OGH vom 04.11.1997, 10ObS70/97k
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter SR Dr.Kurt Scherzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr.Mahmoud B*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Lothar Wachter, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1101 Wien, Wienerbergstraße 15-19, vertreten durch Dr.Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 11.000,-- sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 162/96h-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 5 Cgs 194/95w-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 3.248,64,-- bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 541,44 USt) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am in Kairo geborene Kläger, ein österreichischer Staatsbürger, ist bei der beklagten Gebietskrankenkasse aufgrund des Bezuges von Notstandshilfe krankenversichert. Aufgrund seiner Erkrankung (aplastische Anämie) ist bei ihm eine Knochenmarktransplantation medizinisch angezeigt. Er steht in Behandlung des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien. Zur Evaluierung bezüglich einer eventuellen Knochenmarktransplantation wurde im Rahmen dieser Behandlung eine HLA-Typisierung der in Ägypten lebenden Geschwister des Klägers durchgeführt. Die Untersuchung ergab, daß das Knochenmark seiner Geschwister für den Kläger nicht geeignet ist. Mangels eines geeigneten Spenders konnte die Knochenmarktransplantation bei ihm bisher noch nicht durchgeführt werden. Die Kosten der Untersuchung seiner 7 Geschwister in der Höhe von EGP 3.700,--, das entspricht öS 11.000,-- hat er aus eigenen Mitteln getragen.
Mit Bescheid der beklagten Gebietskrankenkasse vom wurde der Antrag des Klägers auf Gewährung einer Kostenerstattung für die Untersuchungen seiner Geschwister auf Tauglichkeit als Knochenmarkspender gemäß § 122 ASVG abgelehnt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, daß die Geschwister keine anspruchsberechtigten Angehörigen des Klägers seien. Nach § 120 Abs 2 ASVG sei einer Krankheit gleichzuhalten, wenn ein Versicherter (Angehöriger) in nicht auf Gewinn gerichteter Absicht einen Teil seines Körpers zur Übertragung in den Körper eines anderen Menschen spende. Sei daher der - eventuell auch nur mögliche - Spender nicht versicherter oder anspruchsberechtigter Angehöriger eines Versicherten der Beklagten, könnten hiefür keine Leistungen gewährt werden.
Das Erstgericht wies das dagegen rechtzeitig erhobene, auf Kostenersatz im genannten Umfang gerichtete Klagebegehren ab. Eine Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der Kosten für die Untersuchung der Geschwister des Klägers in Ägypten sei in den Bestimmungen des ASVG nicht vorgesehen. Es handle sich bei den Personen nicht um Angehörige im Sinn des § 123 ASVG, weil jedenfalls das Element der Hausgemeinschaft fehle. Darüber hinaus ergebe sich aus § 120 Abs 2 ASVG, daß die Übertragung von Körperteilen auf einen anderen Menschen nicht als Krankheit des Empfängers zu werten sei, sondern als Krankheit des Spenders, sodaß sich nur ein Kostenersatzanspruch des Spenders gegenüber seiner Krankenversicherung ableiten ließe. Daß es möglicherweise in Ägypten eine dem § 120 Abs 2 ASVG entsprechende Regelung nicht gebe, müsse schon aus Gleichbehandlungsgründen unbeachtlich bleiben.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Urteil dahin ab, daß es die Beklagte schuldig erkannte, ihm den Betrag von S 11.000,-- binnen 14 Tagen zu zahlen. Da der Kläger an einer schweren, lebensbedrohenden Krankheit leide und eine Knochenmarktransplantation medizinisch indiziert sei, sei die Gewebstypisierung der Geschwister nach dem Stand der anerkannten medizinischen Wissenschaft unumgänglich gewesen, um eine zweckmäßige Krankenbehandlung durchzuführen. Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei, weil eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vorliege.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Abänderung dahin, daß das Urteil der ersten Instanz wiederhergestellt werde.
Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist mangels einschlägiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nach § 46 Abs 1 ASGG zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens rügt die Beklagte, daß weder Beweise aufgenommen noch Feststellungen darüber getroffen worden seien, inwieweit eine in Ägypten durchgeführte HLA-Typisierung Grundlage einer derart heiklen und in Wien durchzuführenden Operation sein könne. Mit diesen Ausführungen wird aber kein Verfahrensmangel, sondern ein - der rechtlichen Beurteilung zuzuordnender - Feststellungsmangel geltend gemacht. Dieser Feststellungsmangel liegt aber schon deshalb nicht vor, weil die Beklagte den Einwand, die Untersuchung der Geschwister des Klägers sei medizinisch nicht zweckmäßig gewesen, in erster Instanz nicht erhoben hat, sodaß es sich insoweit um eine im Revisionsverfahren unzulässige Neuerung handelt.
Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache hält die Beklagte an ihrer Auffassung fest, daß der geltend gemachte Anspruch nach den Bestimmungen des ASVG nicht zustehe; die Geschwister des Klägers seien nicht bei der Beklagten krankenversichert, eine Leistungsverpflichtung des Krankenversicherungsträgers aus humanitären Gründen sei im österreichischen Recht nicht vorgesehen. Diesen Ausführungen ist folgendes entgegenzuhalten:
Als Leistung der Krankenversicherung wird nach Maßgabe der Bestimmungen des ASVG aus dem Versicherungsfall der Krankheit unter anderem Krankenbehandlung gewährt (§ 117 Z 2 ASVG). Die Krankenbehandlung umfaßt ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe; sie muß ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönliche Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden (§ 133 Abs 1 und 2 ASVG). Die ärztliche Hilfe wird durch Vertragsärzte, durch Wahlärzte oder durch Ärzte in eigenen hiefür ausgestatteten Einrichtungen der Versicherungsträger gewährt (§ 135 Abs 1 ASVG). Wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, ist die Zweckmäßigkeit der vorgenommenen HLA-Typisierung von 7 Geschwistern des Klägers zur Evaluierung bezüglich einer eventuellen Knochenmarkspende offensichtlich. Gerade bei der Knochenmarktransplantation verursacht die Indentifikation eines geeigenten Spenders besondere Probleme, weil die immunologischen Reaktionen auf die übertragenen Zellen besonders stark sind. Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, daß in der Regel der medizinische Erfolg der Organtransplantation nach einer Verwandtenspende besser ist (Nagel in Oberender [Herausgeber], Transplantationsmedizin, 205 ff). Im Bereich der Transplantationsmedizin ist zwischen der Organentnahme von lebenden und verstorbenen Spendern zu unterscheiden; in der modernen Medizin ist die Organspende eines noch lebenden Menschen vor allem bei der Verpflanzung von Knochenmark und von Nieren relevant. Sowohl Knochenmark als auch Nieren werden in Deutschland vom lebenden Spender (fast) ausschließlich bei nahen Blutsverwandten explantiert, weil in diesen Fällen die Histokompatibilität besser gewährleistet ist und diese Vorgehensweise dem Transplantationskodex der Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren entspricht (Dannecker/Görtz-Leible in Oberender [Herausgeber] Transplantationsmedizin, 164 mwN). Die Übertragung von körpereigenem Gewebe auf einen Dritten (Organtransplantation im weitesten Sinn) ist im allgemeinen ein Teil der Krankenhilfe für den Organempfänger. Denn es kann nicht bestritten werden, daß die Organspende ausschließlich im Interesse des Empfängers vorgenommen wird und ein Teil der Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Gesundheit oder zur Besserung seines Zustandes darstellt. Daher wurde in der Judikatur des deutschen Bundessozialgerichtes die Auffassung vertreten, daß etwa auch die Aufwendungen für die ambulante oder stationäre Behandlung des Organspenders wie alle sonstigen Vor- und Nebenleistungen im Zusammenhang mit solchen Maßnahmen zu der dem Empfänger zu gewährenden Krankenhilfe gehören (BSGE 35, 102, 103; ebenso Kummer in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band I, Krankenversicherungsrecht [1994] 754 in Rz 24). Auch in Österreich wird die Auffassung vertreten, daß Vor- oder Nebenleistungen, die die ärztliche Hilfe erst ermöglichen, gleichfalls zu den notwendigen Behandlungsmaßnahmen gehören und grundsätzlich das rechtliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Zu diesem Leistungskomplex zählen etwa die Kosten eines ärztlichen Gutachtens, das dafür ausschlaggebend ist, welche Art der ärtzlichen Behandlung gewählt wird (Binder in Tomandl, SV-System 8. ErgLfg 212).
Da der Kläger unbestrittenermaßen an einer schweren, lebensbedrohenden Krankheit leidet und eine Knochenmarktransplantation medizinisch indiziert ist, war die Gewebstypisierung seiner Geschwister nach dem Stand der anerkannten medizinischen Wissenschaft unumgänglich, um eine zweckmäßige Krankenbehandlung durchzuführen. Die Untersuchung der Geschwister des Klägers stellte eine notwendige Maßnahme dar, weil sie zur Erreichung des Zweckes unentbehrlich und unvermeidbar war. Zu den ersten ärztlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Organspenden zählen daher jedenfalls jene Voruntersuchungen, die klären sollen, ob ein potentieller Spender überhaupt in Betracht kommt. Dem Berufungsgericht ist beizustimmen, daß die Untersuchungen zur HLA-Typisierung der Geschwister des Klägers eine zweckmäßige und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Krankenbehandlung des versicherten Klägers darstellten, deren Kosten daher die Beklagte zu ersetzen hat.
Dem steht - entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten und des Erstgerichtes - auch die Bestimmung des § 120 Abs 2 ASVG nicht entgegen. Danach ist einer Krankheit gleichzuhalten, wenn ein Versicherter (Angehörige) in nicht auf Gewinn gerichteter Absicht einen Teil seines Körpers zur Übertragung in den Körper eines anderen Menschen spendet. Der Versicherungsfall der Krankheit gilt mit dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem die ärztliche Maßnahme gesetzt wird, die der späteren Entnahme der Körperteile voranzugehen hat. Damit sollte erreicht werden, daß in den Fällen einer Organtransplantation ein Leistungsanspruch des Organspenders aufgrund des Versicherungsfalles der Krankheit gegenüber seinem Krankenversicherungsträger besteht. Was den Eintritt des Versicherungsfalles betrifft, so sind nach den Gesetzesmaterialien unter der ersten ärztlichen Maßnahme bereits die Voruntersuchungen zu verstehen, die klären sollen, ob der Betreffende überhaupt als Spender in Betracht kommt. Dementsprechend wird der Leistungsanspruch auch bestehen, wenn sich aufgrund dieser Voruntersuchungen herausstellt, daß die Entnahme eines Teiles des Körpers nicht erfolgen kann oder der Körperteil für die Transplantation nicht brauchbar ist (siehe die in MGA-ASVG 63. ErgLfg in Anm 9 zu § 120 zitierten Materialien zur 29. ASVG-Nov 404 BlgNR 13. GP, 86). Daraus ist abzuleiten, daß in den Fällen einer Organtransplantation ein Leistungsanspruch des Organspenders aufgrund des Versicherungsfalles der Krankheit gegenüber seinem Krankenversicherungsträger besteht. Wie das Berufungsgericht überzeugend ausgeführt hat, läßt sich aus § 120 Abs 2 aber nicht zwingend schließen, daß in jenen Fällen, in denen der Organspender nicht krankenversichert oder nicht im Inland krankenversichert ist, eine Kostentragungspflicht des Versicherungsträgers des Organempfängers ausgeschlossen sein soll. Vielmehr bezweckt die zitierte Norm, daß die Kostentragungspflicht im Verhältnis der Krankenversicherungen des Spenders und des Empfängers untereinander verpflichtend geregelt werden. Andernfalls könnte eine lebensnotwendige Transplantation, wenn der potentielle Spender nicht krankenversichert wäre, an dieser Kostentragungsregelung scheitern. Eine solche Absicht kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden.
Da allgemein anerkannt ist, daß das Gelingen einer Organübertragung wesentlich von der Verträglichkeit des Organs abhängt, gibt es zur Erleichterung der Organbeschaffung eigene Organisationen, oft auch "Organbanken" genannt. Die Speicherung der Blut- und Gewebedaten von tausenden Patienten, die auf eine Organverpflanzung warten, ist begreiflicherweise mit Kosten verbunden. Aufgrund des § 150a ASVG idF der 44. Novelle hat die Krankenversicherung nunmehr auch die Melde- und Registrierungskosten für Organtransplantationen als eigenständige Pflichtleistung zu übernehmen. Der Gesetzgeber zählt richtigerweise die Registrierung eines Versicherten zur Gewebetypisierung sowie zur Zuteilung eines für ihn optimal passenden Transplantates zu den für das Gelingen einer Organübertragung unabdingbaren Maßnahmen (Geppert, Organtransplantationen als Leistung der sozialen Krankenversicherung, SozSi 1988, 165, 167; vgl auch MGA-ASVG 63. ErgLfg Anm 1 zu § 150 a). Wenngleich sich aus der zitierten Bestimmung kein Anspruch des Klägers auf Ersatz der von ihm geleisteten Untersuchungskosten ergibt, weil hier nur jenes Kostenrisiko auf die Versichertengemeinschaft übertragen werden soll, das aus der Anmeldung und Registrierung eines Krankenversicherten bzw anspruchsberechtigten potentiellen Organempfängers resultiert, ist daraus doch der allgemeine Grundsatz abzuleiten, daß auch notwendige Vorleistungen für eine Organtransplantation zur notwendigen und zweckmäßigen Krankenbehandlung des potentiellen Organempfängers zählen. Der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten der Krankenbehandlung, zu der auch die Untersuchung seiner in Ägypten lebenden Geschwister gehörte, besteht daher nach § 131 Abs 1 ASVG zu Recht. Gegen die Höhe des dem Kläger vom Berufungsgericht zuerkannten Betrages wird in der Revision nichts ausgeführt, sodaß sich Erörterungen hiezu erübrigen.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.