OGH vom 29.06.2020, 8ObS4/20a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. TarmannPrentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K***** H*****, vertreten durch Dr. Michael Celar, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei IEFService GmbH, 1150 Wien, Linke Wienzeile 246, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen Insolvenzentgelt (19.531 EUR sA), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 126/19a35, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der Kläger kannte R***** K*****, der von September 2014 bis Jänner 2015 laut Firmenbuch Alleingesellschafter und seither Minderheitsgesellschafter der Schuldnerin war, schon sehr lange privat. Der Kläger ist gelernter Maler und Anstreicher. R***** K***** benötigte für die Schuldnerin seinen Gewerbeschein.
F***** M*****, welcher für die Schuldnerin über Ersuchen von R***** K***** als handelsrechtlicher Geschäftsführer fungierte, ohne jemals selbst als solcher aufzutreten, stellte im März oder April 2015 für den Kläger eine von R***** K***** vorbereitete Vollmacht aus, die den Kläger befugte, für die Schuldnerin „aufzutreten, Verträge abzuschließen und Leute einzustellen“.
Der Kläger begann am seine Tätigkeit für die Schuldnerin in einem Ausmaß von in etwa 40 Wochenstunden. Er stellte Personal ein, vereinbarte mit den Mitarbeitern die Höhe des Lohns, sprach Kündigungen und Entlassungen aus und verhandelte mit der Firma S***** einen Vertrag. Er war selbst auf der Baustelle tätig, verrichtete Malerarbeiten, beaufsichtigte die Mitarbeiter, teilte Dienste ein und kümmerte sich um das Werkzeug und Baumaterial. Den anderen Mitarbeitern der Schuldnerin gegenüber trat er als Chef und Geschäftsführer auf.
Der Kläger erhielt weder einen schriftlichen Dienstvertrag noch einen Dienstzettel. Er wurde am beginnend ab bei der WGKK als Angestellter, ab als Arbeiter angemeldet. Er erhielt von R***** K***** Geld für den Lohn der Mitarbeiter, das er diesen in bar übergab. Sein eigenes Gehalt erhielt er nicht. Als ihm R***** K***** über Nachfrage Anfang Mai mitteilte, dass er das Gehalt noch nicht auszahlen könne, weil er kein Geld habe, zeigte er sich im Wissen um die schlechte finanzielle Lage der Schuldnerin, die sich noch im Aufbau befand, verständnisvoll und war damit einverstanden, dass er sein Gehalt für April erst mit dem zweiten Gehalt ausbezahlt erhalte. Er rechnete bereits beim Zahlungsverzug mit dem Gehalt für April 2015 damit und vertraute darauf, dass er im Falle der Insolvenz der Schuldnerin seine Forderungen bei der Beklagten geltend machen könne.
Am teilte der Kläger R***** K***** telefonisch mit, dass er krank sei und jetzt endlich sein Geld brauche. Das Gespräch mündete in einen Streit anlässlich dessen R***** K***** dem Kläger mitteilte, dass er ihn nicht mehr brauche und noch am selben Tag abmelden werde, worauf der Kläger mit „Dann tu, was du nicht lassen kannst“ antwortete. Der Kläger wurde mit von der Krankenkasse abgemeldet.
Mit Schreiben vom forderte der Kläger erstmals schriftlich sein ausständiges Gehalt samt Sonderzahlungen, Urlaubsersatzleistung und Kündigungsentschädigung von der Schuldnerin. Mit Schreiben der Arbeiterkammer vom forderte er erneut die Zahlung und erwirkte in weiterer Folge einen bedingten Zahlungsbefehl, der mangels Einspruchs in Rechtskraft erwuchs.
Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am das Insolvenzverfahren eröffnet. Das Finanzamt stellte mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom fest, dass die Schuldnerin als Scheinunternehmen gemäß § 8 Sozialbetrugsbekämpfungsgesetz gelte. In der Begründung des Bescheides wurde ausgeführt, dass dies jedenfalls ab (Zeitpunkt der Anmeldung der ersten Arbeitnehmer) gelte. Mit Bescheid vom lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Insolvenzentgelt aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ab. Bei diesem Antrag handelte es sich um den vierten Antrag des Klägers auf Insolvenzentgelt.
Die Vorinstanzen wiesen die Klage auf Insolvenzentgelt ab.
Rechtliche Beurteilung
In seiner Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität auf.
1.1. Zweck des IESG ist eine sozialversicherungsrechtliche Sicherung von Entgeltansprüchen und sonstigen aus dem Arbeitsverhältnis erwachsenden Ansprüchen von Arbeitnehmern im Falle der Insolvenz ihres Arbeitgebers. Versichertes Risiko ist demnach im Kernbereich die von den Arbeitnehmern typischerweise nicht selbst abwendbare und absicherbare Gefahr des gänzlichen oder teilweisen Verlusts ihrer Entgeltansprüche, auf die sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts sowie des Lebensunterhalts ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen angewiesen sind (RS0076409; jüngst 8 ObS 12/17y [Pkt 2.2]; 8 ObS 2/20g [Pkt 2]). Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, durch die das Risiko im Insolvenzfall missbräuchlich auf den Insolvenzentgeltfonds überwälzt bzw durch die eine sonst nicht bestehende Verpflichtung des Insolvenzentgeltfonds begründet werden soll, sind diesem gegenüber gemäß § 879 Abs 1 ABGB nichtig (8 ObS 7/19s [Pkt 3] mwH).
1.2. Das „Stehenlassen“ laufender Entgelte durch einen Arbeitnehmer wird vom Obersten Gerichtshof für die Beantwortung der Frage als maßgeblich erachtet, ob der Arbeitnehmer seiner Obliegenheit nachkam, das Arbeitsverhältnis wegen Vorenthaltens der Bezüge durch vorzeitigen Austritt zu beenden. Das Unterlassen des Austritts wird als gewichtiges Indiz für die Absicht des (säumigen) Arbeitnehmers angesehen, er wolle die anfallenden Entgeltansprüche auf den Insolvenzentgeltfonds überwälzen bzw nehme er solches zumindest (billigend) in Kauf (1 Ob 23/07z [Pkt 1]). Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats kann zwar regelmäßig allein aus der zeitlichen Komponente des „Stehenlassens“ von Entgeltansprüchen nicht darauf geschlossen werden, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenzentgeltfonds überwälzen wolle. Allerdings kann im Einzelfall dann, wenn zum „Stehenlassen“ von Entgelt weitere Umstände hinzutreten, die konkret auf den Vorsatz des Arbeitnehmers schließen lassen, das Finanzierungsrisiko auf den Fonds zu überwälzen, die Geltendmachung eines Anspruchs auf Insolvenzausfallgeld missbräuchlich sein (RS0119679; RS0116935).
1.3. Dies gilt auch bei Lohnrückständen, die die in § 3a Abs 1 IESG enthaltene Limitierung mit sechs Monaten unterschreiten (vgl RS0112283). Bei einer besonderen Nahebeziehung zum Arbeitgeber ist regelmäßig das Wissen um die finanzielle Situation des Betriebs größer, weshalb auch schon bei kürzeren Entgeltrückständen beim Verbleiben im Betrieb zumindest der bedingte Vorsatz angenommen werden kann, das Entgelt nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Insolvenzentgeltfonds zu erhalten (8 ObS 206/00b = DRdA 2001/37 [W. Anzenberger]; Ristic in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 [2018] § 1 IESG Rz 446 mwH).
1.4. Ob aus dem „Stehenlassen“ der Entgelte in Verbindung mit den Umständen des Einzelfalls der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des „Fremdvergleiches“ zu beurteilen. Dieser besteht im Wesentlichen darin, dass aus typischerweise bekannten Tatsachen anhand des einem „fremden“ Arbeitnehmer (bei dem also der Interessengegensatz und das Bewusstsein des Risikos des Entgeltverlusts voll ausgeprägt ist) bei den konkreten Umständen zu unterstellenden Verhaltens auf den im Ergebnis relevanten „inneren“ – zumindest bedingten – Vorsatz geschlossen wird. Ergibt sich aus dem Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des Arbeitnehmers widerlegt werden (RS0114470). Der durchzuführende Fremdvergleich hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab, sodass dessen Ergebnis – vom Fall einer krassen Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – regelmäßig die Zulässigkeit der Revision nicht rechtfertigen kann (RS0111281 [T10]).
2. Es hält sich im Rahmen des den Vorinstanzen zukommenden Beurteilungsspielraums, wenn diese im vorliegenden Fall aufgrund der feststehenden Umstände zum Ergebnis gelangten, dass das Verhalten des Klägers dem Fremdvergleich nicht standhält. Der Kläger war mit der offenkundig maßgeblichen Persönlichkeit – dem Minderheitsgesellschafter – bereits seit langem bekannt. Er war nicht nur gewerberechtlicher Geschäftsführer, sondern wirkte aufgrund der ihm erteilten Vollmacht de facto wie ein handelsrechtlicher Geschäftsführer, sodass er einen entsprechend weitgehenden Einblick in die Geschäfte der Schuldnerin hatte. Er wusste jedenfalls auch von ihrer schlechten finanziellen Lage. Dessen ungeachtet und obgleich bereits sein erster Monatslohn unbezahlt blieb, bestand er nicht auf die Bezahlung, sondern zeigte – zweifelsohne weil er in Kenntnis der (grundsätzlichen) Absicherung seiner Ansprüche durch die Beklagte war, an die er auch bereits dreimal einen Antrag gestellt hatte – vielmehr „Verständnis“. Auch nachdem das Dienstverhältnis nach dem Streit von der Schuldnerin – somit nicht von ihm aufgrund des weiterhin unbezahlten Entgelts – im dritten Arbeitsmonat beendet worden war, ließ sich der Kläger drei weitere Monate Zeit, bevor er seine offenen Ansprüche betrieb. Vor allem aber haben die Vorinstanzen auch festgestellt, dass der Kläger billigend in Kauf nahm, dass letztlich ohnehin jedenfalls die Beklagte für seine Ansprüche aufkommen werde.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBS00004.20A.0629.000 |
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