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VfGH vom 27.02.1986, B144/83

VfGH vom 27.02.1986, B144/83

Sammlungsnummer

10742

Leitsatz

StGG Art 8; MRK Art 5; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbarer Verdacht des Betruges; Verhaftung und anschließende Anhaltung in § 177 Abs 1 Z 1 iVm. § 175 Abs 1 Z 1 StPO sowie § 177 Abs 2 StPO gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. B S und H S wenden sich mit ihrer auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde gegen ihre "Verhaftung und Anhaltung" durch Organe der Bundespolizeidirektion Linz "am 1. Feber 1983 in der Zeit von 13.50 Uhr bis 17.15 Uhr".

Sie erachten sich durch diese Maßnahmen (die von den Bf. als in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erfolgte Verwaltungsakte gewertet werden) im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Sie beantragen, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen.

2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Linz als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und begehrte darin, die Beschwerde abzuweisen und die Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Aufgrund des - in den hier bedeutsamen Belangen übereinstimmenden - Vorbringens der Parteien und der vorgelegten Verwaltungsakten nimmt der VfGH folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

Am 1. Feber 1983 wurde gegen 11.40 Uhr J M von Organen der Bundespolizeidirektion Linz angehalten, als er in Linz ... von Haus zu Haus ziehend für das "Unfallopfer-Hilfswerk" Spenden sammelte. Er trug keine Legitimation bei sich und übte die Sammeltätigkeit ohne Sammelbewilligung nach dem oö. Sammelgesetz, LGBl. 33/1953 in der geltenden Fassung, aus. Ein Quittungsblock des "Unfallopfer-Hilfswerks" wurde bei ihm sichergestellt. Die Quittungen trugen den Aufdruck "Unfallopfer Hilfswerk" zusammen mit der Angabe einer Anschrift in Steyr.

Das genannte Hilfswerk war den oö. Sicherheitsbehörden trotz Nachforschungen unbekannt. Erste Erhebungen ergaben, daß eine Sammelbewilligung nicht erteilt wurde. Im Zuge seiner Einvernahme gab J M - gegen 13.30 Uhr - an, daß zwei weitere Personen, H S und B S - die Bf. -, ebenfalls an diesem Tag für das "Unfallopfer-Hilfswerk" sammelten und daß er mit ihnen um 14 Uhr an der Kreuzung ... verabredet sei. Die beiden würden einen PKW mit dem amtlichen Kennzeichen W ... fahren.

Daraufhin wurden zwei Sicherheitswachebeamte zur genannten Straßenkreuzung beordert, um die Angaben des Festgenommenen zu überprüfen. Dort konnten sie tatsächlich die Bf. im angegebenen PKW sitzend antreffen. Auf die Frage, was sie hier machten, gaben die Bf. keine Erklärungen ab. Die einschreitenden Beamten erblickten aber einen Quittungsblock des "Unfallopfer-Hilfswerkes", der auf einem Vordersitz lag. Nunmehr hegten sie - iZm. dem Stand der im Zuge der Festnahme des J M durchgeführten Ermittlungen - hinsichtlich der Bf. Betrugsverdacht. Bei einer Durchsuchung des Handschuhfaches fanden sie einen weiteren Quittungsblock.

Da die Bf. zur Sache keine Erklärung abgeben wollten und es ablehnten, freiwillig in das Wachzimmer mitzukommen, wurden sie gemäß § 177 Abs 1 Z 1 iVm. § 175 Abs 1 Z 1 StPO festgenommen. Nachdem ihre Einvernahme abgeschlossen war, wurden sie entlassen.

2. a) Gemäß Art 144 Abs 1 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983, 9916/1984).

Da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde in vollem Umfange zulässig.

b) Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§177 Abs 1 Z 1 StPO ist eine gesetzliche Bestimmung, die solche Fälle regelt.

Die Festnahme beider Bf. ist im Dienste der Strafjustiz unter Berufung auf die Bestimmungen des § 177 Abs 1 Z 1 und des § 175 Abs 1 Z 1 StPO vorgenommen worden.

Nach § 177 Abs 1 Z 1 StPO kann ausnahmsweise die vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung in den Fällen des § 175 Abs 1 Z 1 leg. cit. vorgenommen werden. Diese Bestimmung berechtigt zur Verhaftung ua. dann, wenn der Verdächtige unmittelbar nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens mit Gegenständen betreten wird, die vom Verbrechen oder Vergehen herrühren oder sonst auf seine Beteiligung daran hinweisen.

c) Wie sich für die einschreitenden Sicherheitswachebeamten aus dem Hinweis des J M ergab, waren die Bf. am 1. Feber 1983 in Linz unterwegs, um für das "Unfall-Hilfswerk" Spenden zu sammeln. (Dies wurde im übrigen von den Bf. auch nie bestritten.) Wie die ersten Ermittlungen ergeben hatten, war ein solches Hilfswerk, dem eine Sammlungsbewilligung erteilt worden wäre, mit Sitz an der angegebenen Adresse in Steyr den oö. Sicherheitsbehörden unbekannt. Die Sicherheitswachebeamten konnten daher mit gutem Grunde die Existenz eines solchen Hilfswerkes bezweifeln und die Sammler von Geldspenden für dieses Hilfswerk vertretbarerweise des Vergehens des Betruges (§146 StGB), allenfalls sogar des Verbrechens des gewerbsmäßigen Betruges (§148 StGB), zumindest in der Begehungsform des Versuches (§15 StGB) verdächtigen.

Die Bf. wurden mit Gegenständen (Quittungsblöcken) betreten, die auf die Begehung der angeführten Delikte hinwiesen. Auch der von § 175 Abs 1 Z 1 geforderte enge zeitliche Zusammenhang (VfSlg. 8816/1980, 9916/1984) steht nicht in Frage. Unter diesen Voraussetzungen war die Festnahme der beiden Bf. durch § 177 Abs 1 Z 1 iVm. § 175 Abs 1 Z 1 StPO gedeckt.

d) Der Behörde kann aber auch nicht der Vorwurf gemacht werden, mit der Anhaltung der Bf. gegen § 177 Abs 2 StPO verstoßen zu haben. Nach dieser Bestimmung ist der in Verwahrung Genommene durch die Sicherheitsbehörden unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen, und wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden ist, sogleich freizulassen. Die Behörde hat offenkundig diesem Gebot entsprochen, indem die Bf. nach ihrer Überstellung so rasch wie möglich zur Sache vernommen wurden. Nachdem die Einvernahme abgeschlossen war und sich kein Grund für eine weitere Verwahrung ergeben hatte, wurden die Bf. unverzüglich freigelassen. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann es dahingestellt bleiben, ob die Entlassung um 17.15 Uhr, wie die Bf. behaupten, oder um 16.30 Uhr, wie die bel. Beh. in ihrer Gegendarstellung ausführt, erfolgte.