OGH 06.09.2016, 13Os49/16d
Entscheidungsart: Verstärkter Senat
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Jülg als Schriftführer in der Rechtshilfesache des Mag. Gerhard G***** und anderer wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nach Art 96 Abs 1 lit b chMwStG und anderer strafbarer Handlungen für die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (CH), AZ 2 Hst 27/12k der Staatsanwaltschaft Feldkirch (AZ 27 HR 288/12p des Landesgerichts Feldkirch), über die Anträge von Mag. Gerhard G*****, Mag. (FH) Daniela G***** und Philipp Gs***** auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die hier zu lösende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle oder auch wegen einer Verletzung anderer Rechte gestellt werden kann, ist in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht einheitlich beantwortet worden.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mag. Gerhard G*****, Mag. (FH) Daniela G***** und Philipp Gs***** behaupten in einem beim Obersten Gerichtshof eingebrachten Antrag auf Erneuerung des Verfahrens – soweit hier von Bedeutung – eine durch Gewährung von Rechtshilfe bewirkte Verletzung von Art 50 GRC und von Art 54 SDÜ, die vom angerufenen Beschwerdegericht unbeanstandet geblieben sei. Der Oberste Gerichtshof hat den Anwendungsbereich des § 363a StPO zwar (unter Annahme einer im Licht der Rechtsprechung des EGMR nachträglich entstandenen Gesetzeslücke) dahin erweitert, dass erfolgreiche Antragstellung nach § 363a StPO kein Erkenntnis des EGMR voraussetzt, dabei aber zunächst laufend betont, dass auch im solcherart erweiterten Anwendungsbereich – dem Wortlaut des § 363a Abs 1 StPO folgend – ausschließlich Verletzungen der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle Gegenstand eines solchen Antrags sein können (13 Os 135/06m, SSt 2007/53; RIS-Justiz RS0122228).
In diesem Sinn verlangte der Oberste Gerichtshof unter dem Aspekt der Zulässigkeit von Erneuerungsanträgen, denen kein Erkenntnis des EGMR zu Grunde liegt, die Einhaltung der gegenüber dem EGMR normierten Voraussetzungen der Art 34 und 35 MRK (11 Os 132/06f, SSt 2007/79; RIS-Justiz RS0122736, RS0122737, RS0124359, RS0124738, RS0124838, RS0125374, RS0126458 und RS0128030; jüngst 15 Os 132/15y), somit unter anderem die Bezugnahme auf ein durch die MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle geschütztes Recht (Art 34 erster Satz MRK). Ebenso konsequent orientierte der Oberste Gerichtshof die Prüfung solcher Anträge am System der MRK (RIS-Justiz RS0123459 [T1], RS0123504 und RS0123644 [T2]) und an der Frage nach der Konventionskonformität der in Rede stehenden Entscheidung (RIS-Justiz RS0122736 [T10], RS0123229, RS0123232, RS0125374 [T2], RS0129635 und RS0130263; jüngst 13 Os 131/15m und 13 Os 51/15x).
Mehrfach wurde vom Obersten Gerichtshof ausgesprochen, dass er sich als nach der Bundesverfassung oberste Instanz in Strafrechtssachen (Art 92 Abs 1 B-VG)
– über Art 46 Abs 1 MRK hinausgehend – dazu aufgerufen sieht, die Erfüllung der aus der MRK erfließenden verfassungs- wie völkerrechtlichen Verpflichtungen für den Bereich der Strafgerichtsbarkeit sicherzustellen, mit anderen Worten dem Geist der MRK auch in jenen Fällen Rechnung zu tragen, in denen noch kein Urteil des EGMR gegen Österreich ergangen ist (vgl 14 Os 140/06d, 15 Os 134/06d).
Zu 12 Os 65/11t wurde die Prüfung der behaupteten Verletzung des Art 83 Abs 2 B-VG explizit mit der Begründung abgelehnt, dass damit nicht die Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle eingewendet und solcherart der Prüfungsumfang des herangezogenen Rechtsbehelfs verlassen worden ist.
Demgegenüber wurden in zwei Entscheidungen
– gestützt auf ein obiter dictum in 17 Os 11/12i – auch Verstöße gegen Art 54 SDÜ als mögliche Grundlage eines Erneuerungsantrags angesehen (14 Os 133/13k, 11 Os 73/13i).
In einigen weiteren Entscheidungen wurden behauptete Verletzungen des SDÜ (14 Os 60/08t), des B-VG (15 Os 81/11t und 15 Os 171/08y) und der GRC (14 Os 17/16f) inhaltlich geprüft, ein über die MRK und ihre Zusatzprotokolle hinausgehender Prüfungsmaßstab des § 363a Abs 1 StPO also konkludent bejaht.
Zur Beseitigung der Rechtsprechungsdivergenz ist daher die Befassung eines verstärkten Senats geboten (§ 8 Abs 1 Z 2 OGHG).
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz, die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp, Dr. Danek, Hon.-Prof. Dr. Schroll und Dr. Schwab sowie die Hofräte und Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Dr. T. Solé, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jorda als Schriftführerin in der Rechtshilfesache des Mag. Gerhard G***** und anderer wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nach Art 96 Abs 1 lit b des schweizerischen Mehrwertsteuergesetzes und anderer strafbarer Handlungen, AZ 2 HSt 27/12k der Staatsanwaltschaft Feldkirch (AZ 27 HR 288/12p des Landesgerichts Feldkirch), im Verfahren über die Anträge von Mag. Gerhard G*****, Mag. (FH) Daniela G***** und Philipp Gs***** auf Erneuerung des Verfahrens nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Erste Generalanwältin Prof. Dr. Aicher, und der Vertreterin der Erneuerungswerber, Mag. Pongratz, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art 4 Abs 3 EUV im Zusammenhang mit den daraus abgeleiteten Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen, dass es den Obersten Gerichtshof verpflichtet, über Antrag eines Betroffenen die Überprüfung einer rechtskräftigen Entscheidung eines Strafgerichts hinsichtlich behaupteter Verletzung von Unionsrecht (hier: § 50 GRC, Art 54 SDÜ) vorzunehmen, wenn das nationale Recht (§ 363a StPO) eine solche Überprüfung nur hinsichtlich behaupteter Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle vorsieht?
II. Das Verfahren über die Anträge auf Erneuerung des Verfahrens wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Text
Gründe:
1. Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schweiz, führt eine Strafuntersuchung gegen Mag. Gerhard G*****, Mag. (FH) Daniela G***** und andere wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nach Art 96 Abs 1 lit b des schweizerischen Mehrwertsteuergesetzes und anderer strafbarer Handlungen. Die genannten Personen stehen im Verdacht, durch falsche Angaben gegenüber der Eidgenössischen Steuerverwaltung Mehrwertsteuerrück-vergütungen von insgesamt 835.374,17 Schweizer Franken erlangt zu haben.
2. Bisheriges Verfahren
Aufgrund eines Ersuchens der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ist bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch, Österreich, ein Rechtshilfeverfahren anhängig.
Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom , AZ 11 Bs 39/13t, wurde nach Einsprüchen und Beschwerde die Zulässigkeit der eine Vernehmung von Mag. (FH) Daniela G***** als Beschuldigte betreffenden Rechtshilfe für das Kantonale Untersuchungsamt ausgesprochen und wurden die auf Art 54 SDÜ und Verfahrenseinstellungen in den Jahren 2011 und 2012 durch die Staatsanwaltschaft Heilbronn zu AZ 56 Js 376/11 und das liechtensteinische Fürstliche Landgericht zu AZ 12 Ur.2011.238 gestützten Einwände verworfen. Explizit wurde dabei auch der Warenexporte und Mehrwertsteuerrückvergütungen in Höhe von 835.374,17 Schweizer Franken betreffende Vorwurf hervorgehoben.
Diese Entscheidung war Gegenstand eines von Mag. Gerhard G***** und Mag. (FH) Daniela G***** beim Obersten Gerichtshof eingebrachten Erneuerungsantrags. Mit Beschluss vom , GZ 11 Os 73/13i-7, hob der Oberste Gerichtshof die Beschlüsse des Landesgerichts Feldkirch vom und des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 11 Bs 39/13t, insoweit auf, als sie nicht das Rechtshilfeersuchen im Zusammenhang mit dem Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung betrafen. Im Umfang der Aufhebung wurde die Gewährung von Rechtshilfe abgelehnt. In Bezug auf den von der Aufhebung nicht betroffenen Teil des Rechtshilfeersuchens präzisierte der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungsgründen, dass „das vom Erneuerungsantrag nicht bekämpfte Vernehmungsersuchen im Zusammenhang mit dem Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung von der Staatsanwaltschaft einer Erledigung zuzuführen sein wird“.
Im Umfang des von der Ablehnung der Rechtshilfe nicht betroffenen Teils führte die Staatsanwaltschaft Feldkirch das Rechtshilfeverfahren fort, wobei sie diesbezüglich von der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen um Durchführung weiterer Vernehmungen ersucht wurde. Vom letzten Ersuchen war nunmehr auch Philipp Gs***** als Beschuldigter betroffen. Einsprüche von Mag. Gerhard G***** und Mag. (FH) Daniela G***** wegen Rechtsverletzung folgten, die vom Landesgericht Feldkirch wegen entschiedener Rechtssache abgewiesen wurden. Gegen weitere Beschlussfassungen des Gerichts erhobene Beschwerden blieben erfolglos.
Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 11 Bs 264/15p, wurde letztlich auch den Beschwerden von Mag. Gerhard G***** und Mag. (FH) Daniela G***** sowie Philipp Gs***** gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom kein Erfolg beschieden und in den Gründen – soweit hier von Interesse – darauf hingewiesen, dass sich auch das Rechtshilfeersuchen vom auf den Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung beschränken würde. Anhaltspunkte dafür, dass eine Vernehmung des Philipp Gs***** gegen Art 54 SDÜ verstoßen könnte, fand das Beschwerdegericht nicht.
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat mit dem Beschluss vom nach der österreichischen Strafprozessordnung als zweite und letzte Instanz entschieden. Die Entscheidung ist demnach rechtskräftig.
3. Vorbringen und Anträge der Parteien
3.1 Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom richtet sich der von Mag. Gerhard G*****, Mag. (FH) Daniela G***** und Philipp Gs***** am beim Obersten Gerichtshof eingebrachte Antrag auf Erneuerung des Verfahrens. Die Genannten behaupten eine durch die Gewährung von Rechtshilfe für die Staatsanwaltschaft St. Gallen bewirkte Verletzung von Art 6 EMRK, Art 4 7. ZPMRK, Art 50 GRC und Art 54 SDÜ. Sie bringen demnach vor, nicht nur in Konventionsrechten, sondern auch in aus dem Unionsrecht erwachsenden Grundrechten verletzt worden zu sein.
3.2 Sie beantragen primär, der Oberste Gerichtshof möge das Strafverfahren erneuern und die Rechtshilfe für unzulässig erklären.
3.3 Der Oberste Gerichtshof hat über die Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens zu entscheiden.
Rechtliche Beurteilung
4. Unionsrechtliche Grundlagen
4.1 Voranzustellen ist, dass es sich bei der EMRK um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der von den Vertragsstaaten in das nationale Recht übernommen wurde und dem in Österreich Verfassungsrang zukommt.
4.2 Der unionsrechtliche Grundsatz der Äquivalenz besagt, dass nationale Verfahren, die den Vollzug von Unionsrecht oder die Durchsetzung von im Unionsrecht begründeten Ansprüchen betreffen, nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als entsprechende Verfahren, die innerstaatliches Recht oder nach Gegenstand, Rechtsgrund und wesentlichen Merkmalen vergleichbare innerstaatliche Ansprüche betreffen. Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen, die von den nationalen Gerichten auf unionsrechtliche Sachverhalte und Fragestellungen angewendet werden, dürfen somit nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (C-249/11, Byankov, Rn 53; jüngst C-505/14, Klausner, Rn 40; C-310/14, Nike, Rn 28; C-161/15, Bensada Benallal, Rn 24).
4.3 Allerdings hat der EuGH ausdrücklich festgestellt, dass bei der Anwendung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes jeder Fall unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie zB der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (C-312/93, Peterbroeck, Rn 14; verbundene Rechtssachen C-430/93 und C-431/93, van Schijndel, Rn 19).
4.4 Die Vorgaben des nationalen Rechts zu behördlichen Befugnissen fanden auch in der Entscheidung Kühne & Heitz NV besondere Berücksichtigung, in welcher der Gerichtshof die Pflicht zur Überprüfung einer bestandskräftigen mitgliedstaatlichen Verwaltungs-entscheidung auf gemeinschaftsrechtliche Fehler unter anderem darauf stützte, dass nach nationalem Recht eine Befugnis zur Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsentscheidungen bestand (C-453/00, Kühne & Heitz NV, Rn 25, 28). Der Gerichtshof hat weiters in der Rechtssache Kapferer, welche die Rechtskraft mitgliedstaatlicher Gerichtsentscheidungen betraf, das Erfordernis einer behördlichen Rücknahmebefugnis bekräftigt (C-234/04, Kapferer, Rn 23).
4.5 Dem unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität zufolge darf durch die Ausgestaltung gerichtlicher Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (vgl in diesem Sinn C-228/96, Aprile, Rn 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
4.6 Die österreichische Strafprozessordnung bietet allerdings Betroffenen zahlreiche Möglichkeiten, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte wirksam durchzusetzen (siehe dazu Punkt 5.6).
4.7 Zudem hat der Gerichtshof ausgesprochen, dass der Grundsatz effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass es in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften mit (damals) Art 49 EG gerichtet ist, wenn andere Rechtsbehelfe, die nicht weniger günstig ausgestaltet sind als entsprechende nationale Klagen, die Prüfung dieser Vereinbarkeit als Vorfrage ermöglichen (C-432/05, Unibet, Rn 65).
5. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen
5.1 Die Bestimmung des § 363a wurde mit in die Strafprozessordnung aufgenommen. Sie lautet wörtlich:
„§ 363a. (1) Wird in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt, so ist das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, daß die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluß auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte.
(2) Über den Antrag auf Erneuerung des Verfahrens entscheidet in allen Fällen der Oberste Gerichtshof. Den Antrag können der von der festgestellten Verletzung Betroffene und der Generalprokurator stellen; § 282 Abs. 1 ist sinngemäß anzuwenden. Der Antrag ist beim Obersten Gerichtshof einzubringen. Zu einem Antrag des Generalprokurators ist der Betroffene, zu einem Antrag des Betroffenen ist der Generalprokurator zu hören; § 35 Abs. 2 ist sinngemäß anzuwenden.“
Die in § 363a StPO vorkommenden Bestimmungen lauten:
„§ 282. (1) Zugunsten des Angeklagten kann die Nichtigkeitsbeschwerde sowohl von ihm selbst als auch von seinem gesetzlichen Vertreter und von der Staatsanwaltschaft ergriffen werden. Soweit es sich um die Beurteilung der geltend gemachten Nichtigkeitsgründe handelt, ist die zugunsten des Angeklagten von anderen ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde als von ihm selbst eingelegt anzusehen.“
„§ 35. (1) ...
(2) Im Übrigen entscheiden die Gerichte mit Beschluss (§ 86), soweit sie nicht bloß eine auf den Fortgang des Verfahrens oder die Bekanntmachung einer gerichtlichen Entscheidung gerichtete Verfügung erlassen.“
5.2 Demnach bezieht sich § 363a StPO auf die Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen. Denn der EGMR kann sich erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe mit der Behauptung einer Konventionsverletzung befassen (Art 19, 34, 35 Abs 1 EMRK).
5.3 In einer Grundsatzentscheidung vom (13 Os 135/06m) sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass es eines Erkenntnisses des EGMR als Voraussetzung für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht zwingend bedarf. Vielmehr kann auch eine vom Obersten Gerichtshof selbst – aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens – festgestellte Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts dazu führen. Festgehalten sei, auch mit Blick auf die strafprozessuale Praxis, dass der Großteil der sonst – sei es innerstaatlich, sei es unionsrechtlich – normierten Grundrechte auch von der EMRK und ihren Zusatzprotokollen erfasst wird.
5.4 Der EGMR hat die damit begonnene Rechtsprechungslinie des Obersten Gerichtshofs ausdrücklich anerkannt: Er hat aus Anlass einer auf Art 10 EMRK gestützten Beschwerde eines Fernsehveranstalters mit Beschluss vom , ATV Privatfernseh-GmbH gegen Österreich, Appl 58842/98, die Erneuerungsmöglichkeit eines Strafverfahrens gemäß § 363a StPO ausdrücklich als effective remedy im Sinn des Art 35 Abs 1 EMRK eingestuft. Das bedeutet, dass im Fall eines Strafverfahrens vor einem österreichischen Strafgericht erst ein Antrag gemäß § 363a StPO gestellt (und der Ausgang dieses Verfahrens abgewartet) werden muss, ehe man sich an den EGMR wenden kann. Dies ist insoweit bedeutsam, als der Anwendungsbereich des § 363a StPO durch die inzwischen ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ausgedehnt wurde: Diese Bestimmung sieht ihrem Wortlaut nach eine Erneuerung des Strafverfahrens an sich nur dann vor, wenn der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hat.
5.5 Nach gefestigter Auffassung des Obersten Gerichtshofs kann § 363a StPO also nicht dahin verstanden werden, die Erneuerung eines Strafverfahrens aufgrund einer Verletzung von Konventionsrechten nur in jenen Fällen zu ermöglichen, in denen die Konventionsverletzung bereits in einem Urteil des EGMR festgestellt worden ist. Somit gewährt der Oberste Gerichtshof anstelle des EGMR (also nicht aufgrund eines seiner Erkenntnisse) angerufen, unter Einhaltung der diesem Gerichtshof gegenüber bestehenden Prozessvoraussetzungen (Art 34, 35 MRK), jedem, der vorbringt, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein, eine wirksame Beschwerde. Damit besteht die Möglichkeit, aus dem Kreis der Grundrechte normierenden Bestimmungen in den österreichischen Gesetzen eine Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle (nicht jedoch anderer Grundrechtsschutznormen) im Rahmen eines österreichischen Strafverfahrens durch einen Antrag nach § 363a StPO auch ohne Vorliegen einer Entscheidung des EGMR direkt beim Obersten Gerichtshof zu rügen. Seit Ergehen der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde von diesem Rechtsbehelf zunehmend und auch erfolgreich Gebrauch gemacht.
5.6 Nach der österreichischen Strafprozessordnung steht den Betroffenen eine Reihe von rechtlichen Mitteln zu, die Ausübung der ihnen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte (zB jenes nach Art 50 GRC) in einem Strafverfahren durchzusetzen.
6. Vorlagefrage
6.1 Im hier gegebenen Zusammenhang könnte die Auffassung vertreten werden, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität würden verlangen, dass eine nationale Regelung zu einem Rechtsbehelf – hier § 363a StPO und die dazu maßgebende Rechtsprechung (wie unter Punkt 5. dargelegt) – über ihren Wortlaut hinaus nicht nur auf Fälle anzuwenden sei, in denen jemand vorbringt, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein, sondern auch auf Fälle, in denen eine Verletzung von aus dem Unionsrecht erwachsenden Grundrechten vorgebracht wird.
6.2 Für eine solche Sicht könnte angeführt werden, dass es sich beim Vorbringen, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein (worauf § 363a StPO abstellt), und beim Vorbringen, in einem Grundrecht nach der GRC verletzt worden zu sein, um einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund handeln könnte (vgl C-93/12, Agrokonsulting-04, Rn 39; C-69/14, Tarsia, Rn 34). Weiters könnte veranschlagt werden, dass die Grundrechte nach der GRC zumindest jene Reichweite wie die Grundrechte nach der EMRK haben (Homogenität: Art 52 Abs 3 GRC).
6.3 Allerdings könnten einer solchen Auffassung insbesondere die unter den Punkten 4.3 bis 4.7 genannten Erwägungen im Zusammenhang mit dem Umstand entgegengehalten werden, dass § 363a StPO in seinem von der Rechtsprechung erweiterten Anwendungsbereich dazu dient, unter Vorwegnahme der meritorischen (eine Grundrechtsverletzung bejahenden) Entscheidung des EGMR, eine solche gleich umzusetzen (Art 46 Abs 1 MRK; siehe Punkte 5.1. bis 5.5), und die EMRK diesem Gerichtshof eine Überprüfung nur hinsichtlich behaupteter Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle einräumt (Art 34 EMRK).
6.4 Daher wird der EuGH um eine diesbezügliche Klarstellung der Rechtslage ersucht.
7. Verfahrensrechtliches
Als Gericht letzter Instanz ist der Oberste Gerichtshof zur Vorlage verpflichtet, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel besteht. Solche Zweifel liegen hier vor.
Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist das Verfahren über die Anträge auf Erneuerung des Verfahrens auszusetzen.
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek, Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab und Dr. Lässig sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Mag. Hetlinger, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart von FI Mock als Schriftführerin in der Rechtshilfesache des Mag. Gerhard G* und anderer wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nach Art 96 Abs 1 lit b des schweizerischen Mehrwertsteuergesetzes und anderer strafbarer Handlungen, AZ 2 HSt 27/12k der Staatsanwaltschaft Feldkirch (AZ 27 HR 288/12p des Landesgerichts Feldkirch), über die Anträge von Mag. Gerhard G*, Mag. (FH) Daniela G* und Philipp Gs* auf Erneuerung des Verfahrens nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Erste Generalanwältin Prof. Dr. Aicher, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Text
Gründe:
1. Über Ersuchen der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen vom , AZ St.2010.33816, die gegen Mag. Gerhard G*, Mag. (FH) Daniela G* und andere – soweit hier von Interesse – wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nach Art 96 Abs 1 lit b des schweizerischen Mehrwertsteuergesetzes und anderer strafbarer Handlungen eine Strafuntersuchung führt (ON 2 S 6), ist bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch zu AZ 2 HSt 27/12k ein Rechtshilfeverfahren anhängig. Danach stehen die Genannten im Verdacht, auf bestimmte Quartale der Jahre 2010 und 2011 bezogen im Namen der D* GmbH gegenüber der Eidgenössischen Steuerverwaltung Vorsteuerguthaben und Warenexporte in inhaltlich unrichtig ausgefüllten Selbstdeklarationsformularen vorgetäuscht und dadurch Mehrwertsteuerrückvergütungen von insgesamt 835.374,17 CHF erlangt zu haben (ON 2 S 6 f, ON 68 S 5 ff).
2. Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom , AZ 11 Bs 39/13t, wurde nach Einsprüchen und Beschwerde die Zulässigkeit der eine Vernehmung von Mag. (FH) Daniela G* als Beschuldigte betreffenden Rechtshilfe für das Kantonale Untersuchungsamt ausgesprochen und wurden die auf Art 54 SDÜ und Verfahrenseinstellungen in den Jahren 2011 und 2012 durch die Staatsanwaltschaft Heilbronn zu AZ 56 Js 376/11 und das liechtensteinische Fürstliche Landgericht zu AZ 12 Ur.2011.238 gestützten Einwände verworfen. Explizit wurde dabei auch der Warenexporte und Mehrwertsteuerrückvergütungen in Höhe von 835.374,17 CHF betreffende Vorwurf hervorgehoben (ON 20 S 1, 11 f, 13).
3. Diese Entscheidung war Gegenstand eines von Mag. Gerhard und Mag. (FH) Daniela G* beim Obersten Gerichtshof eingebrachten Erneuerungsantrags. Mit Beschluss vom , GZ 11 Os 73/13i-7, hob der Oberste Gerichtshof die Beschlüsse des Landesgerichts Feldkirch vom (ON 14) und des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 11 Bs 39/13t (ON 20), insoweit auf, als sie nicht das Rechtshilfeersuchen im Zusammenhang mit dem Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung betrafen. Im Umfang der Aufhebung wurde die Gewährung von Rechtshilfe abgelehnt. In Bezug auf den von der Aufhebung nicht betroffenen Teil des Rechtshilfeersuchens präzisierte der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungsgründen, dass „das vom Erneuerungsantrag nicht bekämpfte Vernehmungsersuchen im Zusammenhang mit dem Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung (III., ON 2 S 6) von der Staatsanwaltschaft einer Erledigung zuzuführen sein wird“ (ON 26).
4. Im Umfang des von der Ablehnung der Rechtshilfe nicht betroffenen Teils führte die Staatsanwaltschaft Feldkirch das Rechtshilfeverfahren fort, wobei sie diesbezüglich von der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen um Durchführung weiterer Vernehmungen ersucht wurde. Vom letzten Ersuchen war nunmehr auch Philipp Gs* als Beschuldigter betroffen (ON 68). Einsprüche von Mag. Gerhard und Mag. (FH) Daniela G* wegen Rechtsverletzung folgten, die vom Landesgericht Feldkirch wegen entschiedener Rechtssache abgewiesen wurden (ON 50). Gegen weitere Beschlussfassungen des Gerichts erhobene Beschwerden blieben erfolglos (ON 62, ON 106).
5. Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 11 Bs 254/15p, wurde letztlich auch den Beschwerden von Mag. Gerhard und Mag. (FH) Daniela G* sowie Philipp Gs* (ON 113) gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom (ON 112) kein Erfolg beschieden und in den Gründen – soweit hier von Interesse – darauf hingewiesen, dass sich auch das Rechtshilfeersuchen vom (ON 68) auf den Verdacht von Straftaten zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung beschränken würde. Anhaltspunkte dafür, dass eine Vernehmung des Philipp Gs* gegen Art 54 SDÜ verstoßen könnte, fand das Beschwerdegericht nicht (ON 115).
6. Dagegen richtet sich der von Mag. Gerhard G*, Mag. (FH) Daniela G* und Philipp Gs* am beim Obersten Gerichtshof eingebrachte Antrag auf Erneuerung des Verfahrens, mit welchem eine durch die Gewährung von Rechtshilfe für die Staatsanwaltschaft St. Gallen bewirkte Verletzung von Art 6 MRK, Art 4 des 7. ZPMRK, Art 50 GRC und Art 54 SDÜ behauptet wird.
Rechtliche Beurteilung
Soweit der Antrag Verletzungen des Art 50 GRC und des Art 54 SDÜ behauptet, orientiert er sich nicht am Wortlaut des § 363a Abs 1 StPO, der ausdrücklich auf eine Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle abstellt.
Der Oberste Gerichtshof hat den Anwendungsbereich des § 363a StPO zwar (unter Annahme einer im Licht der Rechtsprechung des EGMR nachträglich entstandenen Gesetzeslücke) dahin erweitert, dass erfolgreiche Antragstellung nach § 363a StPO kein Erkenntnis des EGMR voraussetzt, dabei aber betont, dass auch im solcherart erweiterten Anwendungsbereich – dem Wortlaut des § 363a Abs 1 StPO folgend – ausschließlich Verletzungen der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle Gegenstand eines solchen Antrags sein können (13 Os 135/06m, SSt 2007/53; RIS-Justiz RS0122228; 13 Os 51/15x).
In diesem Sinn verlangt der Oberste Gerichtshof unter dem Aspekt der Zulässigkeit von Erneuerungsanträgen, denen kein Erkenntnis des EGMR zu Grunde liegt, die Einhaltung der gegenüber dem EGMR normierten Voraussetzungen der Art 34 und 35 MRK (11 Os 132/06f, SSt 2007/79; RIS-Justiz RS0122736, RS0122737, RS0124359, RS0124738, RS0124838, RS0125374, RS0126458 und RS0128030; jüngst 15 Os 132/15y), somit unter anderem die Bezugnahme auf ein durch die MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle geschütztes Recht (Art 34 erster Satz MRK). Ebenso konsequent orientiert der Oberste Gerichtshof die Prüfung solcher Anträge am System der MRK (RIS-Justiz RS0123459 [T1], RS0123504 und RS0123644 [T2]) und an der Frage nach der Konventionskonformität der in Rede stehenden Entscheidung (RIS-Justiz RS0122736 [T10], RS0123229, RS0123232, RS0125374 [T2], RS0129635 und RS0130263; 13 Os 131/15m und 13 Os 51/15x).
Zu 12 Os 65/11t wurde die Prüfung der behaupteten Verletzung des Art 83 Abs 2 B-VG explizit mit der Begründung abgelehnt, dass damit nicht die Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle eingewendet und solcherart der Prüfungsumfang des herangezogenen Rechtsbehelfs verlassen worden ist.
Demgegenüber wurden in zwei Entscheidungen – gestützt auf ein unbegründetes obiter dictum in 17 Os 11/12i – auch Verstöße gegen Art 54 SDÜ als mögliche Grundlage eines Erneuerungsantrags angesehen (11 Os 73/13i, 14 Os 133/13k).
In einigen weiteren Entscheidungen wurden behauptete Verletzungen des SDÜ (14 Os 60/08t), des B-VG (15 Os 171/08y, 11 Os 142/10g und 15 Os 174/11v) und der GRC (14 Os 17/16f) inhaltlich geprüft, ein über die MRK und ihre Zusatzprotokolle hinausgehender Prüfungsmaßstab des § 363a Abs 1 StPO also konkludent bejaht.
Der zur Beseitigung der aufgezeigten Rechtsprechungsdivergenz befasste verstärkte Senat des Obersten Gerichtshofs (§ 8 Abs 1 Z 2 OGHG) hält ausdrücklich an der dargestellten Intention fest, den Anwendungsbereich des § 363a StPO – ausschließlich – dahin zu erweitern, dem Geist der MRK auch in jenen Fällen Rechnung zu tragen, in denen noch kein Urteil des EGMR gegen Österreich ergangen ist (vgl auch 14 Os 140/06d, 15 Os 134/06d).
Ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens kann daher auch im erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle gestellt werden.
Für die Annahme einer darüber hinausgehenden Prüfungsbefugnis des Obersten Gerichtshofs besteht (weiterhin) keine gesetzliche Grundlage (Art 18 Abs 1 B-VG). Die Berufung auf andere in Österreich garantierte (Grund- und Menschen-)Rechte legitimiert demnach – de lege lata – nicht zur Antragstellung.
Zu diesem Ergebnis gelangt der Oberste Gerichtshof aufgrund folgender Erwägungen:
Durch Auslegung im engeren Sinn kann ein gegenteiliges Ergebnis von vornherein nicht erzielt werden, weil sie ihre Grenze im möglichen Wortsinn findet (F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 467 f; Larenz, Methodenlehre und Rechtswissenschaft6 426).
Richterliche Rechtsfindung außerhalb des möglichen Wortsinns setzt eine Gesetzeslücke, also eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts, voraus (F. Bydlinski, Methodenlehre2 473, 500). Dabei liegt die Grenze für die Annahme einer Gesetzeslücke dort, wo diese Annahme nicht allein mit rechtlichen Erwägungen begründet werden kann und solcherart materiell eine politische Entscheidung voraussetzt. Sie zu treffen, ist mit Blick auf das verfassungsrechtliche Grundprinzip der Gewaltentrennung Sache des Gesetzgebers (vgl auch RIS-Justiz RS0008880 sowie Larenz, Methodenlehre6 427 f).
In den österreichischen Gesetzen (Art 18 Abs 1 B-VG) findet sich kein Anhaltspunkt für die Sicht, § 363a StPO wäre im Sinn einer Erweiterung des Prüfungsmaßstabs auf außerhalb der MRK und ihrer Zusatzprotokolle gelegene Grundrechte lückenhaft (siehe auch Reindl-Krauskopf, WK-StPO § 363a Rz 40; Kier in WK2 GRBG Vor §§ 1–13 Rz 8; Ratz, Der Oberste Gerichtshof in Österreich als Grundrechtsgericht, AnwBl 2013, 274 [275] bei FN 9; Reindl-Krauskopf, Strafverfolgung und Rechtsschutz, AIDP 2014, 30 [41 ff]; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 1; Salimi in WK2 StGB Vor §§ 62–67 Rz 31, welche die einen erweiterten Prüfungsmaßstab annehmenden Entscheidungen bloß referieren).
Die Feststellung einer Verletzung eines außerhalb dieser Konvention und der Protokolle dazu normierten Grundrechts in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht nämlich von vornherein außer Betracht (Art 19 und Art 34 MRK), sodass eine planwidrige Unvollständigkeit – wie sie in Ansehung von Fällen, in denen noch kein solches Urteil gegen Österreich ergangen ist, in denen aber auch der Oberste Gerichtshof bislang noch keine Gelegenheit hatte, den behaupteten Konventionsverstoß zu prüfen, unter dem Blickwinkel des Art 13 MRK bejaht wird (13 Os 135/06m) – insoweit nicht auszumachen ist. Im Schrifttum wird dazu vereinzelt vertreten, dass ein erweiterter Prüfungsmaßstab aus der Stellung des Obersten Gerichtshofs als nach der Bundesverfassung oberster Instanz in Strafrechtssachen (Art 92 Abs 1 B-VG) abgeleitet werden könnte (Rebisant, Prüfungsmaßstab des Erneuerungsantrags, JBl 2012, 397 [398]). Diese Bestimmung stellt aber keine Zuständigkeitsnorm, sondern eine Bestandsgarantie auf, die nicht erfordert, dass in allen Strafsachen ein Instanzenzug zum Obersten Gerichtshof offen stehen muss, sondern nur, dass verfahrensrechtliche Beschränkungen der Anrufungsmöglichkeit ihn nicht als Höchstgericht bedeutungslos werden lassen (Mayer/Muzak, B-VG5 Art 92 B-VG I.; Markel, WK-StPO § 34 Rz 1). Vielmehr trifft das B-VG für die ordentlichen Gerichte – anders als für die Gerichte des öffentlichen Rechts (Art 129 ff B-VG) – keine Kompetenzregelungen, sondern überlässt die Festlegung ihrer Zuständigkeit (im Hinblick darauf, dass der historische Verfassungsgesetzgeber eine gesetzlich verankerte ordentliche Gerichtsbarkeit bereits vorfand [vgl Mayer/Muzak, B-VG5 Art 10 B-VG I.6.], naheliegenderweise) dem – in der Regel einfachen – Bundesgesetzgeber (Art 83 Abs 1 B-VG; Mayer/Muzak, B-VG5 Art 83 B-VG I.; Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 Rz 760 f). Einfachgesetzliche Bestimmungen, die dem Obersten Gerichtshof eine solche Prüfungsbefugnis einräumen würden, geschweige denn (Art 34, 35 MRK vergleichbare) Bestimmungen über diesbezügliche Prozessvoraussetzungen, bestehen aber ebenso wenig (treffend zum Ganzen Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 11.115). Ganz abgesehen davon wäre mangels begründeter Richtlinien für die Annahme eines über die MRK und ihre Zusatzprotokolle hinausreichenden Prüfungsmaßstabs unklar, welche Rechte von der angesprochenen Erweiterung umfasst sein sollten (insofern zutreffend die Kritik von Khakzadeh-Leiler, ZfV 2014, 161).
Mit Blick auf den unionsrechtlichen Aspekt des Art 54 SDÜ und des Art 50 GRC vertritt ein Teil des Schrifttums die Ansicht, bei Durchführung von Unionsrecht (Art 51 Abs 1 GRC) würden die unionsrechtlichen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz den Obersten Gerichtshof dazu verpflichten, den Anwendungsbereich des § 363a StPO auf behauptete Verletzung von Unionsrecht zu erstrecken (Ratz in Pilgermair [Hrsg], Perspektiven der Justiz [2013], 155 [157 f], sowie jüngst in Kert/Lehner [Hrsg], FS Höpfel [2018], 229 [237 f]; vgl auch Lewisch in Lewisch/Nordmeyer [Hrsg], Liber Amicorum Eckart Ratz [2018], 57 [64 ff]). Eine solche Verpflichtung hat der vom Obersten Gerichtshof in diesem Verfahren mit Beschluss vom , GZ 13 Os 49/16d-39, um Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof der Europäischen Union verneint (, XC ua).
Dass sich aus dem Unionsrecht – umgekehrt – auch kein Verbot ergibt, den vom Wortlaut des § 363a Abs 1 StPO vorgegebenen Prüfungsmaßstab zu erweitern (vgl Zeder, JSt 2017, 500 [502]; Schumann, ÖJZ 2018, 850 [860 f]), ändert nichts am Fehlen einer diesbezüglichen (innerstaatlichen) Kompetenzgrundlage (Art 18 Abs 1 B-VG).
Die behaupteten Verletzungen von Art 50 GRC und von Art 54 SDÜ scheiden als Antragsgegenstand somit aus.
Der unsubstantiiert erhobene Einwand der Verletzung von Art 6 MRK sowie der eines Verstoßes gegen Art 4 des 7. ZPMRK ist schon mangels (horizontaler) Erschöpfung des Rechtswegs unbeachtlich (vgl RIS-Justiz RS0122737 [T13]).
Art 4 des 7. ZPMRK garantiert den Grundsatz „ne bis in idem“ in einem Staat, also nicht im Verhältnis mehrerer Staaten zueinander, und scheidet solcherart hier ebenfalls als Antragsgrundlage aus.
Hinzugefügt sei, dass das Vorbringen von Mag. Gerhard und Mag. (FH) Daniela G* mit Blick auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 11 Bs 39/13t (ON 20), und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom , AZ 11 Os 73/13i (ON 26), in Bezug auf den Strafanspruch der Schweizerischen Eidgenossenschaft (betreffend die Vorwürfe zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung) weder neue noch neu bekannt gewordene Tatsachen enthält.
In ein und derselben Sache steht dem Betroffenen aber nur ein Erneuerungsantrag zu (vgl RIS-Justiz RS0123231, RS0122736, RS0122737). Der Versuch der Genannten, statt der Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck vom nunmehr nachfolgende Entscheidungen im Verfahren mit Erneuerungsantrag zu bekämpfen, die sich inhaltlich ausschließlich mit der Zulässigkeit weiterer Vernehmungen im Zusammenhang mit dem Vorwurf beschränken, der bereits Gegenstand der Beschlussfassung durch das Beschwerdegericht am war, ist ohne Veränderung der Beurteilungsgrundlage unzulässig.
Bei Philipp Gs* kommt hinzu, dass mit der Bezugnahme auf nicht ihn, sondern Mag. Gerhard G*, Mag. (FH) Daniela G* und Ewald S* betreffende Verfahrenseinstellungen in Deutschland und im Fürstentum Liechtenstein der personenbezogene Grundsatz „ne bis in idem“ gar nicht angesprochen wird (RIS-Justiz RS0128393, RS0124359 [insbesondere T1]).
Letztlich kann von einer Identität des durch Verfahrenseinstellung erledigten Vorwurfs des Betrugs zum Nachteil von Kunden mit dem der (mit Urkundenfälschung verbundenen) Steuerhinterziehung zum Nachteil der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ON 68 S 7) auch sachbezogen keine Rede sein.
Die Behauptungen der Widerlegung des Tatverdachts durch parate Beweismittel der D* GmbH und des Bestehens eines „Vorsteuerabzugsrechts“ lassen keinen Bezug zu den Kriterien des § 363a StPO erkennen.
Die Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens waren somit zurückzuweisen.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Strafrecht |
Schlagworte | Strafrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2016:0130OS00049.16D.0906.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
BAAAE-11258