VfGH vom 23.11.2012, b136/12
Sammlungsnummer
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Leitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Herabsetzung der Versehrtenrente nach dem Wiener Unfallfürsorgegesetz 1967 infolge einer Änderung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
II. Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt
1. Die Beschwerdeführerin, die sich seit als Krankenschwester in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zur Stadt Wien befunden hatte, wurde mit in den Ruhestand versetzt. Im Jahr 1998 hatte die Beschwerdeführerin einen Dienstunfall erlitten, bei dem sie von einem Patienten attackiert worden ist. Mit Berufungsbescheid des Dienstrechtssenates der Stadt Wien vom wurde der Beschwerdeführerin aufgrund dieses Dienstunfalles ab Mai 1998 eine Versehrtenrente nach dem Wiener Unfallfürsorgegesetz 1967 (UFG 1967) zuerkannt, und zwar im Zeitraum Mai und Juni 1998 auf der Basis einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100%, für den Zeitraum Juni 1998 bis August 1998 auf der Basis einer Minderung von 60%, für September 1998 bis Februar 2000 auf der Basis einer Minderung von 40% und seit März 2000 auf der Basis einer Minderung von 30%. Anlässlich eines weiteren - die Beschwerdeführerin psychisch belastenden - Zwischenfalles wurde die Versehrtenrente mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom entsprechend einer 40%igen Minderung der Erwerbsfähigkeit erhöht.
2. In der Folge gab die betreffende Magistratsabteilung im Jahr 2010 erneut ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten in Auftrag, welches am erstellt wurde und zu dem Ergebnis kam, dass das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei der Beschwerdeführerin nunmehr mit 30% anzunehmen sei. Daraufhin legte die Beschwerdeführerin am neben einem von ihr selbst eingeholten ärztlichen Befundbericht auch ein Gutachten einer allgemein gerichtlich beeideten Sachverständigen für Berufskunde vor, aus dem hervorgeht, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% bestehe. Mit dem - im Instanzenzug ergangenen - Bescheid des Dienstrechtssenates der Stadt Wien vom wurde schließlich ausgesprochen, dass die Versehrtenrente nunmehr ausgehend von einer 30%igen Minderung der Erwerbsfähigkeit auf einen näher genannten Betrag herabzusetzen sei. Die belangte Behörde stützte sich - nach umfangreicher Darstellung des Verwaltungsgeschehens - auf das von ihr eingeholte Gutachten des Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie und lehnte eine Bedachtnahme auf das von der Beschwerdeführerin vorgelegte berufskundliche Gutachten bzw. die Einholung eines solchen Gutachtens ab. Sie begründete dies im Wesentlichen wie folgt:
"Die Bestimmung des § 7 UFG 1967 ist inhaltlich mit § 101 des Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes - BKUVG bzw. § 203 ASVG ident. In beiden Regelungsbereichen ist genauso wie auch in dem im Berufungsfall anzuwendenden UFG 1967 keine nähere Umschreibung des Begriffes der Erwerbsfähigkeit und der Einschätzung der Einbuße an Erwerbsfähigkeit erfolgt. Im Hinblick auf die inhaltliche Identität der Rechtslage kann auch bei Anwendung des UFG 1967 auf die reichhaltige Rechtsprechung zum ASVG zurückgegriffen werden (vgl. Zl. 2010/09/0223). Demnach ist die Erwerbsfähigkeit eines Menschen im Sinne des § 203 ASVG und § 7 UFG 1967 seine Fähigkeit, unter Ausnützung der Arbeitsgelegenheiten, die sich nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf dem ganzen Gebiet des Erwerbsleben[s] bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist abstrakt zu prüfen, d.h. unabhängig von dem von der oder dem Versehrten ausgeübten Beruf (vgl. auch Erkenntnis des Zl. 89/12/0245).
Bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind vor allem zwei Faktoren von Bedeutung: Der medizinisch festzustellende Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Folgen des Versicherungsfalls einerseits und der Umfang der der oder dem Verletzten (Erkrankten) dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens andererseits (vgl. ).
[...]
Die sogenannte medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit bildet im Allgemeinen auch die Grundlage für deren rechtliche Einschätzung, wenn Abweichungen hievon nicht unter besonderen Umständen geboten sind. Ein Abweichen kommt aber nur bei Vorliegen eines Härtefalls in Betracht. Ein Härtefall, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, liegt nach ständiger Rechtsprechung nur dann vor, wenn den Versicherten infolge der unfallbedingten Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen ist. Da die Unfallversicherung keine Berufsversicherung darstellt, kann nach ständiger Rechtsprechung die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, für sich allein noch keinen Härtefall darstellen (). Auch in seinem Urteil vom , 10 ObS 177/95, hat der OGH festgehalten, dass in der Unfallversicherung das Risiko der Minderung der Erwerbsfähigkeit versichert wird. Dafür sind aber u. a. die bisherige Berufstätigkeit und die Höhe des dadurch erzielten Einkommens wegen der abstrakten Bewertung - abgesehen von besonderen Härtefällen - ohne Bedeutung.
In seinen Urteilen vom , 10 ObS 312/88, vom , 10 ObS 13/95, und vom , 10 ObS 120/01x, hat der OGH ausdrücklich festgehalten, dass die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens zur Frage der Auswirkungen der Unfallverletzung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erforderlich ist. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Erkenntnis des Zl. 98/08/0002, zu verweisen, worin dieser ausdrücklich ausgesprochen hat: 'Die belangte Behörde hätte daher ausgehend von den Unfallsfolgen und deren Auswirkungen den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit der Mitbeteiligten im Zeitraum vom frühest möglichen Leistungsbeginn (§204 ASVG) bis zum durch ein ärztliches Gutachten ermitteln müssen.'
Zu den von der Berufungswerberin zitierten
Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 98/11/0322, vom , Zl. 93/12/0175, und vom , Zl. 93/12/0144, aus welchen sie ableitet, dass zur Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nur eine berufskundige Sachverständige oder ein solcher Sachverständiger berufen sei, ist festzuhalten, dass diese nicht die Frage behandeln, welche oder welcher Sachverständige zur Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Unfallsfürsorgeverfahren berufen ist."
Ferner setzt sich die belangte Behörde u.a. mit Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes auseinander, auf die sich die Beschwerdeführerin zum Beweis der Erforderlichkeit eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens berufen hatte und legt dar, dass die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes andere Rechtsfragen zum Gegenstand gehabt hätten, und zwar die Frage der Arbeitsfähigkeit eines begünstigten Behinderten und jene des zumutbaren Erwerbs nach Ruhestandsversetzung wegen Dienstunfähigkeit.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Beschwerdeführerin eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
II. Rechtslage
§9 des Gesetzes vom über die Unfallfürsorge für die Beamten der Bundeshauptstadt Wien, ihre Hinterbliebenen und Angehörigen (Unfallfürsorgegesetz 1967 - UFG 1967), LGBl. für Wien 8/1969 idF LGBl. für Wien 50/2002, lautet wie folgt:
"Erhöhung, Herabsetzung und Entziehung der Grundrente
§9. (1) Bei Änderung des Grades der durch den Dienstunfall oder die Berufskrankheit verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist die Grundrente auf Antrag oder von Amts wegen zu erhöhen, herabzusetzen oder zu entziehen.
(2) Nach Ablauf von zwei Jahren ab dem Anfall der Grundrente darf diese von Amts wegen immer nur in Zeiträumen von mindestens einem Jahr nach der letzten Feststellung neu festgestellt werden. Diese Frist gilt nicht, wenn in der Zwischenzeit die durch den Dienstunfall oder die Berufskrankheit unter Bedachtnahme auf § 7 Abs 2 verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit durch eine Heilbehandlung im Anspruch begründenden Ausmaß weggefallen ist.
(3) Die Erhöhung der Grundrente auf Antrag ist von dem der Einbringung folgenden Monat an zu verfügen, wird der Antrag an einem Monatsersten gestellt, von diesem an. Die Berufung gegen den Bescheid, mit dem die Grundrente herabgesetzt oder entzogen wird, hat aufschiebende Wirkung.
(4) Wird einem Versehrten wegen der Folgen eines Dienstunfalles oder wegen einer Berufskrankheit Anstaltspflege gewährt, so darf die Grundrente, die auf Grund dieses Dienstunfalles oder dieser Berufskrankheit gebührt, für die Zeit der Anstaltspflege nicht erhöht, herabgesetzt oder entzogen werden."
III. Erwägungen
1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die -
zulässige - Beschwerde erwogen:
2. In der Beschwerde wird die Vollständigkeit und Richtigkeit des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens, auf welches sich der angefochtene Bescheid stützt - wie ausdrücklich vorgebracht wird - nicht in Zweifel gezogen. Die Beschwerde lässt vielmehr erkennen, dass sich die Beschwerdeführerin im Wesentlichen dadurch in ihren Rechten verletzt sieht, dass die belangte Behörde weder das von ihr vorgelegte berufskundliche Sachverständigengutachten für die Entscheidung herangezogen noch ein berufskundliches Gutachten eingeholt hat. Darin wird eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz erblickt. Dem medizinischen Sachverständigen stehe es - anders als dem berufskundlichen Sachverständigen - nicht zu, die Minderung der Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen. Demgemäß hätte sich die belangte Behörde hinsichtlich der Frage, inwieweit die Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt vermindert sei, ausschließlich am Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen zu orientieren gehabt und folglich von einer Kürzung der Versehrtenrente Abstand nehmen müssen.
3. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.
Es besteht kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Bescheid auf einer rechtswidrigen generellen Norm beruht; auch die Beschwerde trägt dazu nichts vor.
4. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB
VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).
Aber auch insoweit kann der belangten Behörde kein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorgeworfen werden:
4.1. Die belangte Behörde hat vielmehr in überaus sorgfältiger und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin eingehender Begründung des angefochtenen Bescheides aufgrund der Parallelität der Rechtsvorschriften des UFG 1967 mit den §§175 ff. ASVG bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne der früheren - langjährigen - Rechtsprechung des VwGH jene Grundsätze herangezogen, die der OGH zum Recht der gesetzlichen Unfallversicherung in ebenfalls langjähriger Rechtsprechung herausgearbeitet hat. Danach ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht bezogen auf einen bestimmten Beruf, sondern abstrakt vor dem Hintergrund des gesamten Arbeitsmarktes zu prüfen, wobei die medizinische Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Beurteilung darstellt, wenn nicht aus besonderen Gründen Abweichungen hievon geboten sind.
4.2. Die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf nicht mehr ausüben zu können, ist für sich noch kein solcher Härtefall. Insoweit genügt es, auf die in der oben auszugsweise wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Bescheides zitierte Rechtsprechung zu verweisen.
5. Das Beschwerdeverfahren hat auch nicht ergeben, dass die Beschwerdeführerin in einem von ihr nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden wäre. Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art 133 Z 4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10.659/1985, 12.915/1991, 14.408/1996, 16.570/2002 und 16.795/2003).
IV. Ergebnis
1. Die Verletzung verfassungsgesetzlich
gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.
Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
2. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof war unzulässig, weil die Überprüfung des Bescheides des Dienstrechtssenates der Stadt Wien - mit Ausnahme der in § 74a Abs 3 des Gesetzes über das Dienstrecht der Beamten der Bundeshauptstadt Wien (Dienstordnung 1994 - DO 1994), LGBl. 56/1994, genannten, hier aber nicht vorliegenden Angelegenheiten - gemäß Art 133 Z 4 B-VG von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.