OGH vom 04.05.2005, 13Os46/05x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz und Hon. Prof. Dr. Schroll als weitere Richter, in Gegenwart des Richters Mag. Hengl als Schriftführer, in der Strafsache gegen Dschamschid S***** wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB, AZ 224 Ur 66/05g des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom , AZ 22 Bs 80/05h (ON 23), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Dschamschid S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Dem Bund wird der Ersatz der mit 700 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer bestimmten Beschwerdekosten auferlegt.
Text
Gründe:
Am wurde über Dschamschid S***** die Untersuchungshaft verhängt.
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien seiner Beschwerde gegen die aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 StPO fortgesetzte Untersuchungshaft „mit der Maßgabe nicht Folge, dass dem Landesgericht für Strafsachen Wien eine Beschlussfassung nach § 190 Abs 1 StPO aufgetragen wird" und teilte mit, dass die Haftfrist am ende.
Rechtliche Beurteilung
Auch wenn die Fortsetzung der Untersuchungshaft solcherart nicht ausdrücklich angeordnet wurde, ist die Entscheidung als Fortsetzungsbeschluss iS des § 182 Abs 4 zweiter Satz StPO aufzufassen (14 Os 161/96 = EvBl 1997/89).
Danach richtet sich gegen Dschamschid S***** der dringende Verdacht, am in Wien mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz ein Parfumfläschchen der Marke „Naomi Campbell" im Wert von 12,90 Euro Gewahrsamsträgern „der Fa Bipa" weggenommen und, auf frischer Tat betreten, Roland Josef H***** Stöße und Schläge versetzt zu haben, um sich die weggenommene Sache zu erhalten. Die Grundrechtsbeschwerde macht eine Missachtung der zwingenden Anordnung des § 180 Abs 3 erster Satz StPO geltend und ist damit im Recht.
Nach dieser Vorschrift ist Fluchtgefahr jedenfalls nicht anzunehmen, wenn der Beschuldigte (§ 38 Abs 3 StPO), wie hier in Betreff des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB, einer Straftat verdächtig ist, die nicht strenger als mit fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, er sich in geordneten Lebensverhältnissen befindet und einen festen Wohnsitz im Inland hat, es sei denn, dass er bereits Anstalten zur Flucht getroffen hat. Die auf bestimmte Tatsachen gegründete Erwartung, der Beschuldigte (§ 38 Abs 3 StPO) werde auf freiem Fuße wegen der Größe der ihm mutmaßlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten (Fluchtgefahr), ist demnach nur rechtsfehlerfrei, wenn dabei sämtliche der im § 180 Abs 3 erster Satz StPO genannten Tatumstände in Rechnung gestellt werden. Andernfalls ist das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt (§ 2 Abs 1 GRBG).
Das Oberlandesgericht hat bei seiner pauschalen Behauptung, der Haftgrund der Fluchtgefahr sei „vom Erstgericht zutreffend angenommen" worden, „weil der Angeklagte als Asylant in Österreich sozial nicht integriert ist und seinen eigenen Angaben zufolge ‚flüchten wollte'", übersehen, dass seine Entscheidung diejenige des Erstgerichtes nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen hat (14 Os 47/02 [= SSt 64/18], 14 Os 128/03, 14 Os 138/03, 13 Os 89/04). Solcherart wurden die konkreten Lebensverhältnisse des Angeklagten und die Frage eines festen Wohnsitzes vollends übergangen und zudem verkannt, dass der Angeklagte seine angeblich geäußerte Fluchtabsicht auf die Anhaltung durch den Kaufhausdetektiv (§ 86 Abs 2 StPO) bezogen und damit noch keine Anstalten zur Flucht (= sich dem Strafverfahren zu entziehen) getroffen hat.
Im Übrigen geht aus einer Bestätigung der Caritas-Ausländerhilfe hervor, dass Dschamschid S***** bereits seit ordnungsgemäß gemeldet im selben Flüchtlingshaus wohnt und seine drei Kinder die Schule besuchen, sodass von Fluchtgefahr wohl nicht die Rede sein kann.
Bleibt anzumerken, dass entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichtes die Einbringung der Anklageschrift den dringenden Tatverdacht nicht begründet. Selbst die über einen Einspruch ergangene Entscheidung, es werde der Anklage Folge gegeben, setzt keinen dringenden, vielmehr nur unqualifizierten Tatverdacht voraus (vgl § 213 Abs 1 Z 2 StPO). Von seiner ihm durch § 7 Abs 1 GRBG eingeräumten Befugnis, trotz festgestellter Grundrechtsverletzung von der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung abzusehen (vgl zuletzt 15 Os 36/05s), macht der Oberste Gerichtshof vorliegend schon deshalb nicht Gebrauch, weil ungeachtet der Frage, ob auch hinsichtlich der Absicht (§ 5 Abs 3 StGB), sich die weggenommene Parfumflasche zu erhalten (§ 131 erster Fall StGB), die Dringlichkeit des Tatverdachts zu bejahen ist (vgl dazu S 38 und 41), bei dem bislang strafrechtlich nicht einschlägig in Erscheinung getretenen Angeklagten die Fortsetzung der bereits erheblich mehr als zwei Monate andauernden Untersuchungshaft zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis stünde (§ 180 Abs 1 zweiter Satz StPO).
Schließlich sieht sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, auf eine Missachtung des Beschleunigungsgebotes des § 193 Abs 1 StPO hinzuweisen. Nach fast zweimonatiger Untersuchungshaft wurde am die Hauptverhandlung zur Vorführung eines in der Nähe von Wien wohnhaften Zeugen (übrigens ohne Ladungsnachweis; vgl aber § 242 Abs 1 StPO) auf einen fast zwei Monate in der Zukunft liegenden Termin vertagt, was den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes zuwiderläuft (vgl Art 5 Abs 3 zweiter Satz MRK).