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OGH vom 26.04.2001, 8ObS39/01w

OGH vom 26.04.2001, 8ObS39/01w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Langer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Michael Manhard und Walter Darmstädter als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Peter Z*****, Angestellter, *****, vertreten durch Dr. Charlotte Böhm, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Bundessozialamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Geigergasse 5-9, 1050 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17-19, 1011 Wien, wegen S 738.779,25 s.A. Insolvenz-Ausfallgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 317/00x-18, mit dem über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 32 Cgs 219/99a-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger war ab als Speditionskaufmann (LKW-Disponent) bei der Saexinger & Co GmbH beschäftigt.

Im Jahre 1992 kam es bei der Dienstgeberin erstmals zu Zahlungsschwierigkeiten, derentwegen die Gehälter des Klägers nicht pünktlich gezahlt werden konnten. Auch wenn immer Zahlungen geleistet wurden, so stieg doch der Gehaltsrückstand - über einen längeren Zeitraum betrachtet - kontinuierlich an. Im Zuge seiner mehrmaligen Urgenzen der Zahlung des Gehaltsrückstands wurde dem Kläger vorerst ein Abbau bei Verbesserung der Geschäftslage in Aussicht gestellt; Ende 1995 wurde ihm vom Geschäftsführer der Arbeitgeberin ein Abbau des Gehaltsrückstands im Zuge des Verkaufs seines Privathauses zugesagt, ohne dass es jedoch in der Folge - trotz des Hausverkaufs - tatsächlich zu einer Abdeckung der offenen Gehaltsforderungen des Klägers kam. Der Kläger nahm dies jahrelang faktisch hin und setzte keine über die Urgenzvorsprachen hinausgehenden Schritte zur Geltendmachung des Rückstands. Insgesamt sammelten sich Gehaltsrückstände in einer Höhe von 12 Monatsentgelten an. Zahlungen der Arbeitgeberin erfolgten jeweils auf die älteste Schuld in Höhe der entsprechenden, sich aus der Monatsabrechnung ergebenden Nettosumme.

Am forderte der Kläger schließlich die Arbeitgeberin zur Zahlung seiner ausständigen Forderungen bis zum bei sonstigem Austritt auf. Am gab der Kläger beim Arbeits- und Sozialgericht Wien eine Klage zu Protokoll, in der er mit der Behauptung, es sei ihm seit März 1998 kein Gehalt mehr ausbezahlt worden, vorerst einen Bruttobetrag von S 462.695,-- begehrte, der im Laufe des Verfahrens ausgedehnt wurde. Einen Tag später, am trat der Kläger wegen Entgeltvorenthaltung vorzeitig aus dem Dienstverhältnis aus. Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde mit Beschluss des Handelsgerichts Wien vom das Konkursverfahren eröffnet.

Am stellte der Kläger den Antrag auf Gewährung von Insolvenz-Ausfallgeld in folgender Nettohöhe zuzüglich 8,5% Zinsen und Kosten:

Gehalt - S 268.988,40

Sonderzahlungen - S 52.254,91

Abfertigung, 9 Monatsentgelte S 331.780,24

Kündigungsentschädigung 24.3. - S 153.699,32

Urlaubsentschädigung für 90 Werktage S 100.202,64

S 906.925,51

Mit Bescheid vom hat die beklagte Partei den Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass die Vorgehensweise des Klägers, der einen derart großen Gehaltsrückstand anwachsen habe lassen, ohne in angemessener Frist den Austritt zu erklären oder die Forderungen einzuklagen, ein sittenwidriges Verhalten darstelle, weil das Finanzierungsrisiko des Arbeitgebers auf den IAF-Fonds verlagert werde.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren, dem Kläger das angeführte Insolvenz-Ausfallgeld zuzuerkennen, ab.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und erklärte die Revision für zulässig, da zwar eine gefestigte OGH-Judikatur vorliege, die Berufung jedoch neue, bislang nicht behandelte Aspekte aufwerfe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig; sie ist auch im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.

In der letzten Zeit hat sich der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom , 8 ObS 206/00b = WBl 2001/91, ausführlich mit der Kritik von Ristic (ASoK 2000, 118) und Anzenberger (RdW 2000, 161) auseinander gesetzt und seine Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen ausdrücklich aufrecht erhalten, die von einer unzulässigen Überwälzung des Finanzierungsrisikos für die Arbeitslöhne auf den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds ausgeht, wenn dem Arbeitnehmer bewusst sein muss, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekommen könnte.

Aufbauend auf diesen Grundsatz hält der Oberste Gerichtshof in der genannten Entscheidung fest, dass dann, wenn ein Arbeitnehmer trotz längerer Nichtzahlung des Lohnes im Unternehmen tätig bleibt und nicht versucht, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen, dies in der Regel indiziert, dass er zumindest in Kauf nimmt, in der Folge seine offenen Lohnansprüche gegen den Fonds geltend zu machen. Dieses Verhalten stellt eine unzulässige Verlagerung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds dar. Bei ,durchschnittlichen Arbeitnehmern", die in keiner besonderen Nahebeziehung zum Arbeitgeber stehen, wird dieser Schluss üblicherweise nur aus deutlich über sechs Monaten liegenden Entgeltrückständen gezogen (8 ObS 206/00b = WBl 2001/91).

Im konkreten Fall wurde dem Kläger nach den Feststellungen im Zuge seiner mehrmaligen Urgenzen vorerst vage ein Abbau des Gehaltsrückstands bei Verbesserung der Geschäftslage in Aussicht gestellt; Ende 1995 wurde ihm vom Geschäftsführer der Arbeitgeberin ein Abbau im Zuge des Verkaufs seines Privathauses zugesagt, ohne dass es jedoch in der Folge - trotz des Hausverkaufs - tatsächlich zu einer Abdeckung der offenen Gehaltsforderungen des Klägers gekommen wäre. Allerdings wurden auch immer wieder Zahlungen geleistet. Insgesamt sammelten sich über die Jahre Gehaltsrückstände in einer Höhe von 12 Monatsentgelten an.

Aus dieser Höhe der Rückstände allein kann jedoch nicht auf eine zweckwidrige Verlagerung des Insolvenzrisikos geschlossen werden, weil für einen Entfall des Schutzes nach dem IESG bedingter Vorsatz hinsichtlich der Verlagerung des Finanzierungsrisikos erforderlich ist. Zur Beurteilung, ob durch das lange Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz indiziert ist, zieht der Oberste Gerichtshof einen "Fremdvergleich" heran und stellt dabei darauf ab, bis zu welchem Zeitpunkt auch ein "unbeteiligter" Arbeitnehmer im Unternehmen verblieben wäre (8 ObS 206/00b = WBl 2001/91 mwN). Im Zusammenhang damit und in Fortführung dieser Rechtsprechung hat dann der OGH wiederholt ausgesprochen, dass "völlig atypisch gestaltete" Arbeitsverhältnisse, die nicht auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhaltes gerichtet sind, nicht nach den Bestimmungen des IESG gesichert sind.

Das "verfahrenstechnische" Mittel des Fremdvergleiches und die darauf aufbauende Beurteilung des "atypischen Arbeitsverhältnisses" darf aber nicht mit dem eigentlichen Ausschlussgrund, der Übertragung des Finanzierungsrisikos verwechselt werden. Die Beurteilung als "atypisches Arbeitsverhältnis", bei dem es dem Arbeitnehmer - anders als vom IESG zugrundegelegt - nicht auf die Erzielung von Entgelt zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes ankommt, ist nur der Ausdruck für das Ergebnis des Fremdvergleiches, der wieder nur zur Beurteilung dient, ob ein bestimmtes Verhalten, nämlich das Stehenlassen des Entgelts, den zumindest bedingten Vorsatz des Arbeitnehmers hinsichtlich der Verlagerung des Finanzierungsrisikos indiziert.

Der Fremdvergleich hat dabei sämtliche objektiven Anhaltspunkte heranzuziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Entgeltrückstände entstanden sind, aber auch, wann diese (in welcher Höhe) entstanden sind und in welchem Ausmaß in diesem Zeitraum vom Arbeitgeber Nachzahlungen auf den Rückstand geleistet wurden. Wird beispielsweise durchgehend ein Jahr lang vom Arbeitgeber überhaupt keine Zahlung erbracht, trifft auch den in keiner Nahebeziehung zum Arbeitgeber stehenden Arbeitnehmer, der sich den Schutz des IESG erhalten will, eine Obliegenheit zum Austritt. Werden dagegen laufend, wenn auch verspätet, Zahlungen geleistet, muss beobachtet werden, wie sich das Aufbauen von Rückständen einerseits und Zahlungen auf Rückstände andererseits im Verhältnis zueinander entwickelt haben. Im konkreten Fall kann auf Grund fehlender Feststellungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Rückstand erst in den letzten Monaten vor dem Austritt besonders angewachsen ist, sodass das Arbeitsverhältnis - unter der Prämisse eines rechtzeitigen Austritts - noch als auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhaltes gerichtet angesehen werden könnte.

In diesem Sinn sind von den Tatsacheninstanzen genaue Feststellungen zu treffen, wann im Einzelnen welche Zahlungen durch den Arbeitgeber (auf welchen ausständigen Lohn) erfolgten und in welcher Höhe sich zum jeweiligen Zeitpunkt der Zahlung der Rückstand bewegte, um beurteilen zu können, ob der Arbeitnehmer allenfalls trotz bereits längerer Nichtzahlung des Lohnes im Unternehmen verblieben ist und dadurch das Finanzierungsrisiko mit zumindest bedingtem Vorsatz auf den Fonds verschoben hat. Wie bereits erwähnt, kann dies beim durchschnittlichen Arbeitnehmer regelmäßig nur aus deutlich über sechs Monaten liegenden Entgeltrückständen abgeleitet werden.

Anzumerken ist, dass die Einführung des § 3a IESG durch die IESG-Nov 1997 zu keiner Änderung der Rechtslage geführt hat (DRdA 1999/51, Geist = ZAS 1999/20, zust Weiß; Thunhart, Mißbrauchsfälle im IESG, DRdA 2000, 479 [485]). Der erkennende Senat hat diesbezüglich schon mehrfach klargestellt, dass der Umkehrschluss, ein Lohnrückstand von sechs Monaten für die Zeit vor Konkurseröffnung (oder einem nach § 1 Abs 1 IESG gleichgestellten Sachverhalt) sei jedenfalls gesichert, nicht zulässig sei (RIS-Justiz RS0112283).

Außerdem hat der Oberste Gerichtshof in vergleichbaren Fällen eine

Trennung der Ansprüche einerseits in gesicherte, die vor demjenigen

Zeitpunkt liegen, in dem dem Arbeitnehmer der Austritt aus dem

Dienstverhältnis oblegen wäre, und andererseits in ungesicherte, nach

diesem Zeitpunkt gelegene mit der Begründung abgelehnt, dass ein

atypisch gestaltetes Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem

Schutzbereich des IESG fällt und die aus diesem Arbeitsverhältnis

resultierenden Ansprüche in vollem Umfang ungesichert sind. Eine

Bedachtnahme auf ein hypothetisches Verhalten des Arbeitnehmers -

nämlich auf einen tatsächlich nicht erklärten Austritt - kommt dabei

nicht in Betracht (8 ObS 153/00h = ARD 5153/11/2000 = DRdA 2000, 536

= RdW 2000/742 = ZIK 2000/284; 8 ObS 57/00s = ARD 5171/2/2000 = infas

2000, A 114 = ZIK 2000/284 uva; aA etwa Thunhart, Mißbrauchsfälle im

IESG, DRdA 2000, 479 [485]).

Im Sinne der obigen Ausführungen sind die Entscheidungen der Vorinstanzen gemäß § 510 Abs 1 ZPO aufzuheben; die Rechtssache ist wegen der Notwendigkeit ergänzender Feststellungen an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 77 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.