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OGH vom 07.06.2021, 13Os48/21i

OGH vom 07.06.2021, 13Os48/21i

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz-Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Pauritsch in der Strafsache gegen Chandra A***** wegen Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom , GZ 608 Hv 1/21s-87, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden der Wahrspruch der Geschworenen und das darauf beruhende Urteil aufgehoben und es wird die Sache an das Geschworenengericht des Landesgerichts für Strafsachen Wien zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung verwiesen.

Mit ihrer Berufung wird die Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Chandra A***** aufgrund des Wahrspruchs der Geschworenen mehrerer Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie am in W***** ihre Kinder Annika, Anamika und Aditya A***** vorsätzlich getötet, indem sie diese mit einem Kopfkissen erstickte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen aus Z 4 und 6 des § 345 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten ist im Recht.

[4] Nach der Aktenlage hat die Obfrau der Geschworenen im Anschluss an die Beratung nach Wiedereröffnung der Sitzung nicht die an die Geschworenen gerichteten Fragen, sondern bloß deren nummerische Bezeichnung verlesen (ON 86 S 27).

[5] Die Verfahrensrüge (Z 4) zeigt zutreffend auf, dass durch dieses Vorgehen § 340 Abs 2 StPO und solcherart eine Bestimmung verletzt worden ist, deren Einhaltung das Gesetz bei sonstiger Nichtigkeit anordnet.

[6] Soweit die Generalprokuratur in ihrer Stellungnahme (§ 24 StPO) unter Hinweis auf den Rechtssatz RIS-Justiz RS0121890 dafür eintritt, der aufgezeigten Nichtigkeit die Möglichkeit abzusprechen, zum Nachteil der Angeklagten zu wirken (§ 345 Abs 3 StPO), ist grundlegend festzuhalten, dass eine Abwägung im Sinn des § 345 Abs 3 StPO nach Wortlaut wie Ratio dieser Bestimmung stets einzelfallbezogen zu erfolgen hat. Demzufolge darf der angesprochene Rechtssatz nicht im Sinn einer allgemein gültigen Regel, sondern bloß als Ergebnis einer solchen Einzelfallbetrachtung gesehen werden (siehe insbesondere 11 Os 95/20k, RZ 2021/2, 27; RIS-Justiz RS0121890 [T2]).

[7] Zutreffend weist die Generalprokuratur darauf hin, dass § 340 Abs 2 StPO primär dazu dient, die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit (§ 12 Abs 1 StPO, Art 6 Abs 1 MRK) sicherzustellen (vgl Danek/Mann, WKStPO § 228 Rz 4 sowie Lässig, WKStPO § 310 Rz 9). Der Ansatz, schon die (hier erfolgte [ON 86 S 26]) Verlesung der an die Geschworenen zu richtenden Fragen durch den Vorsitzenden (§ 310 Abs 1 zweiter Satz StPO) genüge diesem Erfordernis „angesichts der Einfachheit des Fragenschemas und Bejahung aller Fragen“, übersieht, dass sowohl eine Verletzung des § 310 Abs 1 dritter Satz StPO als auch eine solche des § 340 Abs 2 StPO vom Gesetz ausdrücklich mit Nichtigkeit bedroht ist. Hieraus folgt aber, dass die Einhaltung einer dieser Normen nicht geeignet sein kann, die Verletzung der anderen auszugleichen. Vielmehr dienen beide Bestimmungen in Kombination dazu, den gesamten Entscheidungsvorgang von der Fragestellung an die Geschworenen bis zu deren Wahrspruch im Rahmen der Öffentlichkeit transparent und kontrollierbar zu gestalten (vgl auch Ratz, ÖJZ 2021, 103 [Entscheidungsanmerkung]). Anders ausgedrückt: Gerade die Verlesung der an die Geschworenen zu richtenden Fragen (§ 310 Abs 1 dritter Satz StPO) der von den Geschworenen beantworteten Fragen (§ 340 Abs 2 StPO) versetzt die Öffentlichkeit überhaupt erst in die Lage, ihrer diesbezüglichen Kontrollfunktion nachzukommen.

[8] Die in der Literatur geäußerte Ansicht, das Unterlassen der Verlesung der an die Geschworenen gerichteten Fragen durch deren (hier) Obfrau könne deswegen nicht zum Nachteil (hier) der Angeklagten wirken, weil die Abstimmung der Geschworenen schon vor der Verkündung des Wahrspruchs erfolgt sei (Danek, RZ 2021, 28 [Entscheidungsanmerkung]), interpretiert § 340 Abs 2 StPO sinnentleerend, weil die Abstimmung der Geschworenen – zwingend – stets vor der Verkündung des Ergebnisses dieser Abstimmung erfolgen muss.

[9] Da § 340 Abs 2 StPO per se weder die Anklage noch den Angeklagten schützt, sondern (wie dargelegt) die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, ist auch die Regelung des § 345 Abs 3 StPO aus dem Blickwinkel dieses Schutzzwecks zu betrachten, weil andernfalls die Nichtigkeitssanktion durch deren Relativität ad absurdum geführt würde (vgl Ratz, WKStPO § 281 Rz 739).

[10] Der Oberste Gerichtshof misst jenen Bestimmungen der StPO, die der Effektuierung des Grundsatzes der Öffentlichkeit dienen, in ständiger Judikatur besondere Bedeutung zu (vgl 13 Os 102/11s, EvBl 2012/91, 614; RISJustiz RS0117048 [insbesondere T 2]). Im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 Abs 1 MRK (dazu Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Meyer-Ladewig et al, EMRK4 Art 6 Rz 186) versteht er – in ebenso seit Jahren unveränderter, ständiger Judikatur – auch die Anordnung des § 229 Abs 4 StPO, das Urteil öffentlich zu verkünden, dahin, dass deren Verletzung als Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung zu sehen ist und solcherart Urteilsnichtigkeit nach § 228 Abs 1 StPO zur Folge hat (14 Os 55/10k, EvBlLS 2010/121, 733; RISJustiz RS0098132 [T4]). Sinn und Zweck des Grundsatzes der Öffentlichkeit liegt in der Kontrollfunktion der Allgemeinheit gegenüber der Gerichtsbarkeit. Die Justiz soll sich der öffentlichen Kritik und Kontrolle stellen, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafrechtspflege zu stärken (Danek/Mann, WKStPO § 228 Rz 4 mwN). Wie dargelegt dient auch § 340 Abs 2 StPO der Gewährleistung dieser Kontrollfunktion (siehe erneut 11 Os 95/20k, RZ 2021/2, 27). Unter dem – aus dem Blickwinkel des § 345 Abs 3 StPO hier relevanten – Aspekt des Schutzzwecks der angesprochenen Norm ist aber (insbesondere auch nach Maßgabe der dargestellten ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu Verletzungen des § 229 Abs 4 StPO) kein Grund dafür ersichtlich, der Angeklagten die Möglichkeit, den zutreffend herangezogenen Nichtigkeitsgrund geltend zu machen, mit Blick auf dessen Relativität abzusprechen.

[11] Der Wahrspruch der Geschworenen und das darauf beruhende Urteil waren daher in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 285e StPO iVm § 344 StPO schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort aufzuheben.

[12] Hierauf war die Angeklagte mit ihrer Berufung zu verweisen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2021:0130OS00048.21I.0607.000

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