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VfGH vom 18.09.2015, E1003/2014

VfGH vom 18.09.2015, E1003/2014

Leitsatz

Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Zurückverweisung der Sache hinsichtlich der Ausweisung in die Russische Föderation infolge unrichtiger Zusammensetzung des Spruchkörpers im Hinblick auf den behaupteten Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung betreffend eine Zwangsverheiratung

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der russischen Föderation, reiste illegal nach Österreich ein und stellte am einen Asylantrag. Dazu brachte sie – auf das Wesentliche zusammengefasst – vor: Sie sei von ihrem Wohnort in Dagestan, wo sie mit ihrer Familie, u.a. mit ihrem Bruder und dessen Familie gemeinsam gelebt habe, geflüchtet, weil sie ihr Bruder erneut habe zwangsverheiraten wollen. Sie hätte bereits eine Zwangsverheiratung samt Ehescheidung hinter sich gehabt.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status einer Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen und die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die russische Föderation ausgewiesen.

3. Die von der Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit der nunmehr in Beschwerde gezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom hinsichtlich der Anerkennung des Status einer Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, und hinsichtlich der Ausweisung gemäß § 76 Abs 20 AsylG 2005 aufgehoben und an das Bundesasylamt zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen, wobei die Entscheidung durch einen Richter männlichen Geschlechts erfolgte.

Begründend wird diese Entscheidung – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – im Wesentlichen darauf gestützt, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht glaubwürdig sei, da sie – wie schon im Verfahren vor dem BAA so auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht – nicht imstande gewesen sei, ihr "fluchtrelevantes Vorbringen substantiiert und nachvollziehbar darzulegen und eine aktuell bestehende Gefährdungssituation glaubhaft zu machen."

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet die vorliegende auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von einer Äußerung abgesehen und auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses verwiesen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).

1.1. § 20 Asylgesetz 2005AsylG 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 4/2008 und § 34 AsylG 2005 idF BGBl I 135/2009 lauten wie folgt:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(3) Abs 1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt § 67e AVG."

1.2. Die Beschwerdeführerin hat vor dem Bundesasylamt sowie in ihrer noch an den Asylgerichtshof gerichteten Beschwerde als Fluchtgrund vorgebracht, dass sie in ihrem Herkunftsland Dagestan nach einer bereits erfolgten Zwangsverheiratung und nachfolgender Ehescheidung ein weiteres Mal von ihrem Bruder zwangsverheiratet werden sollte. Sie hat damit der Sache nach einen drohenden Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung behauptet.

1.3. Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung VfSlg 19.739/2013 – vor dem Hintergrund eines Falles, in dem der Asylwerber als Fluchtgrund drohenden sexuellen Missbrauch geltend gemacht hatte – ausgesprochen, dass nach der Absicht des Gesetzgebers die Einvernahme bzw. gemäß § 20 Abs 2 AsylG 2005 auch die Verhandlungsführung vor dem Asylgerichtshof schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde. In seinem Erkenntnis vom , U1099-1100/2013 hat der Verfassungsgerichtshof dies auf Fälle eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung durch drohende Zwangsverheiratung übertragen.

1.4. Der vorliegende Fall ist in diesem Punkt gleich gelagert. § 20 Abs 2 AsylG 2005 war daher anzuwenden (vgl. zB VfSlg 19.671/2012). Demgegenüber wurde die vorliegende Rechtssache vom Bundesverwaltungsgericht durch einen Richter männlichen Geschlechts sowohl verhandelt als auch entschieden.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin wurde somit durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,- enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2015:E1003.2014