VfGH vom 10.06.2010, B897/09

VfGH vom 10.06.2010, B897/09

19078

Leitsatz

Keine Verletzung der Vereinsfreiheit durch behördliche Auflösung eines Vereins wegen bewilligungslosen Betriebs eines Pflegeheims

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Der Antrag, die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten, wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der nach dem Vereinsgesetz 2002, BGBl. 66 (im Folgenden:

VerG), gebildete Verein "Gelebte Menschlichkeit", mit dem Sitz in Würmla, Entstehungsdatum laut Eintrag im Zentralen Vereinsregister , wurde mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Tulln vom gemäß § 29 Abs 1 VerG behördlich aufgelöst.

Die Sicherheitsdirektion Niederösterreich hat der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung mit Bescheid vom keine Folge gegeben und den angefochtenen Bescheid bestätigt.

Die belangte Behörde begründet die Auflösung des Vereins im Wesentlichen wie folgt:

"Für die Berufungsbehörde steht aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Unabhängigen Verwaltungssenats für das Bundesland Niederösterreich fest, dass der Verein 'Gelebte Menschlichkeit' zumindest an den angeführten Tagen ein Pflegeheim betrieben hat, ohne das[s] eine entsprechende Bewilligung gemäß § 50 NÖ Sozialhilfegesetz 2000 vorgelegen wäre.

Der VwGH hat eine entsprechende Beschwerde gegen diesen Bescheid als unbegründet abgewiesen.

In diesem Erkenntnis stellte der VwGH fest, dass die belangte Behörde auf dem Boden ihrer Sachverhaltsannahmen zu Recht zur Auffassung gelangt ist, dass vom Verein ein 'stationärer Dienst' im Sinne des § 47 Abs 1 NÖ SHG betrieben worden sei.

Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich geht daher davon aus, dass die Voraussetzungen vorliegen, die die behördliche Auflösung des Vereins 'Gelebte Menschlichkeit' rechtfertigen."

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde mehrerer ehemaliger Vereinsmitglieder. Die Beschwerdeführer behaupten, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Vereinsfreiheit verletzt worden zu sein, und beantragen die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Nach rechtskräftiger Auflösung eines Vereins sind die ehemaligen Vereinsmitglieder als Träger der Vereinsfreiheit berechtigt, eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Vereinsfreiheit geltend zu machen (vgl. die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, zB VfSlg. 8090/1977, 9567/1982, 12.127/1989, 16.078/2001).

Die Beschwerdeführer waren im Zeitpunkt der Auflösung des Vereins dessen Mitglieder (Obfrau, Obfrau-Stellvertreterin, Kassiererin, Kassier-Stellvertreterin, Schriftführer und Schriftführer-Stellvertreterin). Ihre Legitimation zur Beschwerdeführung war somit gegeben.

Die Beschwerde ist daher zulässig.

2. Der angefochtene Bescheid stützt sich auf § 29 Abs 1 VerG.

Diese Bestimmung lautet wie folgt:

"§29. (1) Jeder Verein kann unbeschadet des Falls nach § 2 Abs 3 bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 11 Abs 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, mit Bescheid aufgelöst werden, wenn er gegen Strafgesetze verstößt, seinen statutenmäßigen Wirkungskreis überschreitet oder überhaupt den Bedingungen seines rechtlichen Bestands nicht mehr entspricht."

Diese Bestimmung ist angesichts des materiellen Gesetzesvorbehaltes in Art 11 Abs 2 EMRK im Einklang mit dieser Verfassungsbestimmung auszulegen. Die Behörde ist nach dieser Bestimmung daher nur dann zur Auflösung eines Vereins befugt, wenn hierfür ein schwerwiegender Grund iSd Art 11 Abs 2 EMRK vorliegt (VfSlg. 8090/1977).

3.1. Im angefochtenen Bescheid gibt die belangte Behörde vorerst die im Auflösungsbescheid der Bezirkshauptmannschaft Tulln wiedergegebene Begründung wieder. Tragend für die Entscheidung der Verhängung der Verwaltungsstrafe wegen Verstoßes gegen das Niederösterreichische Sozialhilfegesetz 2000 (NÖ SHG), die im Übrigen vom Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom , 2008/10/0087, bestätigt wurde, sei gewesen, dass der außenvertretungsbefugte vormalige Obmann des Vereins bestraft wurde, weil der Verein bewilligungslos - zumindest an bestimmten Tagen - ein Pflegeheim iSd § 48 NÖ SHG betrieben habe. Zudem hätten sich - so die Begründung im angefochtenen Bescheid - die Hinweise gehäuft, dass der Verein selbst während und nach Abschluss des Verwaltungsstrafverfahrens das bewilligungslos betriebene Pflegeheim unverändert fortgeführt habe und die Vereinskonstruktion offensichtlich primär zu dem Zweck gewählt wurde, den Pflegeheimbetrieb zu verschleiern und die erforderliche Bewilligung nach dem NÖ SHG zu umgehen.

3.2. § 2 der Statuten des Vereins "Gelebte Menschlichkeit" umschreibt die wesentliche Zielsetzung des Vereins wörtlich wie folgt:

"Das Wirken des Vereins, dessen Tätigkeit nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, erstreckt sich auf das gesamte österreichische Gebiet und hat den Zweck seinen Mitgliedern im Rahmen von Wohngemeinschaften ein selbstbestimmtes und bedürfnisorientiertes Leben, auf Basis der Menschlichkeit, und unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechte der Menschen zu ermöglichen. Weiters umfasst die Vereinstätigkeit auch die Förderung von Ideen, die dem Vereinszweck dienlich sind."

4. Die Beschwerdeführer begründen ihre Behauptung, dass die Vereinsauflösung verfassungswidrig erfolgt sei, im Wesentlichen damit, dass das den verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilungen zugrunde liegende Verhalten des vormaligen Obmannes des aufgelösten Vereins keinesfalls eine Handlung der nunmehrigen Beschwerdeführer darstelle, die einen derartigen Eingriff in das Grundrecht der Vereinsfreiheit rechtfertigen würde:

"Die von den Unterinstanzen herangezogenen Bescheide sagen nichts anderes aus, als dass unter dem vormaligen Obmann K U an fünf(!) Werktagen im Jahr 2007 der Beschwerdeführer ein Pflegeheim betrieb.

Es finden sich in den angefochtenen Bescheiden keine wie immer lautenden anderen, genaueren und präziseren Feststellungen zum Vorwurf der Behörden, dass im Rahmen des Vereins 'Gelebte Menschlichkeit' ein Pflegeheim im Sinne des § 50 NÖ SHG 2000 betrieben werde.

Die Unterinstanzen stellen hier auf zwei Verwaltungsstrafverfahren ab, die sich lediglich auf fünf Tage des bereits mehrjährigen Bestehens des gegenständlichen Vereines beziehen. Über dies wurde mit keinem Wort darauf eingegangen, das[s]

mittlerweile ein Wechsel in der Führung ... stattfand, und nicht mehr

K U, sondern H P Obfrau des gegenständlichen Vereins ist. Allein schon deshalb kann eine allfällige verwaltungsstrafrechtliche Verurteilung des vormaligen Obmannes im konkreten Fall, da diese[r] nicht mehr für den Verein tätig ist, [nicht] ausschlaggebend sein."

Eine Interessenabwägung hätte laut den Beschwerdeführern nicht zur Vereinsauflösung führen dürfen und sei somit gesetzwidrig erfolgt.

5.1. Damit sind die Beschwerdeführer nicht im Recht:

Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde aufgrund der rechtskräftigen verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilungen des seinerzeitigen Obmannes annehmen konnte, dass der Verein nachweislich - zumindest an den angeführten Tagen - bewilligungslos ein Pflegeheim betrieben habe und dieses Verhalten des gemäß § 9 Abs 1 Verwaltungsstrafgesetz 1991, BGBl. 52 idgF, außenvertretungsbefugten Obmannes - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden - auch dem Verein zuzurechnen war (vgl. idS zB VfSlg. 3957/1961).

Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid die ihrer Entscheidung zugrunde liegende Einschätzung wörtlich wie folgt begründet:

"Der Obmann des Vereins 'Gelebte Menschlichkeit' als außenvertretungsbefugtes Organ hat in Ausübung seiner Funktion im Verein ein strafgesetzwidriges Verhalten gesetzt. Aufgrund dieses strafrechtswidrigen Verhaltens, das eindeutig ein dem Verein zu[zu]rechenbares Fehlverhalten ist, wurde der Organwalter rechtskräftig bestraft. Sein Verhalten muss als symptomatisch für die Tätigkeit des Vereins insgesamt gewertet werden und seine Tätigkeit war eindeutig als Vereinstätigkeit erkennbar.

In diesem Zusammenhang wird abermals auf das Erkenntnis des Zl. 2008/10/0087 hingewiesen, in welchem dieser feststellte, dass die belangte Behörde auf dem Boden ihrer Sachverhaltsannahmen zu Recht zur Auffassung gelangt ist, dass vom Verein ein 'stationärer Dienst' im Sinne des § 47 Abs 1 NÖ SHG betrieben worden sei."

Allein der auf Grund der Verhängung von Strafen wegen Verwaltungsübertretungen durchgeführte Wechsel des Obmannes des Vereins vermag nichts an der Einschätzung zu ändern, dass die Tätigkeit dem Verein zuzurechnen ist, selbst wenn nur der seinerzeitige Obmann dafür bestraft wurde.

Der Verfassungsgerichtshof hat stets die Auffassung vertreten, dass Vereinstätigkeiten, für welche die Rechtsform des Vereins vorgeschoben wurde und welche in Wahrheit nur den formalen Deckmantel für eine wirtschaftliche Betätigung darstellen, nicht durch das Vereinsgesetz gedeckt sind (vgl. VfSlg. 3731/1960 und 4411/1963 sowie insb. VfSlg. 9566/1982).

Die Verwirklichung des Vereinszweckes erfolgt(e) hier nachweislich mit Mitteln, die zur Verletzung anderer strafbewehrter Verwaltungsvorschriften führen bzw. geführt haben, weshalb der Verein die damit verbundenen vereinsrechtlichen Rechtsfolgen zu tragen hat.

5.2. Vor diesem Hintergrund konnte die belangte Behörde davon ausgehen, dass die vom Verein entfaltete und nach wie vor aufrecht erhaltene Tätigkeit an sich der Bewilligungspflicht nach § 50 NÖ SHG unterliegt. Dass der Verein auch in Zukunft seinen Vereinszweck in gleicher - schon verwaltungsstrafrechtlich sanktionierter - Weise zu erfüllen gedenkt, lässt sich sogar aus der - die Gegensätze selbst widerspiegelnden - Stellungnahme an die belangte Behörde, wiedergegeben im Beschwerdevorbringen, entnehmen, in der wörtlich Folgendes ausgeführt wird:

"Der Verein würde (...) kein Pflegeheim betreiben, sondern lediglich Räumlichkeiten an Vereinsmitglieder vermieten, wobei es sich hauptsächlich um ältere Menschen handle, die dort Wohnung bezogen haben und mitunter durch Verwandte betreut würden. Der Vereinszweck bestehe in der Unterstützung seiner Mitglieder und im Bestreben, diese Unterstützung den eigenen Mitgliedern bzw. allenfalls auch verwandten Personen der Mitglieder zukommen zu lassen. Daher sei der Verein gezwungen, ein Mindestmaß an Organisation aufzuwenden, um die Verwaltung der Liegenschaften, das reibungslose Zusammenleben der dort wohnungnehmenden Menschen zu ermöglichen. Dabei sei es Sinn und Zweck des Vereines, dass die Vereinsmitglieder sich untereinander helfen, entsprechende Kontakte pflegen und im Bedarfsfall für den Fall der Abwesenheit verwandter Personen wechselseitige Unterstützung genießen.

Der Verein organisiere in keiner Weise oder Betreuung alter Menschen.

Wohnungsnehmende in den Räumlichkeiten würden sich selbst versorgen oder Hilfestellungen anderer Vereinsmitglieder oder von Angehörigen genießen; der Verein würde selbst keine derartige Pflege zur Verfügung stellen.

Zu diesem Beweisthema machte der aufgelöste Verein eine Vielzahl von Zeugen namhaft. Die Feststellungen in den angesprochenen Straferkenntnissen über angebliche Verwaltungsübertretungen aus dem Jahr 2007 seien in keiner Weise geeignet auf Sachverhaltsebene der nunmehrigen Vereinstätigkeit zugrunde gelegt zu werden."

Da die belangte Behörde von der Fortsetzung des Verhaltens und so vom weiteren Verstoß gegen Strafgesetze ausgehen durfte, konnte sie im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung im Sinne des Art 11 Abs 2 EMRK gemäß § 29 Abs 1 VerG den Verein behördlich auflösen.

Die Vereinsauflösung war somit zulässig.

Die Beschwerdeführer sind nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Vereinsfreiheit verletzt worden.

6. Die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes kommt angesichts der festgestellten Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides nicht in Betracht (vgl. zB VfSlg. 8567/1979, 9567/1982).

7. Der Verfassungsgerichtshof hat unter dem Gesichtspunkt des vorliegenden Beschwerdefalles gegen die bei Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendeten Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. auch hiezu VfSlg. 9567/1982). Die Beschwerdeführer sind mithin auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

8. Dem Antrag, die Beschwerde gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten, war keine Folge zu geben:

Bei behaupteter Verletzung des Vereinsrechts umfasst die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes sowohl die materiellen als auch die formalen verfahrensrechtlichen Fragen. Jeder Verwaltungsbescheid, der die Behinderung des Rechtes auf freie Bildung oder Umbildung von Vereinen bewirkt und den in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen nicht entspricht, ist nicht nur gesetzwidrig, sondern verletzt auch das durch Art 12 StGG gewährleistete Recht. Es tritt in jedem solchen Fall die im Art 144 Abs 1 B-VG festgelegte Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes ein, die nach Art 133 Z 1 B-VG die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausschließt (vgl. zB VfSlg. 9879/1983, 11.735/1988, 17.126/2004).

9. Dem Antrag der belangten Behörde auf Zuerkennung von Kosten als Ersatz des Vorlageaufwandes war schon deshalb nicht zu entsprechen, weil dies im VfGG nicht vorgesehen ist und eine sinngemäße Anwendung des § 48 Abs 2 VwGG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht in Betracht kommt (VfSlg. 18.277/2007; ua).

10. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.