VfGH vom 27.02.2012, B963/11
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Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in seinen Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Justiz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und amtswegiges Normenprüfungsverfahren
1.1. Der Beschwerdeführer war Angeklagter in einer Strafsache wegen einer von Amts wegen zu verfolgenden Straftat. Am nahm der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers in den diesen betreffenden Strafakt des Landesgerichtes Innsbruck Einsicht und fertigte dabei mit einer von ihm beigebrachten Digitalkamera von 51 Seiten des Strafaktes Fotografien an.
Mit Zahlungsauftrag der Kostenbeamtin des Landesgerichtes Innsbruck vom wurden dem Beschwerdeführer für die Anfertigung der Fotografien 25,50 €
(50 Cent pro Seite) (zuzüglich einer Einhebungsgebühr gemäß § 6 Gerichtliches Einbringungsgesetz 1962 [GEG] in Höhe von 8 €, sohin insgesamt 33,50 €) zur Zahlung vorgeschrieben.
1.2. Dem dagegen gemäß § 7 Abs 1 GEG erhobenen Berichtigungsantrag wurde mit Bescheid des Vizepräsidenten des Landesgerichtes Innsbruck unter Verweis auf Anmerkung 6 zu Tarifpost 15 des Gerichtsgebührengesetzes (GGG) sowie auf den Erlass der Bundesministerin für Justiz vom , Zl. BMJ-B18.000/0006-I 7/2010, keine Folge gegeben.
1.3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die
vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
1.4. Der Vizepräsident des Landesgerichtes Innsbruck legte die Akten vor und verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift.
2. Aus Anlass zweier (zu B1060/10 und B1456/10 protokollierter) Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof
I. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit
a) der Anmerkung 6 zu Tarifpost 15 des Bundesgesetzes vom über die Gerichts- und Justizverwaltungsgebühren (Gerichtsgebührengesetz - GGG), BGBl. Nr. 501 idF BGBl. I Nr. 52/2009 sowie idF Artikel I Z 17 litb der Verordnung der Bundesministerin für Justiz über die Neufestsetzung von Gerichtsgebühren und Bemessungsgrundlagen, BGBl. II Nr. 188/2009,
b) des § 29a des Gerichtsgebührengesetzes, BGBl. Nr. 501/1984 idF BGBl. I Nr. 100/2008,
sowie
II. Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit
a) des Artikels I Z 17 litb der Verordnung der Bundesministerin für Justiz über die Neufestsetzung von Gerichtsgebühren und Bemessungsgrundlagen, BGBl. II Nr. 188/2009,
b) des § 2 der Verordnung der Bundesministerin für
Justiz über die Höhe der Gebühren für die Herstellung von Kopien durch die Staatsanwaltschaft oder die Kriminalpolizei im Rahmen der Akteneinsicht, BGBl. II Nr. 390/2007,
c) der drei letzten Absätze des Erlasses der Bundesministerin für Justiz vom , Zl. BMJ-L390.002/0003-II 3/2009, betreffend Änderung des Gerichtsgebührengesetzes,
d) der Z 3 lita, c und d (samt Fußnoten) des Erlasses der Bundesministerin für Justiz vom , Zl. BMJ-B18.000/0006-I 7/2010, über einzelne Aspekte zur Bestimmung der Rechtsmittelgebühren nach Tarifpost 12a GGG in Exekutionsverfahren sowie der Gebühren für Aktenabschriften, -ablichtungen und sonstige Kopien nach Tarifpost 15 Anmerkung 6 GGG,
entstanden.
Der Verfassungsgerichtshof leitete daher mit
Beschluss vom gemäß Art 140 Abs 1 B-VG sowie gemäß Art 139 Abs 1 B-VG von Amts wegen ein Gesetzes- und Verordnungsprüfungsverfahren hinsichtlich der genannten Bestimmungen ein.
Mit Erkenntnis vom , G85,86/11, V77-81/11, hob der Verfassungsgerichtshof die oben unter Pkt. I.b sowie II.b bis d angeführten Bestimmungen als verfassungs- bzw. gesetzwidrig auf bzw. sprach er aus, dass die unter Pkt. I.a und II.a genannten Bestimmungen verfassungs- bzw. gesetzwidrig waren.
II. Erwägungen
1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die -
zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , G85,86/11, V77-81/11, die oben genannten Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen als verfassungs- bzw. gesetzwidrig aufgehoben bzw. erkannt.
1.2. Gemäß Art 139 Abs 6 und Art 140 Abs 7 B-VG wirkt die Aufhebung einer Verordnung bzw. eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als gesetz- bzw. verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art 139 Abs 6 und Art 140 Abs 7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzes- bzw. Verordnungsprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzes- bzw. Verordnungsprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10.616/1985, 10.736/1985, 10.954/1986, 11.711/1988). Im - hier allerdings nicht gegebenen - Fall einer Beschwerde gegen einen Bescheid, dem ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 1.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg. 17.687/2005).
1.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzes- bzw. Verordnungsprüfungsverfahren begann am . Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; der ihr zugrunde liegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
Die belangte Behörde wendete bei Erlassung des angefochtenen Bescheides als verfassungs- bzw. gesetzwidrig aufgehobene bzw. erkannte Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass diese Gesetzes- bzw. Verordnungsanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in seinen Rechten verletzt.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
2. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 19 Abs 4 Z 3 VfGG abgesehen.
3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.