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VfGH vom 24.11.2016, E1079/2016

VfGH vom 24.11.2016, E1079/2016

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Abweisung des Asylantrags eines somalischen Staatsangehörigen; keine hinreichende Klärung des Sachverhalts hinsichtlich der mangelnden Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Somalia und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach der sogenannten Erstbefragung am wurde er am vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen.

2. Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I) und erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II). Die Asylabweisung wurde darin wörtlich wie folgt begründet:

"Anlässlich der Erstbefragung im Asylverfahren führten Sie aus, Somalia verlassen zu haben da Sie bzw. Ihre Familie sehr arm sei. Sie hätten auch Angst gehabt in Ihrer Heimat zu verhungern, da Sie keinen Beruf und keine Arbeit hätten. Weiteres wäre Ihr Land sehr unsicher und deshalb hätten Sie beschlossen[,] Ihr Glück in Europa zu suchen.

Vor dem BFA schilderten Sie, dass Sie Somalia verlassen hätten wegen Ihrer Volkszugehörigkeit. Sie würden der Volksgruppe der Gaboye angehören[,], und Ihre Frau würde der Volksgruppe der Isaak angehören. Sie würden wegen Ihrer Volkszugehörigkeit von der Familie Ihrer Frau verfolgt werden. Es würde bei der Familie Ihrer Frau um die Ehre gehen. Die Eltern und die Brüder Ihrer Frau wären gegen die Ehe gewesen[,] und Sie wären im 7[.] Monat 2013 geflohen und hätten Ihre Frau geheiratet. Im 8[.] Monat nach der Eheschließung hätten Sie nur mehr bei Ihrem Onkel in Hargeysa gelebt. Ihr[e] Vater und Ihre Geschwister hätten in Mogadischu gelebt. Die Familie Ihrer Frau hätte im 9[.] Monat 2013 Ihren Onkel getötet und hätte auch versucht Sie zu töten. Sie flüchteten daraufhin nach Mogadischu und wollten bei Ihrem Vater leben. In Mogadischu wären Sie dann von der Gruppe Al-Shabaab bedroht worden. Diese Gruppe wollte, dass Sie sich ihnen anschließen. Die Gruppe Al-Shaabab wollte Sie als Sprengstoffattentäter verwenden.

Die Behauptung, dass Sie einer Verfolgung bzw. Bedrohung durch die Familie Ihrer Frau ausgesetzt gewesen wären, weil Sie Ihre Frau gegen den Willen Ihrer Familie geheiratet haben, stellten Sie nur allgemein in den Raum, ohne dies belegen oder glaubhaft machen zu können. Aufgrund der Allgemeinheit und der mangelnden Nachvollziehbarkeit konnte Ihren Angaben keine Glaubwürdigkeit zugesprochen werden. So haben Sie bei Ihrer Erstbefragung angegeben, dass Sie der Volksgruppe der Somali angehören. Vor dem BFA gaben Sie jedoch an, dass Sie der Volksgruppe der Gaboye angehören. Anzumerken ist auch, dass sowohl bei der Erstbefragung als auch bei der Einvernahme vor dem BFA, ein und derselbe Dolmetscher verwendet wurde und Sie nachweislich keine Verständigungsschwierigkeiten hatten. Weiteres haben Sie bei Ihrer Erstbefragung nur wirtschaftliche Gründe für die Flucht aus Ihrem Land angegeben. Vor dem BFA schilderten Sie, dass Sie wegen Ihrer Volkszugehörigkeit und [der] Liebe zu einem Mädchen einer anderen Volksgruppe und die daraus resultierende Verfolgung der Familie dieses Mädchens sie zur Flucht getrieben hat. Warum Sie diese Angaben nicht schon bei Ihrer Erstbefragung angegeben haben, antworteten Sie ganz lapidar: '[I]ch hatte Angst und deshalb habe ich nichts davon erzählt, jetzt habe ich keine Angst mehr und deshalb habe ich jetzt alles erzählt'. Ein weiter[er] Punkt gegen Ihre Glaubwürdigkeit ist, dass Sie und Ihre Frau in demselben Dorf gewohnt haben und dort auch aufgewachsen sind, und Sie sich 3 Mal die Woche auf einem gut besuchten Markt in Ihrem Dorf getroffen haben, ohne dass jemand Sie oder Ihre Frau erkannt hat. Sie waren auch auf diese[m] gut besuchten Markt mit Ihrer Frau innig. Somit ist es nicht nachvollziehbar, dass Sie sich mit Ihrer Frau auf einen belebten Markt getroffen haben und dort auch innig waren[,] obwohl die Familie Ihrer Frau etwas gegen die Beziehung hatte, und laut Ihren Angaben auch Ihren Onkel getötet haben, weil der Ihnen und Ihrer Frau geholfen hat, Ihre Frau zu heiraten bzw. Ihre Frau auch aufgenommen hat. Nachvollziehbar und schlüssig wäre gewesen, wenn Sie Ihre Frau an einen abgeschiedenen Ort in Ihrem Dorf getroffen hätten[,] um so die Beziehung vor der Familie Ihrer Frau geheim zu halten und zum richtigen Zeitpunkt gemeinsam das Land verlassen hätten. So haben Sie mit Ihren Treffen auf diese[m] belebten Markt nicht nur Ihr Leben und das Leben Ihrer Frau in Gefahr gebracht, sondern haben auch Ihren Onkel geopfert, der Ihnen und Ihrer Frau geholfen hat. Auch ist es sehr eigenartig, dass Sie an dem Tag[,] als die Eltern Ihrer Frau sie töten wollten[,] nicht zuhause waren, und als Sie wieder zu dem Haus Ihres Onkels gehen wollten, Sie ihre Tante getroffen haben und diese sie gewarnt hätte, dass Sie die Eltern Ihrer Frau am Markt gesehen hätte. Somit konnten Sie ja gar nicht wissen, dass die Eltern Ihrer Frau zum Haus Ihres Onkels unterwegs waren und Sie genau an diesem Tag töten wollten. Sie sind ja nachdem Ihre Tante Sie gewarnt hat[,] nicht mehr zum Haus Ihres Onkels gegangen, sondern haben Ihr Dorf in Richtung Mogadischu verlassen. Somit [m]utmaßten Sie nur aufgrund der Aussage Ihrer Tante[,] die Sie am Weg getroffen haben, dass Sie an dem besagten Tag wirklich in Gefahr gewesen wären.

Ein[en] weiteren Grund für Ihrer Flucht aus Somalia, nämlich die Bedrohung durch die Al-Shabaab[,] stellten Sie nur vage in den Raum und begründeten die Verfolgung nur dahingehen, dass Sie in Mogadischu in einer Moschee auf Ihre Familie gewartet haben, und dort von der Gruppe Al-Shabaab bedroht wurden. Aufgrund einiger Ungereimtheiten musste Ihnen die Glaubwürdigkeit abgesprochen werden."

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung ab. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht u.a. wörtlich wie folgt aus:

"Einleitend ist festzuhalten, dass die Angaben des Beschwerdeführers weder geeignet noch glaubhaft waren einen asylrelevanten Sachverhalt festzustellen. Gewichtiges Indiz gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens sind insbesondere die unterschiedlichen Schilderungen des Beschwerdeführers im Zuge der Befragungen.

Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer in seinem Verfahren über dessen Antrag auf internationalen Schutz eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen konnte, beruht auf folgenden Erwägungen:

Bereits das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat in seiner Beweiswürdigung dargelegt, dass die vom Beschwerdeführer im Verfahren präsentierte Bedrohungssituation nicht glaubwürdig sei und somit als nicht den Tatsachen entsprechend gewertet werden müsse.

Auch das erkennende Gericht kommt nach gesamtheitlicher Würdigung zu dem Ergebnis, dass die vom Beschwerdeführer angegebene Verfolgungssituation nicht den Tatsachen entspricht.

Während der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung angab, dass er insbesondere flüchtete, weil er Angst gehabt hätte zu verhungern, er weder einen Beruf gelernt noch eine Arbeit in seinem Heimatland gehabt habe und sein Glück in Europa versuchen wollte, schilderte der Beschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme am , dass er Somalia wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit verlassen habe und werde er von der Volksgruppe seiner Frau, den Isaak, verfolgt. Darüber hinaus gab er an, dass er nach der heimlichen Eheschließung bei seinem Onkel gelebt habe, welcher in weiterer Folge von der Familie seiner Frau getötet worden sei. Daraufhin sei der Beschwerdeführer nach Mogadischu zu seinem Vater geflüchtet. Folglich sei er in Mogadischu von Mitgliedern der Gruppe der Al-Shabaab mit dem Tode bedroht worden, sofern er sich der Gruppierung nicht anschließe und hätte der Beschwerdeführer als Sprengstoffattentäter eingesetzt werden sollen.

[…]

Darüber hinaus war in Übereinstimmung mit den Erwägungen im angefochtenen Bescheid als auffällig zu erachten, dass der Beschwerdeführer in Zusammenhang mit seiner Clanzugehörigkeit im Rahmen seiner Erstbefragung am erklärte, dass er der Volksgruppe der Somali angehöre. Vor der belangten Behörde legte hingegen dar, er gehöre den Gaboye an.

[…]

Hervorgehoben sei zudem, dass die belangte Behörde ihre Schlussfolgerungen auch nicht ausschließlich auf Widersprüche zu den anlässlich der Erstbefragung getätigten Angaben stützt, sondern traten im Zuge des weiteren Verfahrens vermehrt Widersprüche innerhalb der Darstellungen des Beschwerdeführers hinzu und wurde seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zudem zutreffend auf die Unplausibilität der Verfolgungsursache hingewiesen, welche als zentral gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens gewertet wurde. Im gegenständlichen Verfahren erscheinen die auffallend divergierenden Ausführungen des Beschwerdeführers, insbesondere vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen, gänzlich unglaubwürdig.

Unabhängig davon, welcher Volksgruppe der Beschwerdeführer tatsächlich angehört, ist anzumerken, dass die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Volksgruppe allein sowie deren etwaige schlechte allgemeine Situation nicht geeignet ist, eine Asylgewährung zu rechtfertigen (vgl. Erk. des Zl. 94/20/0816).

Das Asylgesetz verlangt vielmehr die begründete Furcht vor einer konkret gegen eine Person selbst gerichtete Verfolgungshandlung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründen.

Dazu ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder seine Fluchtgeschichte glaubhaft vorbringen konnte noch war ein aktuelles Verfolgungsinteresse speziell an der Person des Beschwerdeführers erkennbar.

[…]

Weiters führte die belangte Behörde in [ihrer] Beweiswürdigung unter anderem aus, es sei mangels Plausibilität nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer im selben Dorf wie das Mädchen gewohnt und aufgewachsen sei und sich das Paar drei Mal die Woche auf einem gut besuchten Markt im Dorf getroffen hätte[n], ohne jemals erkannt worden zu sein. Auch wäre das Paar dort innig gewesen. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die behauptete Angst vor der Familie der Frau als nicht glaubhaft zu werten.

Plausibel und schlüssig wäre es aus Sicht der Behörde vielmehr gewesen, wenn der Beschwerdeführer seine Frau an einem abgeschiedenen Ort in deren Dorf getroffen hätte[,] um so die Beziehung vor der Familie geheim zu halten und der Beschwerdeführer versucht hätte[,] zum richtigen Zeitpunkt mit seiner Frau das Land zu verlassen.

[…]

Insgesamt kann den vom Beschwerdeführer als Gründe für seine Ausreise angegebenen Umständen daher keine (glaubhafte) Asylrelevanz zugebilligt werden. Ein aktuelles Verfolgungsinteresse der Al-Shabaab speziell an der Person des Beschwerdeführers wird aus dessen Angaben in Zusammenschau mit den herangezogenen Herkunftslandinformationen nicht ersichtlich.

Darüber hinaus ist aufgrund des dargestellten Antwortverhaltens in den unterschiedlichen Befragungen nicht davon auszugehen, dass er das Geschilderte tatsächlich erlebt hat. Vielmehr gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Annahme, dass der Beschwerdeführer zusätzlich eine Verfolgung durch die Al-Shabaab in Mogadischu vorbrachte, um sein Fluchtvorbringen möglichst breit gefächert zu gestalten und somit die Chancen auf die Asylgewährung zu erhöhen."

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand und verwies auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt § 21 Abs 7 BFA VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl. VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer gebotenen mündlichen Verhandlung stellt hingegen eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art 47 Abs 2 GRC dar ( ua.; , U1257/2012; , U2529/2013).

3. Eine solche Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 47 Abs 2 GRC liegt hier vor:

3.1. Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach das Vorbringen des Beschwerdeführers unglaubwürdig sei, beruht auf wesentlichen Feststellungen des BFA betreffend die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens, die wiederum im Wesentlichen auf den Aussagen des Beschwerdeführers in seiner Erstbefragung fußen, denen dieser bei seiner Einvernahme vor dem BFA widersprochen hat.

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher jedenfalls nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der festgestellten mangelnden Glaubhaftmachung geklärt ist. Insoweit lagen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vor (vgl. ). Im Übrigen kann aus den vom Bundesverwaltungsgericht verwendeten Länderfeststellungen – deren hinreichende Aktualität dahingestellt bleiben kann (vgl. dazu etwa VfSlg 19.466/2011 sowie ) – betreffend den Heimatstaat des Beschwerdeführers nicht ohne weiteres gefolgert werden, dass das von ihm geschilderte Vorbringen von vornherein keine asylrechtliche Relevanz entfalte (vgl. auch ; , E1278/2014).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 GRC verletzt worden.

Das angefochtene Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:E1079.2016