VfGH vom 16.03.1987, B154/85
Sammlungsnummer
11297
Leitsatz
Wegnahme von Fotoapparaten gegen den Willen des Bf., Öffnen und Herausnahme von (teilweise belichteten) Filmen, was deren Zerstörung bewirkte - Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt; aus Art 10 MRK erfließende Rechte stehen jedem zu; Verschaffen von Informationen als Teil der Kommunikationsfreiheit - Behinderung der Beschaffung und der Ermittlung öffentlich zugänglicher Informationen durch (aktives) Eingreifen von Staatsorganen nur unter den Voraussetzungen des Art 10 Abs 2 MRK zulässig; durch Zerstörung von Informationsmaterial Verletzung des Rechtes auf Informationsfreiheit nach Art 10 MRK
Spruch
Der Bf. ist dadurch, daß Sicherheitswachebeamte am in der Stopfenreuther Au zwei vom Bf. verwendete Fotoapparate öffneten und die darin befindlichen Filme herausnahmen, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Informationsfreiheit verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen seines Vertreters die mit S 33.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Bf. habe sich am als Journalist für eine Zeitschrift in der Stopfenreuther Au aufgehalten, um über die sich dort abspielenden Vorgänge in Wort und Bild zu berichten.
Als der Bf. Sicherheitswachebeamte, welche Gummiknüppel in den Händen hielten, fotografierte, sei dies von einem der Beamten bemerkt worden, der auf den Bf.
zugegangen sei und ihn aufgefordert habe, stehenzubleiben. Hinter dem Beamten seien zwei weitere Sicherheitswachebeamte auf den Bf. zugekommen, welche erklärt hätten, fotografieren sei hier verboten. Auf die Mitteilung des Bf., er sei Journalist und besitze einen Presseausweis, hätten die Beamten nicht reagiert. Sie hätten auch in den vom Bf. vorgezeigten Presseausweis keinen Einblick genommen, sondern dem Bf. seine beiden Fotoapparate weggenommen. Als der Bf. sich dagegen verwahrt und neuerlich darauf hingewiesen habe, er sei Journalist, hätten die Beamten gerufen: "Rauschgiftkontrolle, Kamera öffnen!". Die Sicherheitswachebeamten hätten aber nicht abgewartet, bis der Bf. die Kameras öffnete, sondern hätten dies selbst getan, indem sie die belichteten Filme herausgenommen und diese dem Tageslicht ausgesetzt hätten. Dann hätten sie die Filme dem Bf. in der Form wieder zurückgegeben, daß sie sie ihm in die Tasche gesteckt hätten. Daraufhin seien die Beamten wieder weggegangen.
Der Bf. erachtet sich durch die gegen seinen Willen erfolgte Herausnahme der beiden belichteten Filme aus den Fotoapparaten in seinen durch Art 10 MRK und Art 13 StGG geschützten sowie in anderen, näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt und beantragt, der VfGH wolle dies kostenpflichtig feststellen.
2. Die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich hat in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt und darauf hingewiesen, es stünden ihr über die in der Beschwerde dargestellten Geschehnisse keine Akten und sonstigen Unterlagen zur Verfügung, zumal mit Rücksicht auf die turbulenten Geschehnisse am alle Kräfte der Exekutive gebunden gewesen seien und die bezughabenden Ereignisse nicht festgehalten hätten werden können. Die bel. Beh. sehe sich demnach verhalten, die Darstellung der Beschwerde generell zu bestreiten.
Die Sicherheitsdirektion weist hinsichtlich des allgemeinen Verhaltens der Exekutive gegenüber Journalisten und Reportern, die sich zum Zwecke der Berichterstattung damals in dem betroffenen Gebiet aufgehalten hätten, auf eine Anweisung an die Exekutivbeamten hin, die Berichterstattung über die Ereignisse in der Stopfenreuther Au so weit zu ermöglichen, als dies mit dem Zweck der notwendigen Maßnahmen vereinbar sei.
Zum behaupteten Verstoß gegen Art 10 MRK führt die Sicherheitsdirektion aus, daß durch das bloße Unterbinden einer fotografischen Aufnahme das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht berührt werde, zumal die Moment-Aufnahme eines Geschehens schon begrifflich nicht der Meinungs-Äußerung zuzurechnen sei und das Fotografieren im Vorfeld der Meinungsäußerung eine Detailhandlung bilde, welche auch quantitativ nicht in den Bereich der Meinungsäußerung hineinreiche. Es sei demnach durch die angefochtene Amtshandlung das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung (von vornherein) nicht berührt worden.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Nach dem Beschwerdevorbringen haben Exekutivorgane dem Bf. gegen dessen Willen zwei in seiner Verfügungsgewalt stehende Fotoapparate weggenommen, geöffnet und die Filme herausgenommen. Ein derartiges Verhalten stellt die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Zwangsgewalt gegen die Person des Bf. im Sinne des Art 144 Abs 1 B-VG dar.
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2. Die in Beschwerde gezogene Amtshandlung ist der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zuzurechnen (s. hiezu und Folgezahlen); dies gilt auch für die am zum Einsatz gelangten Beamten der Bundespolizeidirektion Wien (die, wie sich aus den Akten ergibt, vom Bundesminister für Inneres am der Sicherheitsdirektion für Niederösterreich zur Dienstleistung zugeteilt worden waren).
Belangte Behörde ist hier daher die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich.
3. Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Bf. als Partei sowie der Zeugin E S im Rechtshilfewege.
Aufgrund der übereinstimmenden Angaben des Bf. und der Zeugin nimmt der VfGH als erwiesen an, daß am in der Stopfenreuther Au drei Sicherheitswachebeamte, die bemerkt hatten, daß der Bf. fotografiert, dem Bf. - ungeachtet des Hinweises, der Bf. übe hier seinen journalistischen Beruf aus zwei Fotoapparate gegen dessen Willen wegnahmen, öffneten und die (teilweise belichteten) Filme herausnahmen, was deren Zerstörung bewirkte. Anschließend gaben die Beamten dem Bf. die beiden Apparate und die Filme wieder zurück. Der VfGH sieht keinen Anlaß, an der Richtigkeit der Aussagen, auf denen diese Feststellungen beruhen, zu zweifeln, zumal auch kein Grund erkennbar ist, warum die Zeugin und der Bf. die Beamten zu Unrecht einer derartigen Vorgangsweise bezichtigen sollten. In der Verhandlung vor dem VfGH hat der Vertreter der bel. Beh. die Richtigkeit dieser Aussagen nicht bestritten.
4. Der festgestellte Sachverhalt ist im Hinblick auf Art 10 MRK wie folgt zu beurteilen:
a) Der VfGH hat in der jüngeren Judikatur (s. und B658/85) klargestellt, daß der Schutzumfang des Art 10 MRK weiter als der des Art 13 StGG ist, weil der Anspruch auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 Abs 1 MRK ausdrücklich auch die Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten (to receive and impart information, de recevoir ou de communiquer des informations) ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksichtnahme auf Landesgrenzen einschließt (zu Art 13 StGG s. schon RGSlg. 524/1891, weiters grundlegend VfSlg. 2362/1952, s. auch das bereits zitierte Erkenntnis vom , B642/81).
b) Über diese Judikatur hinausgehend wird in der Literatur die Auffassung vertreten, daß nicht nur der - in Art 10 ausdrücklich genannte - Empfang von Nachrichten, sondern auch das Beschaffen von Informationen zum Zweck der Verbreitung von Art 10 MRK umfaßt ist (s. Frowein-Peukert, EMRK-Kommentar, 1985, S 228 f, RdZ 11 zu Art 10, und van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 1984, S 311).
Auch das Schweizerische Bundesgericht hat dem Art 10 MRK diesen weiteren Inhalt beigemessen und im Urteil vom , veröffentlicht in EuGRZ 1979, S 3 ff, ausgeführt, der Schutzbereich der Informationsfreiheit sei nicht auf ein ausschließlich passives Verhalten einzuschränken und die aktive Erschließung von Informationsquellen könne vom Grundrechtsschutz nicht vollständig ausgenommen werden. Das Bundesgericht fügte dieser Interpretation des Art 10 MRK hinzu, daß Informationsfreiheit nach der schweizerischen Bundesverfassung auch darin bestehe, daß der Staat die Presse in der Beschaffung des zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigten Materials nicht behindern dürfe.
In der österreichischen Literatur (Berka, Die Kommunikationsfreiheit in Österreich, EuGRZ 1982, S 413 ff, insbesondere S 418 f) wird Art 10 MRK so verstanden, daß aus dieser Bestimmung zwar keine "Freiheit der Recherche" oder "aktive Informationsverschaffungsfreiheit" folge, daß die Informationsfreiheit aber jedenfalls die ungestörte Aufnahme von der Öffentlichkeit prinzipiell zugänglichen Informationen gewährleiste.
c) Der VfGH ist der Auffassung, daß die aus Art 10 MRK erfließenden Rechte jedermann zustehen (s. Berka aaO, S 420). Im Zusammenhang mit der Person des Bf. und seinem Vorbringen räumt der VfGH allerdings ein, daß sich dieses Grundrecht im Hinblick auf den höheren Informationsbedarf der Presse im besonderen im Medienbereich auswirkt (s. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968, S 146, Frowein/Peukert aaO,
S 229, van Dijk/van Hoof aaO, S 311, sowie die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in den Fällen De Geillustreerde Pers, Decisions and Reports 8 (1977), S 13, RdZ 86, sowie Sunday Times, Publications of the European Court of Human Rights, Vol.30 (1979), S 40, RdZ 65), wobei jedoch die Informationsfreiheit dort den gleichen Inhalt und Umfang hat wie in jenen Fällen, bei denen die Informationsbeschaffung nicht dem Zweck der Verwertung für ein Massenmedium dient.
Der VfGH vertritt weiters - in Übereinstimmung mit den oben unter Pkt. b wiedergegebenen Grundgedanken - die Auffassung, daß aus Art 10 MRK zwar keine Verpflichtung des Staates resultiert, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten oder selbst Informationen bereitzustellen, daß aber eine Behinderung der Beschaffung und der Ermittlung öffentlich zugänglicher Informationen durch (aktives) Eingreifen von Staatsorganen ausschließlich unter den Voraussetzungen des Abs 2 des Art 10 MRK zulässig ist. Nur ein solches Verständnis dieser Verfassungsbestimmung berücksichtigt das Verschaffen von Informationen als Teil der Kommunikationsfreiheit (Berka aaO, S 415: "Sinneinheit kommunikativer Freiheit"); nur eine solche Interpretation gewährleistet es, das Recht der Meinungsäußerung aufgrund eines umfassenden Informationsstandes wirklich auszuüben. Die - weite - Auslegung des Schutzumfanges des Art 10 MRK entspricht im wesentlichen auch - wie oben unter b) dargelegt - dem sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung der jüngeren Zeit vertretenen Verständnis der durch diese Verfassungsbestimmung geschützten Rechte.
5. Daraus folgt für den vorliegenden Fall, daß die Vorgangsweise der Sicherheitswachebeamten (die zwei belichtete Filme unbrauchbar machten) in die von Art 10 MRK geschützten Rechte eingegriffen hat. Dieser Eingriff hat aus folgenden Gründen zu einer Verletzung dieses Grundrechtes geführt:
Es liegt angesichts des festgestellten Sachverhaltes auf der Hand, daß der Bf. durch die Zerstörung von Informationsmaterial (wozu fraglos auch Filme gehören) an der Beschaffung öffentlich zugänglicher Informationen über öffentlich stattfindende Vorgänge bewußt und gewollt gehindert wurde. Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht durch eine der nach Abs 2 des Art 10 MRK zulässigen gesetzlichen Vorkehrungen gedeckt.
6. Es ist daher auszusprechen, daß der Bf. durch die in Beschwerde gezogene behördliche Vorgangsweise im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Informationsfreiheit verletzt worden ist. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich zu untersuchen, ob der Bf. durch die inkriminierte Amtshandlung auch in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 3.000,-enthalten.