OGH vom 01.10.2015, 10ObS62/15p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 129/14p 25, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 28 Cgs 31/14z 19, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR (davon 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der 1967 geborenen Klägerin vom auf Weitergewährung der mit befristeten Berufsunfähigkeitspension ab, weil dauerhafte Berufsunfähigkeit nicht vorliege, und sprach aus, dass ab weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege, daher als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit eine Rehabilitation für den Stütz- und Bewegungsapparat zweckmäßig sei. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Ab dem bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.
Die Klägerin begehrt mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension, weil sie dauerhaft invalid sei. Selbst wenn man dies verneine, hätte ihr eine befristete Berufsunfähigkeitspension gewährt werden müssen, da der Stichtag für die anzuwendende Rechtslage der (= Tag der erstmaligen Antragstellung der Klägerin auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension) sei. Die Regelungen über das Rehabilitationsgeld seien jedoch erst mit in Kraft getreten.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Eine Berufsunfähigkeitspension stehe ab nur bei dauerhafter Berufsunfähigkeit zu. Für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit der Klägerin ab bestehe Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.
Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung einer Berufsunfähigkeitspension über den hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es sprach weiters aus, dass ab für die Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit ein Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe.
Es stellte das medizinische Leistungskalkül der Klägerin im Einzelnen fest sowie die Tätigkeiten, die sie dessen ungeachtet noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten in der Lage ist. Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass eine Berufsunfähigkeitspension seit nur mehr bei voraussichtlich dauerhafter Berufsunfähigkeit zustehe. Aus dem Wortlaut des § 669 Abs 5 und 6 ASVG sowie aus den Gesetzesmaterialien sei klar erkennbar, dass der Gesetzgeber im Zuge des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2012 (SRÄG) bei Personen, die nach dem geboren wurden, nur das Weiterbeziehen der befristeten Pension bis zum Auslaufen der aktuellen Befristung vorgesehen habe. Eine Weitergewährung einer befristeten Pension darüber hinaus sollte diesem Personenkreis nicht ermöglicht werden. Die Klägerin genieße keinen Berufsschutz. Die Verweisbarkeit sei nach § 273 Abs 2 ASVG zu prüfen. Da der Klägerin noch verschiedene Tätigkeiten möglich seien, habe sie keinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension. Die im Bescheid zugesprochene Leistung von Rehabilitationsgeld stehe ihr jedoch aufgrund des Verschlechterungsverbots nach § 71 Abs 2 ASGG zu und sei in den Spruch aufzunehmen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und bestätigte das erstinstanzliche Urteil mit der Maßgabe, dass es zusätzlich aussprach, dass ab weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege. Die rechtzeitige Klage setze den bekämpften Bescheid des Versicherungsträgers über den Bestand eines Anspruchs auf Versicherungsleistungen im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft (§ 71 Abs 1 ASGG). Richte sich die Klage inhaltlich (und nicht ziffernmäßig) auf den gesamten im Bescheid abgelehnten Leistungsanspruch, trete dieser zur Gänze, also auch in seinem stattgebenden Teil, außer Kraft. In diesem Zusammenhang brauche nicht abschließend darauf eingegangen zu werden, ob eine unmittelbare oder analoge Anwendbarkeit des § 71 Abs 2 ASGG gegeben sei. Bereits bei dem Ausspruch über den Anspruch auf Rehabilitationsgeld dem Grunde nach handle es sich um eine „Leistung“ im Sinn des § 71 Abs 2 ASGG, wobei das sich aus dem Verbot der reformatio in peius ergebende fingierte Anerkenntnis des Pensionsversicherungsträgers den Krankenversicherungsträger binde.
Das Erstgericht habe daher zutreffend den durch die Klageerhebung außer Kraft getretenen Bescheidteil, in dem über den Anspruch auf Rehabilitationsgeld dem Grunde nach erkannt worden sei, im Urteil wiederholt. Das angefochtene Urteil sei allerdings mit der Maßgabe zu bestätigen gewesen, dass es dahingehend präzisiert werde, ab welchem Zeitpunkt vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zu einem vergleichbaren Fall noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass festgestellt werde, dass bei der Klägerin keine über sechs Monate andauernde Berufsunfähigkeit vorliege, ab kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe und Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulässigkeitsausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) im Hinblick auf die mittlerweile zu der Frage der Geltung des Verschlechterungsverbots gemäß § 71 Abs 2 ASGG in vergleichbaren Fällen bereits vorliegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht zulässig (vgl RIS Justiz RS0112769).
Der Oberste Gerichtshof hat in der nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen und einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Entscheidung 10 ObS 50/15y vom den Revisionsausführungen der beklagten Partei Folgendes entgegengehalten:
1. Dass der Bescheid der beklagten Partei durch die Klagserhebung im gesamten Umfang außer Kraft getreten ist, ist im Revisionsverfahren nicht strittig.
2. Die Revisionswerberin vertritt unter sehr ausführlichem Bezug auf die vom Gesetzgeber mit der Schaffung des Rehabilitationsgelds durch das SRÄG 2012 verfolgten Zwecke die Ansicht, die Anerkenntnisfiktion des § 71 Abs 2 ASGG unterliege Beschränkungen. Um ein Ergebnis zu vermeiden, das die Reformbestrebungen des Gesetzgebers des SRÄG 2012 ad absurdum führe, müsse die Bestimmung so ausgelegt werden, dass das vom Versicherungsträger zuerkannte Rehabilitationsgeld im gerichtlichen Verfahren nicht zuzusprechen sei, wenn sich in diesem herausgestellt habe, dass der Kläger nicht invalid ist. Sonst könnte das Rehabilitationsgeld zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Dauerleistung werden. Rehabilitationsgeld sei keine „abstrakte“ Leistung, es könne nicht ohne die ihm als „ratio essendi“ zugrundeliegende Rehabilitation existieren. § 71 Abs 2 ASGG schütze im Ergebnis das Vertrauen des Versicherten, die Leistung (vorerst) weiter zu erhalten, die an einen durch medizinische Rehabilitationsleistungen grundsätzlich besserbaren Zustand geknüpft sei. Stelle sich heraus, dass eine solche Maßnahme gar nicht erforderlich sei, könne der Schutz nicht weitreichender gestaltet sein, als er in einer vergleichbaren Situation sein könnte, in der nach den §§ 143a und 143b ASVG Kontrollen durchgeführt werden. Der Leistungsbezieher müsse aufgrund der Gesetzeslage damit rechnen, dass spätestens nach Ablauf eines Jahres nach der Zuerkennung oder der letzten Begutachtung eine Überprüfung stattfinde.
3. Die von der Revisionswerberin geforderte teleologische Reduktion des in § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG normierten Anerkenntnisses setzt den Nachweis voraus, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes gar nicht getroffen wird und dass sie sich von „eigentlich gemeinten“ Fallgruppen soweit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre. Es ist nicht zulässig, durch teleologische Reduktion eine gesetzliche Vorschrift zur Gänze ihres Inhalts zu entkleiden (RIS-Justiz RS0008979; F. Bydlinski in Rummel ³ § 7 Rz 7).
4.1. Dieser Nachweis gelingt der Revision nicht.
4.2. Nach § 71 Abs 2 erster Halbsatz ASGG idF BGBl 1994/624 ist nach der Einbringung der Klage unter anderem nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen. Als unwiderruflich anerkannt sind auch das Vorliegen eines Arbeits (Dienst )unfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.
4.3. Mit dieser durch die ASGG-Novelle 1994, BGBl 1994/624, eingefügten Vorschrift des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers verhindert werden, dass ein gerichtliches Urteil für den Kläger weniger günstig ausfällt, als der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid (Verschlechterungsverbot). Der Versicherte darf darauf vertrauen, jedenfalls die im Bescheid zuerkannte Leistung ohne Rücksicht auf den Ausgang des Prozesses zu erhalten. Er soll die Möglichkeit haben, im Instanzenzug seinen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, ohne dadurch das Risiko einzugehen, im Fall seines Unterliegens nicht einmal das zu erhalten, was ihm mit dem außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannt worden ist. Das Gericht hat dem Kläger daher „zumindest“ die im Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen (10 ObS 235/98a, SSV-NF 12/93; RIS-Justiz RS0089217; ErläutRV 1654 BlgNR 18. GP 25; Fink , ASGG 493 ff). Vergleichbares gilt bezüglich der Feststellung eines Unfallversicherungsträgers, wonach ein Arbeits-(Dienst )unfall oder eine Berufskrankheit vorliegt. Dem Versicherungsträger ist insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit die rechtswirksame Bestreitung des von ihm im Bescheid zuerkannten Anspruchs im Prozess verwehrt ( Kuderna , ASGG² 461 f).
4.4. Diese Zweckrichtung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG trifft auch zu, wenn dem Versicherten im Bescheid des Versicherungsträgers Rehabilitationsgeld zuerkannt wurde. Geschützt wird der Versicherte vor einer Schlechterstellung gegenüber dem bekämpften Bescheid aufgrund der Ergebnisse des Prozesses.
4.5. Im Hinblick auf diese Änderung des § 71 Abs 2 ASGG hat der Gesetzgeber mit derselben Novelle in § 71 Abs 3 ASGG die Nichtgeltung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG präzisiert. Demnach ist letztere Norm „insoweit“ nicht anwendbar, wenn der Versicherungsträger wegen einer Änderung der Verhältnisse während des Verfahrens einen neuen Bescheid erlässt. Nur Sachverhaltsänderungen, die nach Erlassung des mit der ersten Klage bekämpften Bescheids während des darüber anhängigen gerichtlichen Verfahrens eingetreten sind und die leistungsaufhebend oder leistungsvermindernd wirken, berechtigen den Versicherungsträger, in diesem Stadium wegen Änderung der Verhältnisse einen neuen Bescheid zu erlassen ( Kuderna , ASGG² 464 f).
4.6. Der Gesetzgeber schließt es demnach aus, das Nichtvorliegen von Voraussetzungen einer im Bescheid zuerkannten Leistung im Gewährungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren, dem dieser Bescheid zugrunde liegt, wahrzunehmen.
4.7. Warum der Fall der Klägerin anders behandelt werden muss als jener eines Versicherten, dem der Versicherungsträger eine Dauerversehrtenrente mit Bescheid zuerkannte, welcher mit der Behauptung, es läge eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit als im Bescheid angenommen vor, bekämpft wird und indem sich im Prozess herausstellt, dass schon die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Gewährungszeitpunkt nicht ein rentenbegründendes Ausmaß erreicht hatte oder ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit nicht vorliegen (vgl RIS-Justiz RS0110572), ist nicht überzeugend begründbar. Eine sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. Auch Rehabilitationsgeld kann nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung eingetreten ist (vgl RIS-Justiz RS0083941, RS0106704). Daher kann es auch beim Rehabilitationsgeld, wenn der Zuerkennungsbescheid unbekämpft bleibt, zu nicht entziehbaren „Dauerleistungen“ kommen, wenn zum Gewährungszeitpunkt die Leistungsvoraussetzungen zur Gänze nicht vorlagen.
4.8. Da der Gesetzeswortlaut und die klare gesetzgeberische Absicht gegen eine teleologische Reduktion, wie sie die beklagte Partei vor allem aus rechtspolitsichen Erwägungen anstrebt, sprechen, kommt sie nicht in Betracht (vgl P. Bydlinski in KBB 4 § 7 ABGB Rz 5 mwN).
5. Der Ansicht der Revisionswerberin, auch wenn man die Anwendbarkeit des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG im vorliegenden Fall bejahe, hätte im Spruch nicht die vom Akteninhalt nicht gedeckte Feststellung getroffen werden dürfen, dass bei der Klägerin ab dem weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegt, ist nicht zu folgen. Auch dieser Teil des Spruchs wird von der Anerkenntnisfiktion erfasst. So muss auch das als unwiderruflich anerkannt anzusehende Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit (§ 71 Abs 2 Satz 2 ASGG) in das Urteil aufgenommen werden, selbst wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit nicht vorliegen.
6. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht mit diesen vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 50/15y vom vertretenen Grundsätzen im Einklang. Die Revisionsausführungen der beklagten Partei bieten keinen Anlass für ein Abgehen von dieser Rechtsprechung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Konnte der Revisionsgegner bei Erstattung der Rechtsmittelbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht erkennen, weil zu diesem Zeitpunkt jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch nicht ergangen war, welche die auch im Anlassfall entscheidungswesentliche erhebliche Rechtsfrage beantwortete, so stehen ihm in analoger Anwendung des § 50 Abs 2 ZPO die Kosten der Revisionsbeantwortung auch dann zu, wenn er auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hinweisen konnte (vgl RIS Justiz RS0123861).
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00062.15P.1001.000