OGH vom 17.06.1987, 9ObS1/87
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Gamerith und Dr.Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Josef Fellner und Mag.Karl Dirschmied als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hildegard H***, Rentnerin, Innsbruck, Schneeburggasse 11, vertreten durch Dr.Ekkehard Beer und Dr.Kurt Bayr, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei S*** DER B***,
Wien 3.,Ghegastraße 1, vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ. 5 Rs 11/87-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Tirol in Innsbruck vom , GZ. 1 C 10/86-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.829,75 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 257,25 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin hat sich am beim Entasten im Wald in den linken Zeigefinger gehackt. Dieser Unfall wurde von der beklagten Partei als Arbeitsunfall anerkannt.
Die Klägerin wurde von der beklagten Partei für die Folgen dieses Arbeitsunfalles mit Bescheid vom eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 30 v.H. der Vollrente am und mit Bescheid vom eine solche im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente ab zuerkannt. Mit einem weiteren Bescheid der beklagten Partei vom wurde die vorläufige Versehrtenrente mit Ablauf des Monates August 1985 entzogen. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin zu 1 C 41/85 beim Schiedsgericht der Sozialversicherung für Tirol in Innsbruck die Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Gewährung der Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. ab zu verpflichten. Mit rechtskräftigem Urteil vom wurde die beklagte Partei in diesem Verfahren schuldig erkannt, der Klägerin für die Folge des Arbeitsunfalles vom ab eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente weiterzugewähren.
Mit Bescheid vom sprach die beklagte Partei die Entziehung der für die Folgen des Arbeitsunfalles vom mit Bescheid vom 27.Feburar 1986 (dieser war in Durchführung des Urteiles vom ergangen) festgestellten "vorläufigen" Versehrtenrente mit Ablauf des Monates März 1986 aus. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Gewährung der Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente über den Zeitraum März 1986 hinaus zu verpflichten. Sie brachte dazu vor, daß die Unfallsfolgen nach wie vor eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. bedingen. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und brachte vor, daß sich die Verletzungsfolgen durch Anpassung gebessert haben, die verbleibende Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage lediglich 10 v.H. und liege damit unter dem rentenfähigen Ausmaß.
Das Erstgericht gab dem Begehren der Klägerin statt, wobei es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehende Feststellungen zugrundelegte:
Die Klägerin suchte selbst die Ambulanz der Universitätsklinik für Unfallchirurgie Innsbruck auf. Dort wurde eine Schittwunde im PIP-Gelenk des zweiten Fingers links mit Durchtrennung des Tractus intermedius mit Knochendefekt an der Trochlea der Grundphalanx diagnostiziert. Nach Mobilisationskontrollen zeigte sich am ein vorliegender Endzustand. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug bisher 20 v.H. Als Unfallfolge besteht eine Schnittwunde über dem linken Zeigefinger mit Durchtrennung des Tractus intermedius mit Knochendefekt an der Trochlea der Grundphalanx mit nachfolgender Einsteifung im Mittel- und Endgelenk. Der linke Zeigefinger zeigt sich verschmächtigt - insbesonders die Kuppe ist zugespitzt und verschmächtigt -, keine Ulcera, keine chronischen Defektzeichen, die Benützungszeichen an der Kuppe sind kaum ausgeprägt. Es findet sich eine S-förmige Operationsmarke an der Rückseite des Zeigefingers vom Grundglied über das Mittelgelenk an das Endglied verlaufend. Zusammenfassend zeigt die Klägerin einen trophisch verschmächtigten linksseitigen Zeigefinger mit Zuspitzung der Kuppe und Hautgefühlsstörungen an der Radialseite der Kuppe. Das Grundgelenk ist 10o beugebehindert, das Mittelgelenk ist in leichter Beugestellung eingesteift, das Endgelenk ebenfalls in diskreter Beugestellung versteift. An der Streckseite findet sich eine reizlose Narbe, die Sensibilität ist sicher erhalten, ebenso an der Ellenseite des Fingers. Der Finger kann beim Grobgriff fast zum rechten Winkel herangezogen werden, die Kuppe verbleibt jedoch nur weit abstehend. Der angrenzende Mittelfinger ist ebenfalls beim Beugeversuch nicht absolut voll einkrallbar, er ist jedoch passiv frei beweglich. Zum sensiblen Spitzgriff kann der Mittelfinger auch für Feinstgriffunktionen herangezogen werden. Es besteht keine Subluxationsstellung im verletzten Mittelgelenk, ebenso keine Rotationsfehlstellung. Das vorliegende Defektbild ist also im wesentlichen unverändert zu den Vorbefunden. Die übrigen Funktionseinheiten der Hand sind ungestört; insbesondere der Daumen ist absolut frei beweglich und kraftvoll. Durchblutung und nervale Versorgung sind frei. Die Narbe ist reizlos und nicht schmerzhaft. Verblieben ist eine Faustschlußbeeinträchtigung und Behinderung des Spitzgriffes zum Zeigefinger, wie er zwar möglich, jedoch etwas erschwert ist. Dieser vom Sachverständigen erhobene Befund ist der gleiche, wie er schon seit langem durch verschiedene Untersuchungen erhoben wurde. Insbesonders gegenüber dem Befund des Sachverständigen Dr.Jörg Riedl vom (ON 4 in 1 C 41/85) ist keine wesentliche Änderung eingetreten. Naturgemäß ist der versteifte Zeigefinger hinderlich, er kann jedoch durch seine gute Beweglichkeit im Grundgelenk noch begrenzte Grobgriff- bzw. Breitgriffleistung erbringen. Er ist etwa beim Benützen von Handschuhen hinderlich; man kann mit ihm auch hängenbleiben usw. Solche Situationen können in einem Lernprozeß üblicherweise gemeistert werden. Der verletzte Zeigefinger hat auch einen gewissen Fingerrestwert bei Anwendung des Grobriffes, allerdings ist dieser doch erheblich beeinträchtigt. Die vorhandenen Sensibilitätsstörungen beeinträchtigen den Spitzgriff. Dieser kann allerdings auch durch den Mittelfinger ersetzt werden, wobei der steife Zeigefinger aber hinderlich ist und zudem nicht übersehen werden darf, daß der Mittelfinger ebenfalls nicht voll einkrallbar ist. Auf Grund des versteiften Zeigefingers, der im allgemeinen Arbeitsmarkt mit 10 v.H. bewertet wird, im Zusammenhang mit der nicht zu übersehenden Sensibilitätsstörung sowie der Beeinträchtigung des Grobriffes ergibt sich für die Zeit ab eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Das Klagebegehren sei daher berechtigt. Im übrigen könne eine Versehrtenrente nur bei einer wesentlichen Änderung des Zustandes im Sinne einer wesentlichen Besserung herabgesetzt oder gänzlich entzogen werden. Eine solche wesentliche Besserung habe das Beweisverfahren nicht erbracht.
Das Oberlandesgericht Innsbruck gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es erachtete den Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit ab nicht für entscheidungsrelevant und führte aus, daß im Verfahren zu 1 C 41/85 weder die Klägerin in der Klage noch das Erstgericht in seiner in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung eine Einschränkung auf eine vorläufige Versehrtenrente vorgenommen habe. Das Begehren sei daher als auf eine Dauerrente gerichtet anzusehen und auch der Zuspruch durch das Schiedsgericht sei in diesem Sinn aufzufassen. Die Klägerin sei daher bereits im Genuß einer Dauerrente gewesen. Diese könne nur im Falle einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse abgeändert oder entzogen werden. Eine solche Änderung der Verhältnisse liege jedoch nach dem unstrittigen Sachverhalt nicht vor.
Die gegen dieses Urteil von der beklagten Partei erhobene Revision ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 203 Abs. 1 ASVG besteht Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v.H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. Gemäß § 209 Abs. 1 ASVG hat der Träger der Unfallversicherung die Versehrtenrente als vorläufige Rente zu gewähren, wenn die Versehrtenrente während der ersten zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles wegen der noch nicht absehbaren Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit ihrer Höhe nach noch nicht als Dauerrente festgestellt werden kann. Spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes ist die Versehrtenrente als Dauerrente festzustellen; diese Feststellung setzt eine Änderung der Verhältnisse (§ 183 Abs. 1) nicht voraus und ist an die Grundlagen für die Berechnung der vorläufigen Rente nicht gebunden. Das Gesetz kennt sohin nur einen einzigen Begriff der Versehrtenrente, räumt jedoch unter den in § 209 ASVG determinierten Voraussetzungen die Möglichkeit ein, die Versehrtenrente während der ersten zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles als vorläufige Rente zu gewähren. Die vorläufige Rente stellt den Ausnahmsfall dar und ist ausdrücklich als solche zu bezeichnen. Erfolgt die Gewährung einer Versehrtenrente ohne weitere Einschränkung, so ist sie als Dauerrente zu qualifizieren. Die Gewährung einer Versehrtenrente als vorläufige Rente ist eine für den Versicherten gegenüber der Gewährung einer Dauerrente ungünstigere Entscheidung. Durch die Gewährung einer Dauerrente wird die Rechtslage endgültig festgelegt; eine Änderung der so festgestellten Leistung ist gemäß § 183 Abs. 1 ASVG nur dann möglich, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung der Rente maßgebend waren, eingetreten ist, während eine vorläufige Rente auch bei unveränderten Verhältnissen innerhalb der Zweijahresfrist jederzeit herabgesetzt oder entzogen werden kann. Der Versicherungsträger unterstellt in einem Bescheid über die Gewährung der vorläufigen Rente das Vorliegen der Voraussetzungen des § 209 ASVG. Der Versicherte ist durch einen solchen Bescheid gegenüber der Situation bei Gewährung der Dauerrente beschwert. Es besteht daher ein Klagerecht gegen einen solchen Bescheid, wenn der Versicherte behauptet, daß die Voraussetzungen des § 209 Abs. 1 ASVG nicht vorliegen, mag der Bescheid auch in allen übrigen Punkten seinem Standpunkt voll Rechnung tragen.
Der Rechtsansicht der beklagten Partei, daß in Fällen, in denen bescheidmäßig über eine vorläufige Rente entschieden wurde, Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens nur ein Begehren auf Gewährung einer vorläufigen Rente sein könne, kann nicht beigetreten werden. Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger und auch des im Fall der Klagserhebung gegen den Bescheid eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens ist der Anspruch auf Versehrtenrente, wobei im Fall des Vorliegens der Voraussetzungen des § 209 ASVG der Zuspruch einer vorläufigen Rente zu erfolgen hat. Wird eine vorläufige Rente entzogen, so ist ein klageweise erhobenes Begehren des Versicherten nicht auf die Gewährung einer vorläufigen Rente beschränkt, sondern es steht ihm frei, ein Begehren auf Gewährung einer Dauerrente zu erheben.
Im vorliegenden Fall hat die klagende Partei gegen den Bescheid der beklagten Partei vom , mit dem die ihr mit Bescheid vom gewährte vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente mit Ablauf des Monates August 1985 entzogen wurde, Klage erhoben und das Begehren gestellt, die beklagte Partei zur Gewährung einer Versehrtenrente im Umfang von 20 v.H. der Vollrente zu verpflichten. Das Erstgericht hat in diesem Verfahren die beklagte Partei urteilsmäßig verpflichtet, der Klägerin für die Folgen des Arbeitsunfalles vom ab eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente weiterzugewähren. Mit dieser Entscheidung wurde - durch das Klagebegehren gedeckt - mangels ausdrücklicher Bezeichnung der Leistung als "vorläufige" über eine Dauerrente abgesprochen. Der Charakter der Rentenleistung als Dauerrente konnte auch dadurch keine Änderung erfahren, daß die beklagte Partei in dem der Klage zugrundeliegenden Bescheid die Rente als vorläufige Rente bezeichnete.
Ein Eingehen auf die Mängelrüge ist entbehrlich, weil den in diesem Teil des Rechtsmittels erörterten Fragen, ausgehend von der dargestellten rechtlichen Beurteilung, Relevanz nicht zukommt. Maßgeblich ist lediglich, ob sich der tatsächliche Zustand der Klägerin seit der die Grundlage der Entscheidung im Vorverfahren bildenden Untersuchung wesentlich verändert hat, nicht jedoch die Frage, ob die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in jenem Verfahren zutreffend erfolgte, zumal gem. § 183 Abs. 1 ASVG nur eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, nicht aber ein Abgehen von der Einschätzung bei sonst unveränderter Lage die Voraussetzung für eine Neufeststellung der Rente herstellen kann. Nach den Feststellungen ist jedoch gegenüber dem Befund, der der Entscheidung im Vorverfahren zugrunde lag, eine wesentliche Änderung nicht eingetreten, so daß, wie die Vorinstanzen richtig erkannt haben, die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung nicht vorliegen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit.a ASGG, wobei die Kostenbestimmung ausgehend von dem in § 77 Abs. 2 normierten Streitwert zu erfolgen hat..