VfGH vom 21.11.2013, B954/2013
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Abweisung der Berufung gegen die Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung und Nichtbeantwortung der Lenkeranfrage infolge Unterlassung der Durchführung einer Berufungsverhandlung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie) und das Land Steiermark sind schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.346,40 bestimmten Prozesskosten je zur Hälfte binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Liezen vom wurde über den Beschwerdeführer wegen der Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit und wegen Nichtbeantwortung einer Lenkeranfrage gestützt auf § 52 lita Z 10a StVO und § 103 Abs 2 KFG eine Geldstrafe bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt.
2. Die dagegen erhobene Berufung, in der der Beschwerdeführer auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte, wurde – ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung – mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark (im Folgenden: UVS Steiermark) vom abgewiesen. Darin wird von der Berufungsbehörde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer durch den UVS Steiermark aufgefordert worden sei, innerhalb einer bestimmten Frist sämtliche seiner Entlastung dienlichen Beweismittel vorzulegen. Daraufhin habe der Beschwerdeführer geantwortet, dass er sich zur Tatzeit in Italien auf seiner Segelyacht befunden habe, aber über seine Urlaube keine Belege aufbewahre. Es könne jedoch bei der Marina angefragt werden, weil sich die Dame an der Rezeption oder der Portier möglicherweise an seinen Aufenthalt erinnern könnten. Zum Vorwurf der Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit wird Folgendes ausgeführt:
"Da der Berufungswerber die Lenkeranfrage unbeantwortet ließ und lediglich behauptete, er könne nicht der Lenker zum Tatzeitpunkt gewesen sein, da er sich in Italien auf seiner Segelyacht befunden habe, was jedoch aus dem durchgeführten Ermittlungsverfahren keineswegs eruiert werden konnte, kann im Vorwurf der belangten Behörde, er selbst als Zulassungsbesitzer sei der Täter gewesen, insoferne keine Rechtswidrigkeit erblickt werden, zumal auch keinerlei konkrete Anbote seinerseits erfolgten, die eine weitere Ermittlungspflicht der erkennenden Behörde auslösen hätten können."
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 6 EMRK und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht wird. Gerügt wird insbesondere, dass die Behörde keinerlei Beweise dafür gehabt habe, dass der Beschwerdeführer die Geschwindigkeitsübertretung begangen habe. Die bloße Tatsache, dass der Beschwerdeführer die Lenkeranfrage unbeantwortet ließ, berechtige keineswegs zur Schlussfolgerung, er selbst habe die Geschwindigkeitsübertretung begangen. Gegebenenfalls sei der Beschwerdeführer wegen der Nichterteilung der Lenkerauskunft zu bestrafen gewesen, aber keinesfalls wegen der der Lenkererhebung zu Grunde liegenden Geschwindigkeitsübertretung.
4. Der UVS Steiermark legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er ausführte, dass die Berufungsbehörde nachweislich mit dem Beschwerdeführer in Kontakt getreten sei; eine Vernehmung des Beschwerdeführers erschien schon deshalb nicht notwendig, weil er lediglich Erkundigungsbeweise angeboten habe, zu deren Aufnahme die Behörden nicht verpflichtet seien.
II. Erwägungen
1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg 16.624/2002 und die seither ergangene Folgejudikatur VfSlg 16.790/2003 und 18.289/2007) liegt eine Verletzung der durch Art 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantien vor, wenn ein Unabhängiger Verwaltungssenat, der als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage im Verwaltungsstrafverfahren zuständige – über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügende – Gericht einschreitet, einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, obwohl keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen.
Der im Verwaltungsstrafverfahren unvertretene Beschwerdeführer führte in seiner Berufung Folgendes aus:
"[…] Das Einzige was vorliegt und bewiesen ist, ist dass eine Geschwindigkeitsübertretung vorliegt, aber nicht wer sie begangen hat. Das ist eine Sache die geklärt werden muss und wenn es auf dem Weg der Lenkerauskunft nicht möglich ist sollte man wohl eine mündliche Verhandlung anberaumen und nicht gleich die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlegen. […]"
Dieses Vorbringen ist als Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu werten. Damit kommt aber die Anwendung des § 51e Abs 3 VStG, der den Unabhängigen Verwaltungssenat allenfalls ermächtigt hätte, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, schon von seinen Voraussetzungen her nicht in Betracht. Daraus folgt, dass die belangte Behörde verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Da der Sachverhalt keineswegs unbestritten feststand, führt die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht nur zur Gesetzwidrigkeit des Bescheides, sondern hat auch die Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK zur Folge (VfSlg 16.624/2002, 16.790/2003 und 18.289/2007; e contrario ).
2. Die Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung gilt umso mehr, wenn die belangte Behörde beabsichtigt, Rückschlüsse aus der Weigerung des Beschwerdeführers, die Identität des Lenkers offenzulegen, zu ziehen (EGMR , Fall Krumpholz , Appl. 13.201/05).
Nichts anderes hat die belangte Behörde aber getan, indem sie – wie sich aus dem dargelegten Sachverhalt ergibt – allein auf Grund der Nichtbeantwortung der Lenkeranfrage und der Behauptung des Beschwerdeführers, er habe das Fahrzeug nicht gelenkt, davon ausging, dass der Beschwerdeführer als Zulassungsbesitzer die Geschwindigkeitsübertretung begangen habe (anders als VfSlg 19.491/2011: In diesem Fall führte der Unabhängige Verwaltungssenat eine mündliche Verhandlung durch, bevor er die Beschwerdeführerin, die Halterin des Fahrzeuges war, als Lenkerin wegen einer Geschwindigkeitsübertretung bestrafte).
Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer im Rahmen des Ermit tlungsverfahrens von der belangten Behörde aufgefordert wurde, seiner Entlastung dienliche Beweismittel vorzulegen. Diese Gelegenheit zur Stellungnahme ersetzt keine mündliche Verhandlung, in der sich die belangte Behörde einen direkten Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers machen hätte können (vgl. EGMR , Fall Krumpholz , Appl. 13.201/05).
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid sohin in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.
Der angefochtene Bescheid ist schon aus diesem Grund aufzuheben.
2. Der Kostenzuspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 184,40 sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.