirgisistan, die Türkei, Dubai, Russland, die Ukraine und Ungarn in das österreichische Bundesgebiet eingereist zu sein. Über den einmonatigen Aufenthalt im Flüchtlingslager in Ungarn berichtete sie, es sei sehr schmutzig und kalt gewesen. Eines ihrer Kinder sei dort krank geworden.
Ausweislich einer Eurodac-Registerauskunft war die Beschwerdeführerin in Ungarn am erkennungsdienstlich behandelt worden und hatte am einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
1.1.Am richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) ein auf Art 18 Abs 1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn. Mit Schreiben vom teilte das BFA der ungarischen Dublin-Behörde mit, dass aufgrund des Unterbleibens der Beantwortung des Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art 25 Abs 2 Dublin III-VO Ungarn zur Überprüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei.
1.2.In einer Einvernahme am vor dem BFA führte die Beschwerdeführerin insbesondere zu ihrem Aufenthalt in Ungarn näher aus, dass man die Familie zunächst in einem geschlossenen Lager untergebracht habe, in dem ihr jüngerer Sohn Fieber und Halsschmerzen bekommen habe. Eigene Medikamente habe man der Beschwerdeführerin abgenommen; die neu ausgehändigten Medikamente hätten nicht geholfen. Das Essen sei schlecht gewesen und sie seien wie Sträflinge behandelt worden. Im Rahmen nächtlicher Kontrollen sei man einfach laut schreiend in das Zimmer eingedrungen, wodurch die Kinder Angst bekommen hätten. Auch das offene Lager, in dem man die Familie anschließend untergebracht habe, sei wie ein Gefängnis gewesen, ohne warmes Wasser und mit blutverschmierten Wänden. Die Situation sei erniedrigend und unerträglich gewesen. Auf die Frage, warum sie sich nicht an eine NGO vor Ort gewandt habe, antwortete die Beschwerdeführerin, sie sei nicht über die Anwesenheit von NGOs informiert worden.
2.Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz – ohne in die Sache einzutreten – gemäß § 5 Abs 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass gemäß Art 18 Abs 1 litb Dublin III-VO Ungarn für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Es ordnete gemäß § 61 Abs 1 Z 1 FPG die Anordnung der Außerlandesbringung an und sprach aus, dass gemäß § 61 Abs 2 FPG die Abschiebung nach Ungarn zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Das BFA stellt zur Lage in Ungarn fest, dass die Beschwerdeführerin dort keiner Verfolgung oder Misshandlung ausgesetzt wäre bzw. dass Sie diese nicht zu erwarten hätte. Diese Feststellungen würden auf einer Zusammenstellung der Staatendokumentation des BFA mit Stand vom Juni 2016 und integrierten Kurzinformationen zu einigen Ereignissen bis Dezember 2016 basieren, sowie auf Kenntnissen, die "als notorisch vorauszusetzen sind". Zu notorischen Tatsachen würden auch jene Tatsachen zählen, "die in einer Vielzahl von Massenmedien in einer der Allgemeinheit zugänglichen Form über Wochen hin im Wesentlichen gleich lautend und oftmals wiederholt auch für einen Durchschnittsmenschen leicht überprüfbar publiziert wurden, wobei sich die Allgemeinnotorietät nicht auf die bloße Verlautbarung beschränkt, sondern allgemein bekannt ist, dass die in den Massenmedien verbreiteten Tatsachen auch der Wahrheit entsprechen".
Die Zuständigkeit Ungarns ergebe sich aus der formellen Erfüllung des Art 18 Abs 1 litb iVm Art 25 Abs 2 Dublin III-VO. Es habe sich kein zwingender Anlass für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art 17 Abs 1 Dublin III-VO ergeben. Im Falle der Überstellung nach Ungarn drohe keine Verletzung der gemäß Art 4 GRC und Art 3 EMRK gewährleisteten Rechte; auch Art 8 EMRK stehe einer Zurückweisung nicht entgegen.
3.In der gegen diesen Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde wurden insbe-sondere die mangelhaften Feststellungen zur persönlichen Unterbringungssituation der Beschwerdeführerin und ihrer minderjährigen Kinder (als besonders schutzwürdige Personen) in Ungarn moniert. Auf Grund der aktuellen Lage und der "fremdenfeindlichen Flüchtlingspolitik" bestehe ein reales Risiko, im Falle einer Überstellung einer Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet ab.
Das Bundesverwaltungsgericht gibt im Zuge der Schilderung des Verfahrensgangs "zusammengefasst (unkorrigiert)" die zur Lage in Ungarn vom BFA getroffenen Feststellungen und dessen diesbezügliche Beweiswürdigung wieder und schließt sich sodann "den Feststellungen des angefochtenen Bescheides zur Lage im Mitgliedstaat" sowie "den oben wiedergegebenen Erwägungen zur Beweiswürdigung" an. Ergänzend führt es hiezu aus, dass die Gesamtsituation des Asylwesens im zuständigen Mitgliedstaat aus den "umfangreichen und durch aktuelle Quellen belegten Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides, welche auf alle entscheidungsrelevanten Fragen eingehen", resultiere. Das BFA habe neben Ausführungen zur Versorgungslage von Asylwerbern in Ungarn auch Feststellungen zur dortigen Rechtslage und Vollziehungspraxis getroffen. Ausdrücklich habe das BFA etwa ausgeführt, dass das Grenzverfahren in den neu geschaffenen Transitzonen nicht für Dublin-Rückkehrer gelte, dass vulnerable Personengruppen, wie etwa Familien mit Kindern unter fünf Jahren von der Asylhaft auszunehmen seien und dass Alleinerzieherinnen mit minderjährigen Kindern nach dem ungarischen Gesetz "Personen mit besonderen Bedürfnissen" seien und daher eine spezielle Betreuung begehren könnten.
Im Rahmen der Prüfung des Selbsteintrittes im Falle drohender Verletzungen von Art 4 GRC bzw. Art 3 EMRK führt das Bundesverwaltungsgericht aus, es könne schon vor dem Hintergrund der "zitierten erstinstanzlichen Erwägungen" nicht erkennen, dass auf Grund der ungarischen Rechtslage bzw. der Vollziehungspraxis systematische Verletzungen von Rechten der EMRK erfolgen würden. Diesbezüglich bestehe auch keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit im Sinne eines "real risk" für den Einzelnen. Die Beschwerdeführerin sei "der Richtigkeit der Länderberichte nicht auf entsprechendem fachlichem Niveau entgegengetreten und [habe] bei der Einvernahme eingeräumt, dass sie in einem Lager untergebracht und verpflegt worden" sei. Der Einwand, dass das Essen schlecht gewesen, es in der Unterkunft kalt gewesen sei und es nur kaltes Wasser zum Waschen gegeben habe, zeige zwar Defizite auf, erreiche aber "nicht den hohen Eingriffsschwellenwert des Art 3 EMRK, dem der Gedanke des Folterverbotes (!) zugrunde liegt". Aus den aktuellen Feststellungen des Bescheides ergebe sich auch kein Hinweis darauf, dass die Kapazitäten der ungarischen Behörden zur Unterbringung von Asylwerbern nicht ausreichend wären. Eine Inhaftierung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder komme in casu nicht in Betracht, da sie als Familie mit Kindern unter fünf Jahren in Ungarn als vulnerabel gelten würden.
4.Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art 144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) sowie im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Die Beschwerde stützt sich insbesondere auch auf die aktuelle – am beschlossene – Gesetzesänderung in Ungarn. Sogar vulnerablen Personen und Kindern drohe nun, für das gesamte Asylverfahren in Frachtcontainern interniert zu werden.
5.Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen.
II.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde entspricht in allen entscheidungswesentlichen Belangen der dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , E1486/2017, zugrunde liegenden Beschwerde, die sich gegen eine im Wesentlichen gleichlautende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wendet.
2.Der Verfassungsgerichtshof kann sich daher darauf beschränken, insbesondere auf Punkt II.2. der Entscheidungsgründe seines zu E1486/2017 am gefällten – der vorliegenden Entscheidung in anonymisierter Fassung beigelegten – Erkenntnisses hinzuweisen. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass das Bundesverwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung am jedenfalls aktuelles, die jüngsten Entwicklungen – auf Grund derer der Verfassungsgerichtshof davon ausgeht, dass sich mit im ungarischen Asylsystem eine wesentliche Veränderung der Sachlage abgezeichnet hat – berücksichtigendes Berichtsmaterial heranziehen und würdigen hätte müssen. Dass dies im vorliegenden Fall nicht geschehen ist, belastet die angefochtene Entscheidung mit Willkür.
III.Ergebnis
1.Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießt.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2017:E1203.2017 |
Schlagworte: | Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, EU-Recht |
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