VfGH vom 24.11.2014, E1091/2014

VfGH vom 24.11.2014, E1091/2014

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Zurückweisung des Asylantrags eines afghanischen Staatsangehörigen und Anordnung zur Außerlandesbringung in die Slowakei; keine hinreichende Würdigung des Familienlebens

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,− bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, beantragte im Jahr 2011 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen (minderjährigen) Geschwistern ein Einreisevisum nach Österreich. Der Vater des Beschwerdeführers war bereits zuvor nach Österreich gereist und hatte einen Asylantrag gestellt. Der Mutter und den Geschwistern des Beschwerdeführers wurden Einreisetitel erteilt, dem Beschwerdeführer wurde ein solcher jedoch verweigert, weil die Behörden auf Grund einer in Pakistan durchgeführten Altersfeststellung von der Volljährigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen waren. Den Familienangehörigen des Beschwerdeführers wurde im März 2013 in Österreich Asyl zuerkannt. Der Beschwerdeführer lebte nach seinen Angaben in der Zwischenzeit als Obdachloser in Kabul.

2. Am reiste der Beschwerdeführer aus der Slowakei kommend nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Laut Auskunft aus dem Eurodac-Register hatte der Beschwerdeführer am in der Slowakei einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das Bundesasylamt ersuchte daraufhin die slowakischen Behörden am um die Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäß der Verordnung (EG) Nr 343/2003 des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. 2003 L 50, S 1 (Dublin II-Verordnung). Mit Schreiben vom beantwortete das Bundesasylamt ein offenbar von Seiten der slowakischen Behörden gestelltes Aufnahmegesuch gemäß Art 15 Dublin II-Verordnung dahingehend, dass nach Ansicht der Behörde ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern nicht bestehe und eine Antwort auf das Wiederaufnahmegesuch erwartet werde.

Mit Schreiben vom teilten die slowakischen Behörden unter Verweis auf Art 15 der Dublin II-Verordnung mit, dass sich die slowakische Republik für den Asylantrag des Beschwerdeführers für nicht zuständig erachte. Mit einem weiteren Schreiben vom teilten die slowakischen Behörden mit, sie seien weiterhin der Ansicht, dass Österreich für die Prüfung des Asylantrages zuständig sei. Mit Schreiben vom stimmten die slowakischen Behörden der Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäß Art 16 Abs 1 litc Dublin II-Verordnung schließlich zu.

3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005AsylG 2005), BGBl I 100 idF BGBl I 4/2008, als unzulässig zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde gemäß § 61 Abs 1 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005FPG), BGBl I 100 idF BGBl I 87/2012, seine Außerlandesbringung in die Slowakei angeordnet. Der Beschwerdeführer wurde am in die Slowakei überstellt.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es lägen keine besonderen, in der Person des Beschwerdeführers gelegenen Gründe vor, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in der Slowakei sprechen würden. Auch die allgemeine Lage für in die Slowakei überstellte Asylwerber lasse keineswegs die Gefahr einer gegen menschenrechtliche Bestimmungen verstoßenden Behandlung glaubhaft erscheinen. Insbesondere seien die Praxis der asylrechtlichen und subsidiären Schutzgewährung, die Grund- und Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage unbedenklich und genügten den Grundsätzen des Unionsrechts. Auch eine reale Gefahr systematischer Verletzungen von Rechten nach der EMRK könne auf Grund der slowakischen Rechtslage und Vollzugspraxis nicht erkannt werden.

Die Voraussetzungen des Art 15 Abs 1 Dublin II-Verordnung betreffend die Zusammenführung von Familienmitgliedern und anderen abhängigen Familienangehörigen lägen nicht vor. Insbesondere fehle das geforderte besondere Abhängigkeitsverhältnis. Auch habe die Slowakei kein Aufnahmeersuchen an Österreich gestellt.

Hinsichtlich einer möglichen Verletzung von Art 7 GRC bzw. Art 8 EMRK führt das Bundesverwaltungsgericht aus, eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen falle nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nur dann unter den Schutz des Art 8 Abs 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzuträten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen. Im vorliegenden Fall würden die Eltern und fünf minderjährige Geschwister des Beschwerdeführers als Asylberechtigte in Österreich leben. Es liege aber letztlich in Ermangelung einer über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehenden Nahebeziehung kein Eingriff in das Grundrecht nach Art 8 Abs 1 EMRK im Fall einer Anordnung zur Außerlandesbringung vor.

Aber auch im Fall eines Eingriffs in das Grundrecht ergäbe eine Interessenabwägung insbesondere nach den Gesichtspunkten der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes, dass dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig wäre. Der Beschwerdeführer habe eine besondere Beziehungsintensität zu den in Österreich lebenden Verwandten, etwa ein intensives Pflege- oder Betreuungsverhältnis oder ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis, nicht überzeugend darlegen können. Es sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass etwa einer der Angehörigen schwer krank oder pflegebedürftig wäre, diese würden auch bereits seit mehreren Jahren in Österreich leben und habe während dieser Zeit kein gemeinsamer Haushalt mit dem Beschwerdeführer bestanden. Dem Beschwerdeführer stehe hingegen zwecks Familienzusammenführung ein Verfahren nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Verfügung. Es bestehe auch durchaus die rechtliche und faktische Möglichkeit von Besuchen in der Slowakei. Da im vorliegenden Fall keine Verletzung von Bestimmungen der GRC oder der EMRK zu befürchten sei, bestehe auch keine Veranlassung, von dem in Art 3 Abs 2 Dublin II-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

5. Mit der vorliegenden, auf Art 144 B VG gestützten Beschwerde wird die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie in Rechten gemäß Art 8 EMRK und Art 47 Abs 2 GRC behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt.

6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Nach Art 3 Abs 2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung festhält, kann die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art 3 Abs 2 Dublin II-VO zur Vermeidung einer sonst eintretenden Verfassungswidrigkeit geboten sein (vgl. etwa VfSlg 17.340/2004, 19.264/2010).

2.2. Im Rahmen der Prüfung, ob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art 3 Abs 2 Dublin-II-VO keinen Gebrauch gemacht hat, hat das Bundesverwaltungsgericht auch zu untersuchen, ob die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zur Vermeidung einer Verletzung des Rechts auf Familienleben gemäß Art 8 EMRK geboten ist.

2.3. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR entsteht ein von Art 8 Abs 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR , Fall Berrehab , Appl. 10730/84 [Z21]; , Fall Keegan , Appl. 16969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR , Fall Gül , Appl. 23218/94 [Z32]). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und volljährigen Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinne von Art 8 Abs 1 EMRK, solange nicht jede Bindung gelöst ist (EGMR , Fall Boughanemi , Appl. 22070/93 [Z33 und 35]).

2.4. Das Bundesverwaltungsgericht geht zunächst davon aus, dass "in Ermangelung einer über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehenden Nahebeziehung kein Eingriff in das Grundrecht nach Art 8 Abs 1 EMRK" vorliege und führt weiter aus, eine Interessenabwägung gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ergebe, dass ein Eingriff jedenfalls notwendig und verhältnismäßig wäre. Der Beschwerdeführer habe eine besondere Beziehungsintensität zu den in Österreich lebenden Verwandten, etwa ein intensives Pflege- oder Betreuungsverhältnis oder finanzielles Abhängigkeitsverhältnis nicht überzeugend dargelegt. Es sei auch nicht glaubhaft gemacht worden, dass etwa einer der Angehörigen schwer krank oder gar pflegebedürftig wäre. Die Familie des Beschwerdeführers lebe auch bereits seit mehreren Jahren in Österreich, und es habe während dieser Zeit kein gemeinsamer Haushalt mit dem Beschwerdeführer bestanden.

2.5. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass es für das Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und Kindern im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung des EGMR nicht darauf ankommt, dass eine "über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehende[…] Nahebeziehung" besteht, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst wurde (EGMR, Fall Boughanemi , Z 35). Davon konnte aber im Fall des Beschwerdeführers und seiner Familienangehörigen nach den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hatte bereits im Jahr 2011 beabsichtigt, sein Heimatland gemeinsam mit seiner Familie zu verlassen, und zu diesem Zweck einen Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums gestellt. Es ist offensichtlich, dass der Beschwerdeführer Afghanistan nunmehr mit dem Ziel einer Zusammenführung mit seiner Familie verlassen hat. In der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht verweist der Beschwerdeführer darauf, dass er nicht selbst dafür verantwortlich sei, dass in den Jahren seit der Ausreise der Familienangehörigen aus Afghanistan kein gemeinsamer Haushalt bestanden habe. Seit seiner Einreise nach Österreich sei er bei seiner Familie gemeldet und kümmere sich um seine Eltern, die zudem an Krankheiten leiden würden, und um seine Geschwister. Das Familienleben sei wieder "wie davor in Afghanistan". Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes lebte er im Entscheidungszeitpunkt auch in Österreich wieder mit der Familie im gemeinsamen Haushalt.

Vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR hätte sich das Bundesverwaltungsgericht bei der Beurteilung des Familienlebens des Beschwerdeführers mit diesen Aspekten auseinandersetzen müssen. Festzuhalten ist überdies, dass das Bundesverwaltungsgericht auch auf die geltend gemachten Erkrankungen der Eltern im Rahmen seiner Beurteilung nur unzureichend eingegangen ist.

2.6. Dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht – ausgehend von seinem Rechtsirrtum – bei der Beurteilung der Frage, ob ein Selbsteintritt im Sinne des Art 3 Abs 2 Dublin II-VO in Hinblick auf das Familienleben des Beschwerdeführers geboten ist, diese entscheidungswesentlichen Punkte nicht hinreichend gewürdigt hat, wurde der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der ebenfalls verzeichneten Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, da dem unter einem mit der Beschwerde gestellten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang von der Befreiung der Eingabengebühr mit Beschluss vom stattgegeben wurde.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2014:E1091.2014