VfGH vom 23.11.1984, B171/80
Sammlungsnummer
10240
Leitsatz
Opferfürsorgegesetz; Zurückweisung eines Antrags auf Anerkennung als Opfer iS des § 1 Abs 2 litc wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs 1 AVG; keine Änderung des maßgeblichen Sachverhaltes; kein Entzug des gesetzlichen Richters; inhaltliche Auseinandersetzung mit neuem Gutachten; keine Willkür
Spruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. I P wurde als achtjähriges Kind - nach eigenem Vorbringen - wegen ihrer "Zugehörigkeit zur Zigeunerrasse" gemeinsam mit ihrer Mutter im Oktober 1941 in das Anhaltelager Lackenbach verbracht und dort bis 1945 angehalten; ihre Mutter verstarb kurze Zeit nach der Befreiung. Ihr Vater wurde 1938 in das KZ Mauthausen verschleppt und ist später im KZ Buchenwald umgekommen.
2.1. Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurde dem Antrag der I P, sie als Opfer iS des Opferfürsorgegesetzes (künftig: OFG) anzuerkennen, keine Folge gegeben. Gemäß § 1 Abs 1 lite OFG bestehe ein solcher Anspruch nur dann, wenn aus politischen oder Abstammungsgründen eine mindestens sechsmonatige KZ-Haft oder mindestens einjährige Polizei- oder Gefängnishaft verbüßt worden sei; die Anhaltung im Arbeitslager Lackenbach habe diesen Voraussetzungen nicht entsprochen.
2.2. Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 20. Feber 1963 wurde I P jedoch aufgrund eines Antrages vom gemäß § 14 Abs 2 litb OFG idF der 12. Nov. für die Internierung im Lager Lackenbach eine Entschädigung von 14700 S zuerkannt.
2.3. Auch dem vom I P mit Antrag vom erhobenen Begehren auf Zuerkennung einer Entschädigung für Abbruch der Berufsausbildung wurde Folge gegeben und ihr mit Bescheid vom ein Betrag von 6000 S zugesprochen.
2.4. Mit Bescheid vom wurde einem weiteren Antrag der I P vom auf Anerkennung einer Anspruchsberechtigung iS des § 1 Abs 2 lite OFG Folge gegeben und ihr gemäß § 4 Abs 3 OFG ein Opferausweis ausgestellt.
2.5.1. Am begehrte I P sodann die "Umwandlung" ihres Opferausweises in eine Amtsbescheinigung. Seit ihrer Anhaltung im Lager Lackenbach leide sie an schweren Angstzuständen, Schlafstörungen und Anfällen von Atemnot. Des weiteren begehrte I P die Zuerkennung einer Rentenleistung.
2.5.2. Mit Bescheid vom wurde dem Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung gemäß § 1 Abs 2 litc OFG keine Folge gegeben. Die Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. A W, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, habe ergeben, daß der Zustand der Antragstellerin (neurasthenisch-depressives Bild, vegetative Synkopen, Angstzustände) als Folge der seinerzeitigen Verfolgungserlebnisse anzusehen sei. Hiedurch sei nach den Richtsätzen für die Einschätzung der Minderung der Erwerbstätigkeit nach den Vorschriften des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, Anlage zur V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom , BGBl. 150 (Richtsätzeverordnung), in Folge eines bionegativen Persönlichkeitswandels durch Anhaltung unter menschenunwürdigen Bedingungen gemäß Pos. Nr. V/e/585 eine vollkausale Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vH eingetreten; für die Zuerkennung einer Amtsbescheinigung sei nach dem OFG jedoch eine 50prozentige MdE erforderlich.
Der dagegen erhobenen Berufung wurde vom Bundesminister für soziale Verwaltung mit Bescheid vom keine Folge gegeben.
2.5.3. Der Antrag der I P auf Gewährung einer Rente ist mit Bescheid vom abgewiesen worden.
2.6.1. Mit Antrag vom begehrte I P (neuerlich) den "Umtausch" ihres Opferausweises gegen eine Amtsbescheinigung und die Zuerkennung einer Opferrente, da sich ihr Gesundheitszustand wesentlich verschlechtert habe.
2.6.2. Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurden der Antrag auf Anerkennung der Anspruchsberechtigung gemäß § 1 Abs 2 litc OFG und das damit verbundene Begehren auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung gemäß § 68 Abs 1 AVG 1950 zurückgewiesen.
2.6.3. Der dagegen erhobenen Berufung wurde vom Bundesminister für soziale Verwaltung mit Bescheid vom 20. Feber 1980, Z 242143/3-5/79, keine Folge gegeben.
Die Behörde habe aufgrund des neuerlichen Antrages ein medizinisches Ermittlungsverfahren durchgeführt; aus gynäkologischer Sicht sei ein Zustand nach vaginaler Gebärmutterentfernung erhoben und als nicht verfolgungsbedingt festgestellt worden. Auf psychiatrischem Gebiet sei eine Psychoneurose festgestellt, nach Pos. 583 mit 0 vH eingestuft, und deren Verfolgungsbedingtheit verneint worden. Im angefochtenen Bescheid wird darauf verwiesen, daß dem Sachverständigengutachten Dr. W nicht Befunde derselben Vielfalt zugrunde lagen.
Gemäß § 68 Abs 1 AVG 1950 seien Anbringen von Beteiligten, die außer in den Fällen der §§69 bis 71 AVG 1950 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Rechtssache zurückzuweisen. Ein gleichartiges Anbringen der I P sei bereits 1971 abgewiesen worden.
3.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht, die Gesetzwidrigkeit der Pos. 582 der Richtsätzeverordnung behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
3.2. Die bel. Beh. hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.
4. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
4.1. Der angefochtene Bescheid enthält, indem er den erstinstanzlichen Bescheid bestätigt, den ausdrücklich auf § 68 Abs 1 AVG 1950 gestützten Ausspruch, daß das als Antrag auf Anerkennung als Opfer iS des § 1 Abs 2 litc OFG gewertete Ersuchen der Bf. auf Umtausch ihres Opferausweises gegen eine Amtsbescheinigung wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wird. Dieser Ausspruch wird darauf gestützt, daß ein rechtskräftiger Bescheid vom bereits vorlag und der diesem Bescheid zugrunde liegende Sachverhalt unverändert geblieben ist. Sind Sachverhalt und Rechtslage unverändert, so ist tatsächlich ein Antrag, mit dem die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehrt wird, sofern die Behörde nicht den Anlaß zu einer Verfügung gemäß den Abs 2 bis 4 findet, gemäß § 68 Abs 1 AVG 1950 wegen entschiedener Sache zurückzuweisen (vgl. ).
4.2. Eine Änderung der Rechtslage wird von der Bf. nicht behauptet, sie vermeint aber, daß ihr Antrag zurückgewiesen wurde, obwohl Gegenstand des angefochtenen Bescheides nicht die Sachlage gewesen sei, wie sie im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides vom gegeben war. Sie habe ausdrücklich vorgebracht, daß sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Gegenstand ihrer Antragstellung sei somit ihr Gesundheitszustand im Zeitpunkt der neuerlichen Antragstellung gewesen, sodaß schon aus diesem Grunde Sachidentität mit dem früheren Verfahren nicht vorliegen konnte. Der angefochtene Bescheid verletze die Bf. somit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.
4.3. Wie der VfGH mit Erk. vom , B209/79, jedoch ausgesprochen hat, ist die Frage, ob sich die nach dem früheren Bescheid maßgebend gewesene Sachlage derart geändert hat, daß die Erlassung eines neuen Bescheides in Betracht kommt, durch Messen des bestehenden Sachverhaltes an der dem früheren Bescheid zugrunde liegenden Rechtsanschauung und ihrem normativen Hintergrund zu beantworten, und zwar nach derselben Methode, mit der er im Falle einer neuen Sachentscheidung an der Norm selbst zu messen wäre. Dieser Vorgang gleicht der Lösung der Sachfrage so sehr, daß er auch wie diese behandelt werden muß. Hat sich also die zuständige Behörde zu Recht mit der Frage beschäftigt, ob nach Rechtskraft einer Entscheidung eine Änderung des maßgeblichen Sachverhaltes eine neue Entscheidung rechtfertigt und diese Frage verneint, so berührt eine allfällige Unrichtigkeit ihres Urteils das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter im allgemeinen ebensowenig wie eine unrichtige Ansicht über die bindende Wirkung einer anderen behördlichen Erledigung (VfSlg. 6740/1972, 7144/1973, 7972/1976 und 8214/1977) oder die Zulässigkeit der Wiederaufnahme eines Verfahrens (VfSlg. 7865/1976).
Selbst eine inhaltliche Unrichtigkeit eines angefochtenen Bescheides würde damit eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht nach sich ziehen.
4.4.1. Die Bf. behauptet jedoch auch eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.
Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (zB VfSlg. 8856/1980, 9015/1981) durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde nur verletzt werden, wenn dieser auf einer mit dem Gleichheitsgebot in Widerspruch stehenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn die Behörde Willkür geübt hat.
Ein Aufgreifen von Normbedenken gegen die seinerzeit angewendeten Bestimmungen kommt in einem Beschwerdeverfahren, das eine Zurückweisung wegen entschiedener Sache nach § 68 Abs 1 AVG 1950 zum Gegenstand hat, nicht in Frage (dies trifft auch für die behaupteten Bedenken gegen die Pos. 582 und 583 der Richtsätzeverordnung zu); eine Verletzung des Gleichheitsgebotes kann daher nur bei Willkür vorliegen.
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder im Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. zB VfSlg. 8808/1980 und die dort zitierte Vorjudikatur, VfSlg. 9187/1981).
4.4.2. Tatsächlich läßt das Sachverständigengutachten, auf das sich der angefochtene Bescheid stützt, unaufgeklärt, warum das dem Bescheid vom zugrunde liegende Krankheitsbild nach Pos. 585 weggefallen ist und nun eine Einschätzung nach Pos. 583 zutrifft; während im Jahre 1971 eine verfolgungskausale MdE von 40 vH bejaht wurde, kommt der angefochtene Bescheid zu dem Ergebnis, daß keine kausale Schädigung und keine MdE vorliegen. Ob dies auf eine Besserung des Gesundheitszustandes der Bf. zurückzuführen ist oder ob der Fall heute medizinisch anders beurteilt wird (wobei allenfalls für das nunmehrige Sachverständigenergebnis maßgebend gewesen sein könnte, daß die ursprüngliche Diagnose vom Sachverständigen dieses Verfahrens nicht geteilt wird), ja in welcher Relation die Pos. 582/583 und 585 überhaupt zueinander stehen, wird nicht beantwortet. All dies sind jedoch allfällige Verfahrensmängel, die die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung betreffen und damit vom VwGH zu beurteilen sind. Auch wenn die bel. Beh. unrichtig entschieden hätte, kann ihr deshalb allein Willkür noch nicht angelastet werden, zumal sie sich mit dem Gutachten auch inhaltlich auseinandergesetzt hat und begründet, warum sie dem nunmehrigen Sachverständigen folgt ("Es darf darauf verwiesen werden, daß dem ... Sachverständigengutachten Dris. W nicht Befunde dieser Vielfalt zugrunde lagen"). Umstände, die darauf schließen ließen, daß die Behörde aus unsachlichen Gründen zu einem allenfalls verfehlten Ergebnis gekommen wäre, sind nicht hervorgekommen. Das Verwaltungsgeschehen spricht vielmehr dafür, daß die Behörde bemüht war, eine richtige Entscheidung zu treffen.
Auch eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ist daher zu verneinen.
4.5. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß die Bf. in sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, daß sie in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.
Die Beschwerde war daher abzuweisen.