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VfGH vom 20.09.2011, B924/11

VfGH vom 20.09.2011, B924/11

19478

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Auferlegung der Verpflichtung zur erkennungsdienstlichen Behandlung; keine Darlegung der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme aus den gesetzlich angeführten Gründen

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Mit dem angefochtenen Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land vom wurde der Beschwerdeführer gemäß § 65 iVm § 77 Abs 2 des Sicherheitspolizeigesetzes, BGBl. 566/1991, idgF (im Folgenden: SPG) aufgefordert, sich umgehend bei der Polizeiinspektion Sierning einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen und an den dafür erforderlichen Handlungen mitzuwirken.

Begründend führte die Behörde dazu nach Darstellung der Rechtslage aus:

"Sie wurden von der PI Sierning unter GZ: B6/2026/2011-Trau wegen Verdacht des Raufhandels gemäß § 81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz (Störung der öffentlichen Ordnung) am bei der Staatsanwaltschaft Steyr zur Anzeige gebracht. Die damit verbundene Amtshandlung seitens der PI Sierning umfasst auch eine erkennungsdienstliche Behandlung gemäß § 65 Abs 1 SPG.

Mit Schreiben vom wurde die Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land seitens der PI Sierning in Kenntnis gebracht, dass Sie im Zuge der Erhebungen durch den erhebenden Beamten der Polizeiinspektion Sierning mehrmals aufgefordert wurden sich einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen. Bis dato sind Sie diesen Aufforderungen nicht nachgekommen.

Auf Grund dieses Sachverhaltes und dessen Wertung ist Ihnen die Verpflichtung zur erkennungsdienstlichen Behandlung aufzuerlegen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden."

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG, Art 2 StGG) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides beantragt wird.

Ausgeführt wird darin im Wesentlichen, dass bei Erlassung des angefochtenen Bescheides kein Tatverdacht mehr bestanden habe, da seitens der Staatsanwaltschaft Steyr das gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs 1 StGB geführte Ermittlungsverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits eingestellt gewesen sei (§190 Z 2 StPO). Darüber hinaus habe die Behörde auch das Vorliegen der übrigen in § 65 Abs 1 SPG normierten Voraussetzungen nicht dargelegt.

3. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Kenntnis von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bestreitet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 65 Abs 1 SPG begründet und die gebührenpflichtige Abweisung der erhobenen Beschwerde beantragt.

II. Rechtslage

Die zur Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblichen Rechtsvorschriften des SPG lauten:

"Erkennungsdienstliche Behandlung

§65. (1) Die Sicherheitsbehörden sind ermächtigt, einen Menschen, der im Verdacht steht, eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen zu haben, erkennungsdienstlich zu behandeln, wenn er im Rahmen einer kriminellen Verbindung tätig wurde oder dies wegen der Art oder Ausführung der Tat oder der Persönlichkeit des Betroffenen zur Vorbeugung weiterer gefährlicher Angriffe erforderlich scheint.

(2) - (3) [...]

(4) Wer erkennungsdienstlich zu behandeln ist, hat an den dafür erforderlichen Handlungen mitzuwirken.

(5) - (6) [...]

[...]

Verfahren

§77. (1) Die Behörde hat einen Menschen, den sie einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen hat, unter Bekanntgabe des maßgeblichen Grundes formlos hiezu aufzufordern.

(2) Kommt der Betroffene der Aufforderung gemäß Abs 1 nicht nach, so ist ihm die Verpflichtung gemäß § 65 Abs 4 bescheidmäßig aufzuerlegen; dagegen ist eine Berufung nicht zulässig. Eines Bescheides bedarf es dann nicht, wenn der Betroffene auch aus dem für die erkennungsdienstliche Behandlung maßgeblichen Grunde angehalten wird.

(3) Wurde wegen des für die erkennungsdienstliche Behandlung maßgeblichen Verdachtes eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft erstattet, so gelten die im Dienste der Strafjustiz geführten Erhebungen als Ermittlungsverfahren (§39 AVG) zur Erlassung des Bescheides. Dieser kann in solchen Fällen mit einer Ladung (§19 AVG) zur erkennungsdienstlichen Behandlung verbunden werden.

(4) Steht die Verpflichtung zur Mitwirkung gemäß § 65 Abs 4 fest, so kann der Betroffene, wenn er angehalten wird, zur erkennungsdienstlichen Behandlung vorgeführt werden."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Ein solcher Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

2.1. Wie unter Punkt II. dargestellt, ist die Zulässigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung gemäß § 65 Abs 1 SPG an zwei Voraussetzungen geknüpft: Zum einen hat der Betroffene im Verdacht zu stehen, eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen zu haben, zum anderen muss er entweder im Rahmen einer kriminellen Verbindung tätig geworden sein oder die erkennungsdienstliche Behandlung muss sonst auf Grund der Art oder Ausführung der Tat oder der Persönlichkeit des Betroffenen zur Vorbeugung weiterer gefährlicher Angriffe erforderlich scheinen.

2.2. Die belangte Behörde hat - unabhängig von der Frage, ob sie von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Bescheiderlassung Kenntnis haben konnte (vgl. zur diesfalls gegebenen Begründungspflicht VfSlg. 17.050/2003) - es im angefochtenen Bescheid jedenfalls unterlassen, sich mit der zweiten Voraussetzung des § 65 Abs 1 SPG zu befassen und darzulegen, weshalb sie eine erkennungsdienstliche Behandlung des Beschwerdeführers aus den in dieser Bestimmung angeführten Gründen für notwendig hält. Die Behörde ist daher in einem entscheidungswesentlichen Punkt jede nachvollziehbare Begründung schuldig geblieben.

2.3. Der angefochtene Bescheid ist daher schon deshalb aufzuheben (vgl. etwa VfSlg. 16.439/2002 sowie , und ).

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der Beschwerdeführer wurde durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift dargelegt hat, weshalb ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen des § 65 Abs 1 SPG gegeben seien. Wie der Verfassungsgerichtshof nämlich wiederholt ausgesprochen hat, muss die Begründung eines Bescheides aus diesem selbst hervorgehen; sie ist durch die Gegenschrift im Beschwerdeverfahren nicht nachholbar (zB VfSlg. 10.057/1984, 10.758/1986, 18.737/2009).

2. Der Kostenzuspruch beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie der Ersatz der entrichteten Eingabengebühr in der Höhe von € 220,-

enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.