OGH vom 13.09.2017, 10ObS64/17k
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten UnivProf. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 31/16v27, womit das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom , GZ 8 Cgs 67/15y21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
I. Das mit Beschluss vom , AZ 10 ObS 147/16i, unterbrochene Revisionsverfahren wird von Amts wegen fortgesetzt.
II. Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,31 EUR (darin 101,55 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) hat mit Urteil vom , C133/15, Chavez-Vilchez ua, über die ihm vom Centrale Raad van Beroep (Niederlande) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art 20 AEUV, denen auch für das vorliegende Verfahren Bedeutung zukommt, entschieden. Das im Hinblick auf dieses Vorabentscheidungsersuchen unterbrochene Revisionsverfahren war daher mit Beschluss von Amts wegen fortzusetzen.
II. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob – neben den sonst unstrittig erfüllten – Anspruchsvoraussetzungen für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld auch jene eines rechtmäßigen Aufenthalts der Klägerin im Inland im Sinn der §§ 8 oder 9 des Niederlassungs und Aufenthaltsgesetzes (BGBl I 2005/100, NAG) für den Zeitraum bis gemäß § 2 Abs 1 Z 5 KBGG in der seit dem BGBl I 2014/35 geltenden Fassung (§ 50 Abs 11 KBGG) vorliegt.
Die Tochter der Klägerin wurde am in Thailand geboren. Die Klägerin ist thailändische Staatsbürgerin. Ihre Tochter und der Vater des Kindes, der Lebensgefährte der Klägerin, sind österreichische Staatsbürger.
Die Klägerin reiste am nach Österreich ein. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt über ein Visum D für den Zeitraum von bis .
Ab lebte die Klägerin gemeinsam mit ihrer Tochter und dem Vater des Kindes an zwei Adressen in Wien, an denen alle drei auch behördlich gemeldet waren. Der Vater des Kindes bezog von bis Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30 + 6 in Höhe von 14,53 EUR täglich.
Am beantragte die Klägerin die Erteilung eines Aufenthaltstitels beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Dieser Antrag wurde am an den Landeshauptmann von Wien zur Entscheidung abgetreten, da das Begehren der Klägerin unter § 47 Abs 3 Z 2 NAG zu subsumieren war. Am wurde der Klägerin ein Aufenthaltstitel „Angehöriger“ für den Zeitraum von bis erteilt.
Der Vater des Kindes war von bis als Angestellter beschäftigt, dies ab im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung. In weiterer Folge war er als Arbeiter im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung von bis beschäftigt. Der Versicherungsdatenauszug (Beil./7) weist folgende weitere Eintragungen auf: bis „Urlaubsabfindung/Urlaubsentschädigung“; bis „Urlaubsabfindung/Urlaubsentschädigung“; bis „Krankengeldbezug“. Während der beruflichen Tätigkeit ihres Lebensgefährten betreute die Klägerin das Kind.
Die Klägerin beantragte am Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30 + 6 für ihr Kind für den Zeitraum ab (bis ).
Mit Bescheid vom wies die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse diesen Antrag ab.
Mit ihrer fristgerecht gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß für den Zeitraum von bis . Sie habe sich seit rechtmäßig in Österreich aufgehalten und einen Erstantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung bereits am gestellt. Auch bis zur Entscheidung über diesen Antrag habe sich die Klägerin rechtmäßig in Österreich aufgehalten. Die tatsächlich erst am erfolgte– positive – Entscheidung über diesen Antrag wirke zurück. Da die Klägerin ihr Kind betreuen musste, habe sie auch ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gehabt.
Die Beklagte wandte ein, dass sich die Klägerin nach Ablauf der Gültigkeit ihres Einreisevisums D und bis zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung, daher im Zeitraum bis , nicht rechtmäßig in Österreich aufgehalten habe, sodass gemäß § 2 Abs 1 Z 5 KBGG kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bestehe. Der verbleibende Zeitraum bis zum begründe, weil er entgegen § 5 Abs 4 KBGG weniger als zwei Monate betrage, keinen Anspruch.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Klägerin habe im hier zu beurteilenden Zeitraum ihre 2jährige Tochter betreut, während der Vater des Kindes für den gemeinsamen Unterhalt gesorgt habe. Wäre der Klägerin der Aufenthalt in Österreich verweigert worden, hätte dies faktisch dazu geführt, dass ihre Tochter mit der Mutter das Unionsgebiet verlassen hätte müssen. Die Tochter der Klägerin wäre damit im Kernbestand ihres Rechts der Unionsbürgerschaft beeinträchtigt worden. Aus der Unionsbürgerschaft ihrer Tochter leite sich unionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht der Klägerin ab. Dieses bestehe aufgrund Art 20 AEUV ex lege und hänge nicht von einer Dokumentation im Sinn des § 9 NAG ab.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab.
Die Klägerin habe einen Erstantrag, nicht aber einen Verlängerungsantrag gemäß § 2 Abs 1 Z 11 NAG gestellt. Der der Klägerin aufgrund dieses Erstantrags erteilte Aufenthaltstitel wirke gemäß § 20 Abs 2 NAG erst ab dem Ausstellungsdatum und daher nur für die Zukunft.
Die Klägerin könne sich auch nicht auf ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen. Ein solches ließe sich nach der Rechtsprechung des EuGH nämlich nur begründen, wenn ihre Tochter de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet gemeinsam mit der Klägerin zu verlassen, falls der Klägerin keine Aufenthaltsberechtigung zukäme. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Vater der Tochter der Klägerin ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft habe und sich hier aufhalte. Dass es bloß aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft wünschenswert erscheinen könnte, dass die Tochter mit der drittstaatsangehörigen Mutter gemeinsam in der Union verbleibe, genüge nicht. Weder sei wesentlich, dass die Klägerin ihre Tochter betreue, noch, dass der Vater Leistungen zur Betreuung der Tochter „zukaufen“ oder seine eigene Erwerbstätigkeit einschränken müsste, um seine Tochter zu betreuen, womit eine wirtschaftliche Schlechterstellung von Vater und Tochter verbunden wäre.
Das Berufungsgericht ließ die Revision wegen des Fehlens höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den hier entscheidungswesentlichen Fragen zu.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Zuerkennung des von ihr begehrten Kinderbetreuungsgeldes anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
1.1 Auch in ihrer Revision hält die Klägerin an dem Argument fest, dass der ihr am zuerkannte Aufenthaltstitel rückwirkend gelte. Es könne nicht von der Willkür einer Behörde abhängen, ab welchem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht und damit ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bestehe. Dies trifft nicht zu.
1.2 Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld hat gemäß § 2 Abs 1 Z 5 KBGG unter anderem ein Elternteil, sofern er und das Kind sich nach §§ 8, 9 NAG rechtmäßig in Österreich aufhält. Die Klägerin fällt unstrittig unter keine der in § 2 Abs 1 Z 5 lit a bis c KBGG genannten Ausnahmegruppen. § 8 NAG zählt die Arten und Formen der Aufenthaltstitel auf. § 9 NAG regelt die Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. Dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, vom Erfordernis eines rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat abhängig gemacht wird, widerspricht nicht dem Unionsrecht (EuGH C308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich, Rn 68 mwH; kritisch Felten, DRdA 2017/9, 97 [100]).
1.3 Die Klägerin verfügte infolge des von ihr gestellten Erstantrags (§ 21 NAG) über einen befristeten Aufenthaltstitel als Angehörige im Sinn des § 8 Abs 1 NAG ab . Bereits nach dem Wortlaut des § 20 Abs 2 NAG beginnt die Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltstitels . Eine rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels ist nach dieser Bestimmung rechtlich nicht zulässig, wenn der Fremde bisher – wie die Klägerin – keinen anknüpfbaren ablaufenden Aufenthaltstitel im Sinn des § 8 NAG innehatte (Kind in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG § 20 Rz 29; vgl zur erstmaligen Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 44a NAG auch VwGH Zl 2010/01/0043; 2013/01/0108).
1.4 Für den gegenteiligen Standpunkt der Klägerin ist aus der von ihr zitierten Entscheidung 10 ObS 8/16y nichts zu gewinnen. Im damaligen Fall ging es nämlich nicht um einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, sondern um einen Verlängerungsantrag im Sinn des § 24 Abs 1 NAG. Die Verlängerung einer bereits zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis unterliegt günstigeren Voraussetzungen als die Neuerteilung (Kind, NAG § 24 Rz 1). Die Gültigkeitsdauer eines verlängerten Aufenthaltstitels beginnt nämlich gemäß § 20 Abs 2 NAG bereits mit dem auf den letzten Tag des letzten Aufenthaltstitels folgenden Tag. Sie wirkt daher nur insofern „in die Vergangenheit“, als die Verlängerung des Aufenthaltstitels auch für Zeiten nach der Antragstellung in Betracht kommt (Kind, NAG § 24 Rz 2). Damit übereinstimmend ordnet § 24 Abs 1 Satz 3 NAG an, dass der Antragsteller nach Stellung eines Verlängerungsantrags – unbeschadet der Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes – bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig ist. Im Fall eines Verlängerungsantrags wird dem Antragsteller daher bis zur Entscheidung über diesen Antrag dieselbe Rechtsposition eingeräumt, die er nach dem Inhalt des letzten Aufenthaltstitels innehatte (10 ObS 8/16y mH auf VwGH 2007/09/0002 ua).
1.5 Eine dem § 24 Abs 1 Satz 3 NAG vergleichbare Regelung fehlt für Fälle der Erstantragstellung. Dies steht im Einklang mit der Grundkonzeption des Gesetzgebers, wonach Erstanträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 21 Abs 1 NAG der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen sind. Zwar sieht § 21 Abs 2 NAG in den dort genannten Ausnahmefällen eine Erstantragstellung im Inland vor: Die bloße Antragstellung verschafft dem Fremden jedoch auch in diesen Fällen kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht in Österreich (VwGH Zl 2012/22/0206; Kind,´NAG § 21 Rz 14 und 19 mwH).
1.6 Zutreffend ist das Berufungsgericht daher zu dem Ergebnis gelangt, dass für den hier zu beurteilenden Zeitraum kein rechtmäßiger Aufenthalt der Klägerin gemäß § 8 NAG im Sinn des § 2 Abs 1 Z 5 KBGG vorliegt.
2. Die Klägerin beruft sich jedoch auch in der Revision auf ein von ihrer Tochter abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht. Dies ergebe sich auch aus dem unionsrechtlichen Recht auf Familienzusammenführung. Dem kommt im Ergebnis im konkreten Fall Berechtigung zu.
3.1 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) lässt sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen zusammenfassen:
3.2 Die Tochter der Klägerin kann sich als österreichische Staatsbürgerin gegenüber Österreich als Mitgliedstaat der Europäischen Union auf die mit ihrem Unionsbürgerstatus gemäß Art 20 AEUV verbundenen Rechte berufen (EuGH C434/09, McCarthy Rn 48 uva). Art 20 AEUV steht nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen entgegen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (EuGH C34/09, RuizZambrano, Rn 42; C356/11 und 357/11, O und S, Rn 45).
3.3 Die Klägerin kann sich hingegen als Drittstaatsangehörige nicht auf eigenständige Rechte aus den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft berufen. Sie kann etwaige Rechte nur aus der Unionsbürgerschaft ihrer Tochter ableiten: Zweck und Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit (Art 21 AEUV) beeinträchtigen könnten (EuGH C165/14, Rendón Marín, Rn 72, 73 ua).
3.4 Es gibt ganz besondere Sachverhalte, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, weil sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (EuGH C256/11, Dereci ua, Rn 66 und 67; C165/14, Rendón Marín, Rn 74 ua).
3.5 Von einem solchen Zwang ging der EuGH etwa in der Rechtssache C34/09, RuizZambrano, aus. Die Verweigerung der Aufenthalts und Arbeitserlaubnis für Herrn RuizZambrano in Belgien hätte zur Folge gehabt, dass seine minderjährigen Kinder, denen er Unterhalt gewährte, gezwungen gewesen wären, das Land zu verlassen. Die Mutter der Kinder war ebenfalls Drittstaatsangehörige (vgl auch EuGH C86/12, Alokpa).
In der Rechtssache C165/14, Rendón Marín, übte der drittstaatsangehörige Vater zweier Kinder mit Staatsbürgerschaften von Unionsmitgliedstaaten die rechtliche und tatsächliche Obsorge über die in Spanien wohnhaften Kinder aus. Der Wohnsitz der Mutter, einer polnischen Staatsangehörigen, war unbekannt. Herr Rendón Marín war jedoch in Spanien vorbestraft. Der Gerichtshof sprach in diesem Zusammenhang ua aus, dass das Vorliegen von Vorstrafen allein noch nicht automatisch die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis rechtfertige. Dazu seien die Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht zu prüfen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Wohl des Kindes (Art 24 Abs 2 GRC) und die Grundrechte (Achtung des Privat und Familienlebens, Art 7 Abs 2 GRC) zu beachten seien (C165/14 Rn 81 ff).
3.6 In der Rechtssache C256/11, Dereci ua, hielt der EuGH hingegen fest, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Unionsbürger aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich drittstaatsangehörige Familienangehörige mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (ebenso EuGH C87/12, Ymeraga, Rn 38 und 39). Die minderjährigen Kinder von Herrn Dereci waren für ihren Lebensunterhalt nicht auf Herrn Dereci angewiesen; ihre Mutter war ebenfalls österreichische Staatsbürgerin. Einen vergleichbaren Zwang für die Kinder mit Unionsbürgerschaft verneinte der Gerichtshof auch in einem Fall, in dem es dem drittstaatsangehörigen Familienmitglied möglich war, aus eigenem ein nationales Aufenthaltsrecht zu erlangen (EuGH C40/11, Iida, Rn 76). Tatsächlich übten die Tochter von Herrn Iida und ihre Mutter – wie die Tochter deutsche Staatsbürgerin – ihr Freizügigkeitsrecht durch einen Umzug nach Österreich aus.
4.4 In den Rechtssachen C356/11 und C357/11, O und S hatte der Gerichtshof Fälle zu beurteilen, in denen es um das (abgeleitete) Aufenthaltsrecht von Stiefvätern von Unionsbürgern ging. Der Gerichtshof betonte die Wichtigkeit des Kriteriums der rechtlichen, finanziellen oder affektiven Sorge für die Kinder, die in den damaligen Fällen nicht von den Stiefvätern, sondern von deren Müttern ausgeübt wurde, die auch über unbefristete Aufenthaltstitel verfügten. Der EuGH bezweifelte daher eine ein abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht der Stiefväter begründende Zwangslage der Kinder (C356/11, 357/11 Rn 50, 51, 56, 57). Der Gerichtshof hielt jedoch fest, dass die abschließende Beurteilung dem nationalen Gericht vorbehalten bleibe. Dieses habe dabei alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen, um eine die Unionsbürgerschaft der Kinder maßgeblich einschränkende Zwangslage im dargestellten Sinn beurteilen zu können (C356/11, 357/11 Rn 49, 53).
5. In Österreich sprach der Verwaltungsgerichtshof unter Berufung insbesondere auf die Entscheidung des EuGH C256/11, Dereci ua, aus, dass die Kinder einer Beschwerdeführerin auch bei Versagung einer Aufenthaltsberechtigung für sie nicht gezwungen seien, das Bundesgebiet zu verlassen, weil der Vater der Kinder österreichischer Staatsbürger sei (VwGH Zl 2012/09/0003).
6. In der Literatur wird zusammengefasst vor allem kritisiert, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft nur knapp begründet und präzisierungsbedürftig sei (Hailbronner/Thiem, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, 2008 [2009], die von einer richterrechtlichen Erfindung des „Kernbereichsarguments“ sprechen; Feik, Das (neue) Aufenthaltsrecht der Eltern von (minderjährigen) Unionsbürgern, FABL 1/2011II, 5; Doblhoff-Dier, Von der Unionsbürger_innenschaft und ihrem winzigen Kernbestand, juridikum 2012, 145; Heinze/Bärnreuther, Zur primärrechtlichen Herleitung eines derivativen Aufenthaltsrechts drittstaatsangehöriger Familienmitglieder, ZfRV 2014, 244; Almhofer, Zum Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger zwei Jahre post Zambrano, NVwZ 2013, 1134). Es werde damit letztlich den nationalen Gerichten aufgetragen, die jeweiligen Sachverhalte auf etwaige (unzulässige) Beeinträchtigungen der Grundrechte, insbesondere jenes auf Achtung des Privat und Familienlebens (Art 7 Abs 2 GRC) zu prüfen (Rihs, Unionsbürgerschaft; Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind; Assoziierungsabkommen EWGTürkei [Stillhalteklauseln], migraLex 2012, 30 [32]). Frenz kritisiert – insbesondere mit Bezug auf die Rechtssache C434/09, McCarthy –, dass der EuGH den Schutzbereich des Freizügigkeitsrechts aus Art 21 AEUV auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt (Reichweite des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach den Urteilen Zambrano und McCarthy, ZAR 2011, 221).
7.1 In der jüngst ergangenen Entscheidung C133/15, Chavez Vilchez ua, hatte sich der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) mit den Anträgen von drittstaatsangehörigen Müttern von minderjährigen Kindern, die niederländische Staatsangehörige sind, und für die sie die tägliche und elterliche Sorge wahrnehmen, auf Zuerkennung von Sozialhilfe und Kindergeld nach niederländischem Recht auseinanderzusetzen. In allen Fällen hatten die Kinder mit niederländischer Staatsangehörigkeit einen Vater, der ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Alle Kinder sind von ihren Vätern anerkannt worden, leben aber hauptsächlich bei ihren drittstaatsangehörigen Müttern.
7.2 Der Gerichtshof entwickelte seine oben dargestellte Rechtsprechung weiter und setzte sich insbesondere mit dem Umstand auseinander, dass in den ihm vorgelegten Sachverhalten die Väter der Kinder über eine Unionsbürgerschaft verfügten und die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für die Kinder zumindest wahrnehmen konnten bzw teilweise auch (mehr oder weniger vollständig) wahrnahmen (zB im Fall der Antragstellerin Enowassam, C133/15 Rn 27).
7.3 In Wiedergabe seiner bisherigen Rechtsprechung führt der Gerichtshof aus, dass (in einem ersten Schritt) durch das nationale Gericht zu prüfen sei, ob die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen das Unionsgebiet wegen Verweigerung des Aufenthalts verlassen müssten und ob die Kinder gezwungen sein könnten, ihre Mutter zu begleiten und damit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen (C133/15 Rn 65). In diesem Zusammenhang sei in jedem der fraglichen Fälle zu ermitteln, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind durch den Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ausgeübt wird, und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Dabei seien die Grundrechte der Achtung des Familienlebens (Art 7 GRC) und des Kindeswohls (Art 24 Abs 2 GRC) zu beachten (C133/15 Rn 68 und 70).
7.4 Der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet für diese Beurteilung zwar einen Gesichtspunkt von Bedeutung. Dieser Gesichtspunkt allein genügt jedoch nicht für die Feststellung des dargestellten Abhängigkeitsverhältnisses des Kindes zum drittstaatsangehörigen Elternteil (C133/15 Rn 71). Dazu sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zu prüfen, wie insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit, sowie das Risiko, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (C133/15 Rn 71).
7.5 Es obliegt dem Drittstaatsangehörigen, die Informationen beizubringen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Art 20 AEUV erfüllt sind. Die nationalen Behörden haben jedoch darauf zu achten, dass die praktische Wirksamkeit von Art 20 AEUV nicht beeinträchtigt wird (C133/15 Rn 75, 76). Die Anwendung einer nationalen Beweislastregelung entbindet die Behörden des Mitgliedstaats daher nicht davon, auf Grundlage der vom Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um beurteilen zu können, ob ein Kind bei Verweigerung des Aufenthaltsrechts für das drittstaatsangehörige Familienmitglied de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen (C133/15 Rn 77).
8. In einer Besprechung der Entscheidung des EuGH C133/15, Chavez Vilchez ua, betont M.Zimmermann (Aufenthaltsrecht eines sorgeberechtigten Drittstaatsangehörigen für minderjährigen Unionsbürger, NZFam 2017, 565 [572]) die Bedeutung der Unionsbürgerschaft als grundlegender Status der Bürger in der Europäischen Union. Eine unionsrechtswidrige Beeinträchtigung des Bürgerstatuts könne auch dadurch ausgeübt werden, dass dritten Personen der Aufenthalt verweigert werde, auf deren Anwesenheit im Unionsgebiet der Unionsbürger – insbesondere im Verhältnis zwischen Eltern und Kind – besonders angewiesen sei.
9.1 Es ist nach der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union daher Sache des nationalen Gerichts, die Voraussetzungen für das Vorliegen eines unionsrechtlich abgeleiteten Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen in einem Fall wie dem vorliegenden zu prüfen.
Ausgehend von der Entscheidung des EuGH C133/15, Chavez Vilchez ua, kann die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrer Tochter im hier dargestellten Sinn schon deshalb verneint werden kann, weil der Vater österreichischer Staatsbürger sei, im konkreten Fall nicht geteilt werden.
9.2 Entgegen der von der Beklagten in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht war die Klägerin sehr wohl gezwungen, nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des ihr erteilten Einreisevisums D das Bundesgebiet zu verlassen; darauf, ob die Gefahr einer Ausweisung der Klägerin aus Österreich tatsächlich bestand, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Vielmehr wurde bereits ausgeführt, dass auch die Berechtigung, einen Erstantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung im Inland zu stellen, kein über den erlaubten (hier:) visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht schafft (§§ 21 Abs 6, 11 Abs 1 Z 5 NAG). Nach Ablauf des erlaubten visumpflichtigen Aufenthalts ist daher die Ausreise erforderlich und das Verfahren im Ausland abzuwarten (VwGH Zl 2012/22/0206; Zl 2007/18/0015). Die Klägerin wäre daher mit Ablauf des zur Ausreise verpflichtet gewesen.
9.3 Nach den Feststellungen betreute die Klägerin ihre Tochter im hier zu beurteilenden Zeitraum, während dessen der Vater des Kindes weit überwiegend vollzeitbeschäftigt war, tatsächlich und täglich und übte insofern die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs maßgebliche tatsächliche Sorge („rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge“) für die Tochter aus.
9.4 Der Umstand, dass der Vater der Tochter nach den Feststellungen in der Lage und bereit war, die finanzielle Sorge für die Tochter zu tragen, bildet wie ausgeführt lediglich einen Gesichtspunkt von Bedeutung, der aber für sich allein noch nicht die Verneinung eines Abhängigkeitsverhältnisses der Tochter zur Klägerin im dargestellten Sinn rechtfertigen kann (C-133/15 Rn 71). Dazu sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls (Art 24 Abs 2 GRC, C-133/15 Rn 70, 71) zu berücksichtigen.
9.5 Im hier eröffneten Anwendungsbereich des Unionsrechts ist zu beachten, dass das unionsrechtliche Grundrecht des Kindeswohls gemäß Art 24 Abs 2 GRC bei allen das Kind betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen immer eine vorrangige Erwägung sein muss. Maßnahmen betreffen dann die Kinder, wenn sie ihrer Natur nach allein oder im Wesentlichen bei Kindern zur Anwendung kommen (Lemke in von derGroeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht7 Art 24 GRC Rn 7). Träger des Grundrechts gemäß Art 24 Abs 2 GRC ist das Kind, hier also die Tochter der Klägerin (Fuchs in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 24 Rz 13). Die Mitgliedstaaten haben die Erfordernisse des Schutzes der in der Unionsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze, zu denen auch die Grundrechte zählen, bei der Durchführung unionsrechtlicher Regelungen zu beachten; sie müssen diese Regelungen deshalb, soweit irgend möglich, so anwenden, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden (EuGH C-540/03, Parlament/Rat, Rn 105 mwH).
9.6 Zutreffend hat das Erstgericht hervorgehoben, dass die Tochter der Klägerin im hier zu beurteilenden Zeitraum erst zwei Jahre alt war, und dass der Vater wegen seiner Vollzeitbeschäftigung – auch unter Berücksichtigung der kurzen Unterbrechungen der Arbeitstätigkeit – nicht in der Lage war, das Kind täglich und tatsächlich zu betreuen. Unter Beachtung des gemäß Art 24 Abs 2 GRC grundrechtlich gesicherten Kindeswohls ist daher nach den hier getroffenen Feststellungen mit dem Erstgericht – einzelfallbezogen – davon auszugehen, dass die Tochter der Klägerin im hier zu beurteilenden Zeitraum als (damals noch) Kleinkind besonders auf den Verbleib der sie tatsächlich betreuenden Klägerin im Unionsgebiet angewiesen war, und daher bei der für die Klägerin erforderlichen Ausreise aus dem Unionsgebiet de facto (also: tatsächlich) gezwungen gewesen wäre, sie zu begleiten. Gerade bei einem Kleinkind steht die grundsätzliche Möglichkeit der „Auslagerung“ der Betreuung während der gesamten Vollzeitarbeitsfähigkeit des Elternteils regelmäßig das Kindeswohl entgegen.
10. Vor diesem Hintergrund ist im konkreten Fall zur Wahrung der aus Art 20 AEUV resultierenden Rechte aus der Unionsbürgerschaft der Tochter der Klägerin für den hier zu beurteilenden Zeitraum bis ein daraus unionsrechtlich abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin zu bejahen. Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass sich das Aufenthaltsrecht gemäß § 9 NAG aus dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht ergibt und einer diesbezüglichen Dokumentation lediglich deklaratorische Wirkung zukommt, ist zutreffend (vgl nur VwGH Zl Ra 2015/09/0137 mwH).
Der Revision war daher Folge zu geben und das klagestattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Der Kostenersatz für die ERVFolgeeingabe im Revisionsverfahren beträgt nur 2,10 EUR.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00064.17K.0913.000 |
Schlagworte: | 1 Generalabonnement,12 Sozialrechtssachen,23 Entscheidungen zum Europarecht |
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