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VfGH vom 10.12.2014, E10/2014

VfGH vom 10.12.2014, E10/2014

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Verhängung eines Aufenthaltsverbots wegen unzureichender Interessenabwägung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein 1965 geborener indischer Staatsangehöriger, reiste 1989 legal nach Österreich ein und war bis zum Jahr 2005 (bis 1993 auf Grund von Sichtvermerken, danach zufolge befristeter Aufenthaltstitel) rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Wegen fünf versuchter Diebstähle (insbesondere von Alkoholika) ab dem Jahr 1998 wurde der Beschwerdeführer strafgerichtlich zu Geldstrafen verurteilt; wegen erneuter Begehung eines solchen Deliktes im Jahr 2004 sowie des zudem begangenen Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betruges (iZm dem vielfachen Abschluss von Mobiltelefonverträgen) erfolgte eine Verurteilung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten. In der Folge wurde ein bestehender Aufenthaltstitel nicht verlängert und ein Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes eingeleitet. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom wurde über den Beschwerdeführer ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot verhängt.

2. Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Wien vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des befristeten Aufenthaltsverbotes abgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung wurde – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat Wien – vom nunmehr zuständigen Verwaltungsgericht Wien gemäß § 28 Abs 1 VwGVG iVm § 3 Abs 7 Z 2 VwGbk-ÜG mit Erkenntnis vom als unbegründet abgewiesen und unter einem ausgesprochen, dass gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 B VG unzulässig sei.

Begründend verweist das Verwaltungsgericht Wien im Wesentlichen auf die strafgerichtlichen Verurteilungen sowie die Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes. Das gezeigte Wohlverhalten seit der Haftentlassung im Jahre 2004 sowie der lange Aufenthalt im Bundesgebiet würden durch die Ausreiseunwilligkeit relativiert. Der Beschwerdeführer lasse eine Bereitschaft, sich entsprechend den in Österreich geltenden rechtlichen Geboten (insbesondere den fremdenrechtlichen Vorschriften) zu verhalten, nicht erkennen. Er habe weder an der Ausstellung eines Heimreisezertifikates noch an der Beischaffung eines Reisedokumentes seines Heimatstaates Indien mitgewirkt und trotz aufrechten Aufenthaltsverbotes angegeben, Österreich nicht verlassen zu wollen. Zudem habe sich die prekäre wirtschaftliche Situation des Beschwerdeführers, die mitausschlaggebend für die wiederholte Begehung von Vermögensdelikte gewesen sei, nicht gebessert, er verfüge weder über regelmäßiges Einkommen noch über Sozialversicherungsschutz. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes sei er auf Zuwendungen staatlicher und karitativer Organisationen angewiesen. Insoweit könne nicht von einem Wegfall der negativen Prognose ausgegangen werden. Die im Jahr 2007 getroffene Annahme, der Aufenthalt des Beschwerdeführers gefährde die öffentliche Ordnung und Sicherheit, sei daher nicht weggefallen.

Es bestünden auch keine familiären Bindungen im Bundesgebiet; die Ehefrau sowie zwei Brüder des Beschwerdeführers seien im Herkunftsstaat Indien aufhältig. Insoweit vermöge das Interesse des Beschwerdeführers am Unterbleiben von Eingriffen in sein Privatleben das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes nicht zu überwiegen.

Die durch das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011 (BGBl I 38/2011) im Hinblick auf aufenthaltsverfestigte Fremde eingetretene Änderung der Rechtslage vermöge an diesem Ergebnis nichts zu verändern, da eine Aufenthaltsverfestigung iSd § 64 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) nicht stattgefunden habe. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Begehung einer strafbaren Handlung im Jahre 1998 habe sich der Beschwerdeführer noch nicht zehn Jahre im Bundesgebiet aufgehalten (Z1); auch sei er nicht von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen (Z2), da dies nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Einreise vor Vollendung des vierten Lebensjahres voraussetze (mit Verweis auf ; , 2007/18/0529).

3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 BVG-Rassendiskriminierung) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt:

Das Verwaltungsgericht Wien habe die durch BGBl 38/2011 erfolgte Änderung des Fremdenpolizeigesetzes 2005 nicht berücksichtigt. Gemäß § 64 Abs 1 Z 1 FPG dürfe gegen einen (strafrechtlich verurteilten) Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, eine Ausweisung bzw. ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) verliehen hätte werden können. Der Beschwerdeführer habe sich zum Zeitpunkt der primär relevanten Verurteilung im Jahr 2004 bereits über zehn Jahre im Bundesgebiet aufgehalten und auch alle weiteren Voraussetzungen für eine Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft erfüllt, weshalb eine (der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes entgegenstehende) Aufenthaltsverfestigung vorliege.

Zudem habe das Verwaltungsgericht Wien eine unzureichende Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK vorgenommen, da der Beschwerdeführer seit dem Jahr 1989 – davon 18 Jahre rechtmäßig – in Österreich gelebt und gearbeitet habe. Er verfüge über ausgezeichnete Deutschkenntnisse und – auf Grund des langen Aufenthaltes – über einen großen Bekanntenkreis in Österreich. Seit 2004 habe er sich wohlverhalten und auf Grund einer erfolgreich abgeschlossenen Therapie seine Alkoholabhängigkeit überwunden. Zu seiner in Indien lebenden Ehefrau bestehe seit dem Jahr 2003 kein Kontakt; intensive familiäre Beziehungen zum Heimatstaat seien nicht (mehr) gegeben.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (als nunmehr zur Erlassung von Aufenthaltsverboten nach dem FPG zuständige Behörde) sowie das Verwaltungsgericht Wien legten die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sahen jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift bzw. Äußerung ab.

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl I 100 idF BGBl I 38/2011, stellen sich wie folgt dar:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§61. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

[…]

Aufenthaltsverfestigung

§64. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Ausweisung gemäß § 62 und ein Aufenthaltsverbot gemäß § 63 nicht erlassen werden, wenn

1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl Nr 311, verliehen hätte werden können, oder

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

(2) Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen waren, dürfen mangels eigener Mittel zu ihrem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft nicht ausgewiesen (§62) werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(3) Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen waren, dürfen nur mehr ausgewiesen (§62) werden, wenn sie von einem inländischen Gericht wegen Begehung einer strafbaren Handlung rechtskräftig verurteilt wurden und ihr weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden würde. § 73 StGB gilt.

[…]

Aufenthaltsverbot

§67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.

(3) Ein Aufenthaltsverbot kann unbefristet erlassen werden, wenn insbesondere

1. der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

2. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§278e StGB);

3. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder

4. der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.

(4) Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes ist auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist beginnt mit Eintritt der Durchsetzbarkeit zu laufen.

(5) § 59 Abs 1 gilt sinngemäß.

[…]

Gegenstandslosigkeit und Aufhebung

§69. (1) Eine Ausweisung wird gegenstandslos, wenn der Fremde seiner Ausreiseverpflichtung (§70) nachgekommen ist. § 73 gilt.

(2) Eine Ausweisung und ein Aufenthaltsverbot sind auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe, die zu ihrer Erlassung geführt haben, weggefallen sind.

(3) Das Aufenthaltsverbot tritt außer Kraft, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird."

III. Erwägungen

1. Gemäß § 125 Abs 22 FPG idF BGBl I 87/2012 sind alle mit Ablauf des bei einem Unabhängigen Verwaltungssenat der Länder anhängigen Berufungsverfahren nach dem Fremdenpolizeigesetz ab vom jeweils zuständigen Landesverwaltungsgericht nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl I 87/2012 zu Ende zu führen. Das Verwaltungsgericht Wien war insoweit zuständig, über die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der Landespolizeidirektion Wien zu erkennen.

2. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

3. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

Wie der Verfassungsgerichtshof u.a. in seinem Erkenntnis VfSlg 18.223/2007 dargelegt hat, ist im Zusammenhang mit der Verfügung einer Ausweisungsentscheidung stets das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht. Diese Kriterien sind auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zu berücksichtigen, weil dieses die Verpflichtung des Fremden in sich trägt, unverzüglich das Bundesgebiet zu verlassen ().

4. Im Lichte dessen erweist sich die vom Verwaltungsgericht Wien vorgenommene Abwägung iSd Art 8 EMRK als verfassungswidrig:

Zwar hat das Verwaltungsgericht Wien im konkreten Fall eine Interessenabwägung durchgeführt, dabei jedoch keine nachvollziehbar begründete Gewichtung der maßgeblichen Kriterien vorgenommen, indem erhebliche Punkte unberücksichtigt blieben bzw. bei Gegenüberstellung der Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet und den öffentlichen Interessen an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme aktenkundige Umstände übergangen oder unrichtig bewertet wurden. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht Wien dem kriminellen Verhalten sehr hohen Stellenwert eingeräumt, jedoch dem (teils sehr) langen Zurückliegen der Taten, deren überwiegend geringem Gewicht und der offenkundig durch die damalige Alkoholabhängigkeit mitbedingten Motivlage (einschließlich des Vorbringens über erfolgreich abgeschlossene therapeutische Maßnahmen) keine ausreichende Bedeutung beigemessen. Es wird vom Verwaltungsgericht Wien nicht plausibel dargelegt, inwieweit die rund zehn Jahre zurückliegende Straffälligkeit des Beschwerdeführers für die Annahme des Vorliegens öffentlicher Interessen an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme noch in einer Weise maßgeblich sein kann, dass ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot erforderlich ist. Dies trifft auch auf das in die Abwägungsentscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers einbezogene – ebenfalls bereits vor Jahren entstandene – Aufkommen für Krankenhausaufenthalte zu. Zudem hat das Verwaltungsgericht Wien bei seiner mehrfachen Bezugnahme auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers den Umstand einer allenfalls bereits erfolgten (oder zumindest möglichen) – und die strafrechtliche Unbescholtenheit bewirkende – Tilgung gänzlich unerörtert gelassen. Der Verfassungsgerichtshof vermag auch nicht zu erkennen, dass sich aus der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation des Beschwerdeführers Rückschlüsse auf das Weiterbestehen einer von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ziehen ließen.

Das Verwaltungsgericht Wien hat sich somit nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob im Rahmen seines mehr als 24 Jahre (davon 16 Jahre rechtmäßigen) – und damit rund die Hälfte seines Lebens – währenden Aufenthalts im Inland eine private wie berufliche Bindung des Beschwerdeführers zu Österreich entstanden ist, der ein entsprechender Verlust der Bindungen zu seinem ursprünglichen Heimatstaat gegenübersteht (vgl. VfSlg 18.223/2007, 18.388/2008, 18.392/2008).

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist mithin durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

2. Das angefochtene Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2014:E10.2014