OGH vom 04.03.2013, 8ObS5/12m

OGH vom 04.03.2013, 8ObS5/12m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner und Peter Schönhofer als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M***** S*****, vertreten durch Puttinger, Vogl Partner Rechtsanwälte GmbH in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur, wegen 11.787,50 EUR sA (Insolvenz-Entgelt), über die Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse 11.287,50 EUR) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse 500 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 39/12b 12, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 18 Cgs 154/11z 9, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Beide Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 225,07 EUR (darin enthalten 37,51 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Begründung:

Der Kläger war vom bis zu seinem berechtigten vorzeitigen Austritt am als Arbeiter in einem Transportunternehmen beschäftigt. Trotz Interventionen seiner gesetzlichen Interessenvertretung erhielt er ab dem Jahr 2004 keine Lohnabrechnungen.

Am brachte er eine Klage gegen den Arbeitgeber auf Zahlung rückständiger Entgelt- und Beendigungsansprüche für den Zeitraum seit ein. Dem Klagebegehren wurde mit Urteil vom rechtskräftig stattgegeben.

Am wurde ein Antrag auf Eröffnung des Konkurses über das Vermögen des Arbeitgebers mangels Kostendeckung abgewiesen.

Mit dem klagsgegenständlichen Bescheid wies die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Insolvenz Entgelt für die Monate Juni bis September 2005 samt anteiligen Zinsen und Verfahrenskosten gemäß § 3a Abs 1 IESG mangels fristgerechter Geltendmachung ab.

Der Kläger brachte vor, er habe im strittigen Zeitraum keine Lohnabrechnungen erhalten und daher nicht erkennen können, dass ihm Entgelt vorenthalten werde. Er habe sich dadurch in einer vergleichbaren Lage befunden wie ein Dienstnehmer, dem eine Differenz zum kollektivvertraglichen Entgelt vorenthalten wurde, weshalb die sechsmonatige Frist nach § 3a Abs 1 zweiter Satz IESG für ihn nicht gelte.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Ausnahmetatbestand nach § 3a Abs 1 IESG sei eng auszulegen und im Anlassfall schon deshalb nicht anwendbar, weil Gegenstand des Vorverfahrens nicht ein Abweichen von den kollektivvertraglichen Lohnansätzen, sondern der Umfang der erbrachten, aber nicht entlohnten Leistungen gewesen sei. Der Kläger habe durchaus erkennen können, dass er nicht entsprechend entlohnt wurde und deswegen schließlich seine Interessenvertretung eingeschaltet. Es wäre ihm möglich und zumutbar gewesen, eine Klage auf Vorlage ordnungsgemäßer Lohnabrechnungen einzubringen.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel des Klägers teilweise Folge. Es änderte das erstinstanzliche Urteil dahin ab, dass es dem Kläger 500 EUR unter Bestätigung der Abweisung des Mehrbegehrens zusprach.

Die Begründung des erstinstanzlichen Urteils sei grundsätzlich zutreffend, allerdings habe das Erstgericht nicht berücksichtigt, dass im Zuge des Vorverfahrens unter anderem auch eine unrichtige kollektivvertragliche Einstufung des Klägers zutage getreten sei. Für jene Entgeltdifferenzen, die sich aus der unterkollektivvertraglichen Bezahlung ergeben hätten, sei aber keine Ausschlussfrist anzuwenden. Die Höhe dieses Anspruchs könne nach § 273 ZPO bestimmt werden.

Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung darüber fehle, ob bzw welche gerichtlichen Maßnahmen ein Arbeitnehmer setzen müsse, der keine Lohnabrechnungen erhalten hat, um seinen Anspruch auf Insolvenz Entgelt nicht zu verlieren.

Rechtliche Beurteilung

Die von beiden Streitteilen erhobenen und von der jeweiligen Gegenpartei beantworteten Revisionen sind ungeachtet des Ausspruchs des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil sie keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 ZPO ansprechen.

1. Revision des Klägers

Nach § 3a Abs 1 IESG gebührt Insolvenz-Entgelt für das dem Arbeitnehmer gebührende Entgelt einschließlich der gebührenden Sonderzahlungen, das in den letzten sechs Monaten vor dem Stichtag (§ 3 Abs 1 IESG) oder, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Stichtag geendet hat, in den letzten sechs Monaten vor dessen arbeitsrechtlichen Ende fällig geworden ist. Die Frist von sechs Monaten gilt nicht, soweit Ansprüche auf Entgelt binnen sechs Monaten nach ihrem Entstehen gerichtlich oder im Rahmen eines in Normen der kollektiven Rechtsgestaltung vorgesehenen Schlichtungsverfahrens oder eines Verfahrens vor der Gleichbehandlungskommission zulässigerweise geltend gemacht wurden und das diesbezügliche Verfahren gehörig fortgesetzt wird und soweit eine Differenz zwischen unterkollektivvertraglicher und kollektivvertraglicher Entlohnung beantragt wird.

Der erkennende Senat hat dazu wiederholt ausgesprochen, dass der Unterschiedsbetrag zwischen unterkollektivvertraglicher und kollektivvertraglicher Entlohnung nur dann der zeitlichen Begrenzung entgeht, wenn der Arbeitnehmer das Abweichen des vereinbarten Lohns von den Ansätzen des Kollektivvertrags zumutbarerweise nicht erkennen konnte (RIS-Justiz RS0116312).

Ob dies zu bejahen ist, hängt von den Besonderheiten des konkreten Sachverhalts ab und hat regelmäßig keine über diesen hinausgehende Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO. Die Revision wäre daher nur zulässig, wenn die Rechtsansicht des Berufungsgerichts auf einer groben Fehlbeurteilung beruhen würde, die im Interesse der Rechtssicherheit einer Korrektur bedürfte.

Diese Voraussetzung zeigt der Kläger nicht auf. Er hat nach den Feststellungen im Jahre 2005 nicht bloß theoretisch erkennen können, sondern tatsächlich erkannt, dass sein gebührendes Entgelt, insbesondere wegen Nichtzahlung von Überstunden, geschmälert wurde und „von Haus aus nicht gestimmt“ hat. Seine Arbeitszeitaufzeichnungen behielt er zurück, weil sie der Arbeitgeber „sowieso nicht geglaubt“ hätte. Die in der Revision aufgeworfene Frage, ob und unter welchen „emotionalen“ Umständen es einem Arbeitnehmer zumutbar wäre, bei aufrechtem Arbeitsverhältnis auf Abrechnung zu klagen, um eventuellen Entgeltdifferenzen auf die Spur zu kommen, stellt sich bei diesem Sachverhalt nicht.

Auch wenn der Zweck der Befristung des Anspruchs nach § 3a Abs 1 IESG in der Verhinderung einer missbräuchlichen Überwälzung des Insolvenzrisikos auf den Fonds zu sehen ist (vgl ua Gahleitner in ZellKomm² § 3a IESG Rz 1), kommt es für die Anwendung dieser Bestimmung nicht auf einen konkreten Missbrauchsvorsatz des Arbeitnehmers an. Die gesetzliche Insolvenzsicherung hat den Zweck, die Arbeitnehmer vor dem Verlust des Entgelts zu schützen, auf das sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts und des Unterhalts ihrer Angehörigen angewiesen sind. Sie beschränkt sich aber auf eine Mindestsicherung, die sowohl der Höhe nach ( Gahleitner aaO § 1 IESG Rz 1), als auch zeitlich begrenzt ist, zumal der Unterhaltscharakter bei Entgelt, das über viele Monate lang stehengelassen wurde, in den Hintergrund tritt.

Die Vorinstanzen haben daher den Anspruch des Klägers, soweit er nicht auf kollektivvertragliche Entgeltdifferenzen gerichtet war, ohne aufzugreifenden groben Rechtsirrtum als verfristet beurteilt.

2. Revision der Beklagten

Die Beklagte wendet sich gegen den klagsstattgebenden Teil der Berufungsentscheidung und argumentiert, die Ausnahmebestimmung für Kollektivvertragslohndifferenzen in § 3a Abs 1 IESG stelle auf den Fall ab, dass ein Arbeitnehmer sein vereinbartes Entgelt erhalten und bloß die unterkollektivvertragliche Entlohnung nicht erkennen habe können. Maßgeblicher Grund für diese Ausnahme sei, dass den Arbeitnehmern eine Unkenntnis kollektivvertraglicher Entgeltregelungen nicht vorwerfbar sei. Werde das Entgelt aber zur Gänze vorenthalten, sodass überhaupt kein Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Situation bestehe, befinde sich der Arbeitnehmer in keiner vergleichbaren Lage und biete § 3a Abs 1 IESG keine Rechtfertigung dafür, einen außerhalb der Sechsmonatsfrist gelegenen Anspruch in den ungesicherten Grundbetrag und eine gesicherte Differenz zum Mindestlohn aufzuteilen.

Diesen Überlegungen, die sich auch auf eine ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats stützen können (8 ObS 6/10f; 8 ObS 1/12y), ist im Grundsatz zuzustimmen, sie treffen aber auf den hier konkret zu beurteilenden Sachverhalt nicht zu.

Der Kläger hat im strittigen Zeitraum zwar keine Abrechnungen, aber sehr wohl laufende Lohnzahlungen erhalten. Zwar war ihm bewusst, dass ihm Überstunden und Diäten nicht vollständig abgegolten wurden, er erkannte aber nicht, dass der Dienstgeber bei der Abrechnung der tatsächlich bezahlten Stunden von einem unterkollektivvertraglichen Stundenlohn ausgegangen war.

Seinem Klagebegehren im Vorverfahren legte der Kläger, wiewohl anwaltlich vertreten, den selben Stundensatz zugrunde, den auch der Dienstgeber in seiner Lohnbuchhaltung verwendet hatte. Erst durch das in diesem Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten wurde eine unrichtige Einstufung aufgedeckt und das Klagebegehren danach ausgedehnt.

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, diese Fallkonstellation falle unabhängig davon, dass im Vorverfahren auch die Anzahl der Arbeitsstunden und die Diäten strittig waren, unter Berücksichtigung der gebotenen einschränkenden Interpretation unter die Ausnahmeregelung des § 3a Abs 1 IESG, ist keineswegs unvertretbar.

Die Anwendung des § 273 ZPO durch das Berufungsgericht und ihr Ergebnis werden im Rechtsmittel nicht in Frage gestellt. Auch die Revision der Beklagten wirft daher keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision der Beklagten hingewiesen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2013:008OBS00005.12M.0304.000