VfGH vom 29.08.1994, B990/93
Sammlungsnummer
13838
Leitsatz
Kein Verstoß der vom AVG abweichenden Verfahrensregelungen des Asylrechts gegen die Kompetenz zur Bedarfsgesetzgebung in Angelegenheiten des Verwaltungsverfahrens aufgrund der Besonderheiten des Asylverfahrens; kein Widerspruch zum Rechtsstaatsgebot; Aufhebung der angefochtenen Bescheide aufgrund der Anlaßfallwirkung der Aufhebung des Wortes "offenkundig" in § 20 AsylG 1991 wegen Rechtsverletzung durch Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung
Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern, jeweils zu Handen ihrer Rechtsvertreter, die mit je 15.000 S bestimmten Prozeßkosten bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg gab mit Bescheid vom dem Antrag der zu B990/93 beschwerdeführenden Partei (eines ägyptischen Staatsangehörigen) auf Anerkennung als Flüchtling nach dem Asylgesetz 1968 keine Folge.
Der Bundesminister für Inneres (BMI) wies - gestützt insbesondere auf § 1 Z 1 und § 3 iVm § 25 Abs 2 erster Satz des Asylgesetzes 1991, BGBl. 8/1992, - mit Bescheid vom die dagegen erhobene Berufung ab.
b) Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom gemäß § 3 AsylG 1991 den von der zu B1074/93 beschwerdeführenden Partei (einem irakischen Staatsangehörigen) gestellten Asylantrag ab.
Mit Bescheid des BMI vom wurde die dagegen vom Asylwerber eingebrachte Berufung abgewiesen.
2. Gegen die Bescheide des BMI wenden sich die vorliegenden, auf Art 144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (B990/93) und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes - § 20 AsylG 1991 - (B1074/93) behauptet wird. Die Beschwerdeführer beantragen die kostenpflichtige Aufhebung des jeweils angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof. Zu B1074/93 wurde ein ergänzender Schriftsatz eingebracht.
3. Der BMI als jene Behörde, die die bekämpften Bescheide erlassen hat, legte die Administrativakten vor, sah jedoch davon ab, Gegenschriften zu erstatten.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:
1. Der Beschwerdeführer zu B1074/93 macht Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 20 AsylG 1991 geltend.
Der Verfassungsgerichtshof teilt - mit der im folgenden Pkt. 2 erwähnten Ausnahme - diese Bedenken nicht:
§ 20 AsylG 1991 lautete zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide:
"§20. (1) Der Bundesminister für Inneres hat über eine zulässige Berufung in jedem Fall in der Sache selbst zu entscheiden und seiner Entscheidung das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens erster Instanz zugrunde zu legen.
(2) Der Bundesminister für Inneres hat eine Ergänzung oder Wiederholung des Ermittlungsverfahrens anzuordnen, wenn es offenkundig mangelhaft war, der Asylwerber Bescheinigungsmittel vorlegt, die ihm im Verfahren vor dem Bundesasylamt nicht zugänglich waren, oder wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung erster Instanz zugrunde gelegt wurde, in der Zwischenzeit geändert hat."
Das Asylverfahren weist Besonderheiten auf, die Abweichungen von den Bestimmungen des AVG erforderlich machen:
Zum einen ist es im Asylverfahren geboten, Dolmetscher und besonders sachkundige Bedienstete einzusetzen.
§ 10 Abs 1 Z 1 AsylG 1991 richtet denn auch für die Durchführung des Asylverfahrens in erster Instanz eine eigene Behörde, nämlich das Bundesasylamt, ein. Nach Abs 2 hat diese zur Vollziehung des AsylG 1991 "dafür besonders qualifizierte und informierte Bedienstete heranzuziehen".
In diesem Zusammenhang führen die Erläuterungen der Regierungsvorlage zum AsylG 1991 aus (270 BlgNR 18.GP, S 17):
"Dadurch sollen Elemente der Unmittelbarkeit im Asylverfahren Platz greifen, da die Unmittelbarkeit erst jene Kommunikation zwischen Asylwerber und entscheidendem Organ schafft, die für eine einzelfallbezogene und genügend differenzierte Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylwerbers notwendig ist. Damit wird die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die richtige Entscheidung mit relativ geringem Aufwand sachgerecht vorgenommen werden kann. Besonders qualifiziert und informiert wird ein Bediensteter im Sinne dieser Bestimmung dann sein, wenn er neben den erforderlichen rechtlichen Qualifikationen die notwendige Sachkenntnis über jene Verfolgerstaaten, für die er zuständig ist, besitzt und zudem Verständnis für die besonderen Schwierigkeiten und Nöte eines Asylwerbers aufbringen kann."
Damit ist gerechtfertigt, das Ermittlungsverfahren bei der Behörde erster Instanz (Bundesasylamt), die über besonders spezialisierte und sachkundige Bedienstete zu verfügen hat, zu konzentrieren.
Zum anderen rechtfertigen folgende weitere Gründe die im § 20 AsylG 1991 enthaltenen Abweichungen vom AVG:
Ein Asylwerber, der direkt aus dem Staat kommt, in dem er nach seinen Behauptungen Verfolgung befürchten muß (§6 Abs 1 AsylG 1991 i.d.F. der Druckfehlerberichtigung BGBl. 437/1993), ist ab dem Zeitpunkt, zu dem (rechtzeitig) ein Asylantrag gestellt wurde, zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt (§7 Abs 1 AsylG 1991). Solange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, genießt der Asylwerber somit bereits vorläufig jenes Recht, dessen Erlangung letztlich das wichtigste Ziel der Asylgewährung ist, nämlich das Recht, sich im Bundesgebiet aufzuhalten. Vom AVG abweichende Bestimmungen, die sicherstellen, daß der Asylwerber am Verfahren mitwirkt, sachdienliches Vorbringen - nach Belehrung durch die Behörde - zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erstattet und nicht durch späteres Vorbringen das Verfahren verzögern kann, stehen im Zusammenhang mit der Begünstigung der vorläufigen Berechtigung zum Aufenthalt und sind zur Sicherstellung der Mitwirkung der Antragsteller am Verfahren unerläßlich. Solche Vorschriften entsprechen der Besonderheit des Asylverfahrens.
§ 20 AsylG 1991 ist also - von der noch zu behandelnden Ausnahme (s.u. Pkt.2) abgesehen - allein schon aufgrund dieser Überlegungen "zur Regelung des Gegenstandes erforderlich" i.S. des Art 11 Abs 2 B-VG (s. u.a.Zlen., sowie die dort zitierte weitere Judikatur) und steht auch nicht im Widerspruch zum Rechtsstaatsgebot (s. hiezu G92,93/94).
2.a) Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch aus Anlaß dieser Beschwerden am beschlossen, gemäß Art 140 Abs 1 B-VG die Verfassungsmäßigkeit des Wortes "offenkundig" in § 20 Abs 2 des Asylgesetzes 1991 von Amts wegen zu prüfen.
Mit Erkenntnis vom , G92,93/94, hob er die in Prüfung gezogene Bestimmung als verfassungswidrig auf und verfügte, daß diese nicht mehr anzuwenden ist.
b) Die belangte Behörde hat mithin eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht von vornherein ausgeschlossen - aber vom Verfassungsgerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeit (vgl. § 19 Abs 4 Z 3 VerfGG) nicht im einzelnen zu prüfen -, daß ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war.
Die Beschwerdeführer wurden also durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg. 10404/1985).
Die Bescheide waren daher aufzuheben.
3. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 3 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von je 2.500 S enthalten.